Die kollidierenden Spiralgalaxien NGC 2207 und IC 2163. Aufnahme des Hubble-Weltraumteleskops. Bild: NASA/ESA and The Hubble Heritage Team (STScI)

Die Theorie der Galaxienentwicklung besagt, dass große Galaxien aus der Kollision und Verschmelzung kleinerer Galaxien hervorgehen. Wir können dies in fernen Galaxien beobachten, wo solche Kollisionen gerade stattfinden (Artikelbild). In einem früheren Artikel haben wir schon davon gehört, dass die Große Magellansche Wolke einst ihre kleinste Schwester verschlang.

Der Astrometriesatellit Gaia misst mit hoher Präzision die Position und Bewegung von Milliarden von Sternen innerhalb der Milchstraße und des sie umgebenden Halos. Die computergestützte Analyse der Bahnen zahlloser Sterne erlaubt es uns nun, die Kollisionsgeschichte unserer Milchstraße bis in ihre früheste Jugend zurück zu verfolgen und gewissermaßen “Astro-Archäologie” zu betreiben. Im folgenden Bild sieht man von einem Computerprogramm namens Streamfinder aufgespürte Sternströme in den Gaia DR-2-Daten, die von vergangenen Zwerggalaxien zeugen, welche relativ kürzlich von der Milchstraße vereinnahmt wurden:

Sternströme, die in den Gaia DR-2-Daten mit Computerhilfe ausfindig gemacht wurden und welche die Überreste von Zwerggalaxien sind, die von der Milchstraße irgendwann verschluckt wurden. Im oberen Bild sieht man die Entfernung der Sterne von der Sonne, farbcodiert von 5 (dunkelblau) bis 50 Tausend parsec (160.000 LJ) in der nördlichen Hemisphäre des Himmels (galaktische Koordinaten, d.h. die Scheibenebene ist der Außenrand des Bilds, die Mitte ist der Blick senkrecht aus der Scheibe heraus; das Milchstraßenzentrum ist rechts am Rand bei 0°). Ein paar zusammenhängende Sternströme treten klar hervor. Die finden sich auch im unteren Bild, wo die Tangentialgeschwindigkeit (die Geschwindigkeit in der Himmelsebene, senkrecht zur Blickrichtung) in km/s farblich kodiert ist von 0 (dunkelblau) bis 500 (rot) reicht. Der lange Strom links im Bild ist weniger als 10 kpc entfernt und fast 500 km/s schnell, die Ströme im rechten oberen Quadranten liegen bei 15 kpc und 100-200 km/s.

Sternströme, die in den Gaia DR-2-Daten mit Computerhilfe ausfindig gemacht wurden und welche die Überreste von Zwerggalaxien sind, die von der Milchstraße irgendwann verschluckt wurden. Im oberen Bild sieht man die Entfernung der Sterne von der Sonne, farbcodiert von 5.000 (dunkelblau) bis 50.000 Parsec (160.000 LJ) in der nördlichen Hemisphäre des Himmels (galaktische Koordinaten, d.h. die Scheibenebene ist der Außenrand des Bildes, die Mitte ist der Blick senkrecht aus der Scheibe heraus; das Milchstraßenzentrum ist rechts am Rand bei 0°). Ein paar zusammenhängende Sternströme treten klar hervor. Die finden sich auch im unteren Bild, wo die Tangentialgeschwindigkeit (die Geschwindigkeit in der Himmelsebene, senkrecht zur Blickrichtung) in km/s farblich kodiert ist und von 0 (dunkelblau) bis 500 (rot) reicht. Der lange Strom links im Bild ist etwa 10 kpc entfernt, weit oberhalb der Milchstraßenebene in deren Halo und fast 500 km/s schnell; die Ströme im rechten oberen Quadranten liegen bei 15-20 kpc, sind 100-200 km/s schnell und reichen von beinahe senkrecht über der Milchstraßenebene bis in die Scheibe hinein, Richtung Zentrum. Bild: [1].

Im heutigen und im nachfolgenden Artikel möchte ich über zwei besonders große Kollisionsereignisse berichten, welche die Form der Milchstraße maßgeblich prägten.

Man weiß aus dem Alter der ältesten Roten und Weißen Zwerge, dass die Milchstraßenscheibe ungefähr zwischen 11 und 8 Milliarden Jahre vor unserer Zeit entstanden sein muss. Der Halo aus Sternen und Dunkler Materie, der die Milchstraße umgibt, muss noch älter sein, das Alter der Kugelsternhaufen liegt zwischen 11 und 13 Milliarden Jahren, nur wenig jünger als das Weltalter von knapp 14 Milliarden Jahren überhaupt. Wann der Halo genau entstand und wie lange die Entstehung der Scheibe dauerte, ist jedoch nur sehr vage bekannt.

Ein Team um Vasily Belokurov von der Universität Cambridge, UK wollte mit Hilfe der Gaia DR2-Daten und Spektren des Sloan Digital Sky Survey (SDSS) untersuchen, ob man aus der Bewegung der Sterne (Gaia) verschiedenen Alters (abgeleitet aus den SDSS-Spektren) die Entstehungsgeschichte der Milchstraße rekonstruieren und datieren könnte – und kamen dabei einer frühen, massiven Kollision der Milchstraße mit einer anderen Galaxie auf die Spur [2].

 

Ausgrabungen im DR2-Katalog

Betrachtet man die Bahnen von Sternen in Sonnennähe, dann haben diejenigen von Sternen des Halos (die auch die Scheibe durchstoßen und somit in Sonnennähe gelangen) einen hohen radialen Bewegungsanteil, d.h. die Sterne befinden sich auf elliptischen Bahnen, die von weit draußen im Halo in Richtung des Milchstraßenzentrums verlaufen, wohingegen die Sterne der Scheibe auf Kreisbahnen mit konstantem Abstand zum Zentrum kreisen.

Die Autoren untersuchten eine Auswahl von knapp 200.000 alten Hauptreihensternen und bestimmten ihre Geschwindigkeiten in Betrag und Richtung, zusätzlich ihren Metallgehalt aus ihrem Spektrum. Die ausgewählten Sterne (zwischen 4500K = Spektralklasse K3V und 8000K = Spektralklasse A8V) haben keine tiefe Konvektion, d.h. die Metalle, die sie selbst im Kern erbrüten, kommen nicht an die Oberfläche; die Oberfläche zeigt vielmehr den Metallgehalt des Gases, aus dem sie ursprünglich entstanden sind. Der Metallgehalt eines Sterns gibt wiederum einen Anhaltspunkt für sein Alter, denn mit der Zeit wurde das Gas, aus dem neue Sterne entstehen, immer mehr durch die Überreste von Supernovae mit Metallen angereichert, so dass alte Sterne metallärmer sind als junge Sterne.

Zunächst zeigte sich bei niedrigen galaktischen Breiten (also innerhalb der Scheibe) und hohem Metallgehalt (also junge Sterne) eine zwiegespaltene Verteilung der Sterne in Bezug auf ihre Bewegung in der Milchstraße:

Verteilung der Geschwindigkeiten der Sterne in der galaktischen Scheibe. Die waagerechte Achse zeigt den Anteil der Bewegung in radialer Richtung zum Milchstraßenzentrum, also zum Zentrum hin oder vom Znetrum weg. Die senkrechte Achse gibt die zirkulare Geschwindigkeit. also die Bewegung im Kreis um das Zentrum herum an. Die Anzahl der Sterne ist durch die Farbe codiert, wenig Sterne in jedem kleinen Quadrat sind rote Quadrate, viele Sterne sind blaue Quadrate. Erwartungsgemäß häufen sich die Scheibensterne bei einer Umlaufgeschwindigkeit von um die 200 km/s und einer radialen Geschwindigkeit von 0 - Kreisbahnen. Es fällt aber bei einer zirkularen Geschwindigkeit von 0 eine zweite Häufung auf, die wie eine "Wurst" quer im Diagramm liegt. Diese Sterne bewegen sich praktisch nur radial nach innen oder außen, kreisen aber kaum um das Milchstraßenzentrum, ihre Bahnen sind also schmale, langgestreckte Ellipsen. Dieses Muster ist nur in der Scheibe und bei metallreichen Sternen so zu sehen. Bild: [2]

Verteilung der Geschwindigkeiten der Sterne in der galaktischen Scheibe. Die waagerechte Achse zeigt den Anteil der Bewegung in radialer Richtung zum Milchstraßenzentrum, also zum Zentrum hin oder vom Zentrum weg. Die senkrechte Achse gibt die zirkulare Geschwindigkeit an, also die Bewegung im Kreis um das Zentrum herum an. Die Anzahl der Sterne pro Quadrat ist durch die Farbe codiert, wenig Sterne sind rote Quadrate, viele Sterne sind blaue Quadrate. Erwartungsgemäß häufen sich die Scheibensterne bei einer Umlaufgeschwindigkeit von um die 200 km/s und einer radialen Geschwindigkeit von 0 – Kreisbahnen. Es fällt aber bei einer zirkularen Geschwindigkeit von 0 eine zweite Häufung auf, die wie eine “Wurst” (engl. Sausage) quer im Diagramm liegt. Diese Sterne bewegen sich praktisch nur radial nach innen oder außen, kreisen aber kaum um das Milchstraßenzentrum, ihre Bahnen sind also schmale, langgestreckte Ellipsen. Dieses Muster ist nur in der Scheibe und bei metallreichen Sternen so zu sehen. Bild: V. Belokurov (Cambridge, UK) und Gaia/ESA.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass im obigen Bild keine räumlichen Verteilungen von Sternen dargestellt sind, sondern nur deren Geschwindigkeiten. Daher finden sich die Sterne der gesamten galaktischen Scheibe in dem blauen Klecks oberhalb der Mitte des Diagramms, sie bewegen sich mit rund 200 km/s (zirkulare Geschwindigkeit ≈ 200 km/s) um das Zentrum bei konstantem Abstand (radiale Geschwindigkeit ≈ 0). Sterne, die im Bild weiter außen liegen und sich somit schnell bewegen, werden eher nahe dem Zentrum der Milchstraße gelegen sein, während solche in der Mitte des Diagramms, die fast still stehen, sich eher weit weg vom Zentrum an den Umkehrpunkten ihrer Bahnen aufhalten dürften.

Neben der offensichtlichen Scheibenpopulation gibt es eine zweite Gruppe von Sternen, die wie ein Balken quer im Diagramm liegt: die zirkulare (Kreis-) Bewegung von ihnen ist nahe 0, die radiale hingegen reicht bis fast ±400 km/s. Diese Sterne bewegen sich auf schmalen Ellipsenbahnen bis weit hinaus in den Halo. Dieses Muster, von den Autoren (m.M.n. etwas unglücklich) als Gaia Wurst (Gaia sausage) bezeichnet, sieht man nur bei Sternen in der Nähe der Milchstraßenscheibe und bei hohem Metallgehalt. Etwas weiter weg von der Scheibe ist die Geschwindigkeitsverteilung ein waagerecht liegendes Oval, d.h. die Bahnen sind auch elliptisch, aber nicht derart schmal, und bei sehr alten, metallarmen Sternen ist die Verteilung fast kreisförmig, die Sterne bewegen sich auf Bahnen aller möglichen Exzentrizitäten – dies sind die ältesten Halosterne, die noch vor der galaktischen Scheibe entstanden. Das Heraustreten der Scheibenpopulation und die “Wurst” verschwinden bei Sternen mit weniger Metallanteil, die also älter sind. Beispielhaft im Bild unten die Verteilungen innerhalb der Scheibe für sehr alte (links) bis sehr junge (rechts) Sterne.

Geschwindigkeitsverteilungen der Sterne verschiedenen Alters in der Milchstraßenscheibe. Die im Bild zuvor dargestellte Geschwindigkeitsverteilung ist hier ganz rechts zu sehen. Geht man zu älteren Sternen nach links (Anteil Eisen [Fe] zu Wasserstoff [H] kleiner; die negative Zahl ist der Exponent, -2 bedeutet also 10-2= 1/100), dann verschwinden Scheibe und "Wurst" und man sieht die alten Halosterne, die sich auf Bahnen allen möglichen Bahnen bewegen kreisförmig, elliptisch, rechtläufig, gegenläufig, schnell und langsam, mit einer leichen Häufung bei kreisförmigen, rechtläufigen Bahnen um die 100 km/s. Bild: [2].

Geschwindigkeitsverteilungen der Sterne verschiedenen Metallgehalts in der Milchstraßenscheibe. Die im Bild zuvor dargestellte Geschwindigkeitsverteilung ist hier ganz rechts zu sehen. Geht man zu älteren Sternen nach links (Anteil Eisen [Fe] zu Wasserstoff [H] kleiner; die negative Zahl bei [FE/H] ist der Exponent der relativen Häufigkeit von Eisen zu Wasserstoff, -2 bedeutet also 10-2= 1/100 Eisenanteil), dann verschwinden Scheibe und “Wurst” und man sieht die alten Halosterne, die sich auf allen möglichen Bahnen bewegen: kreisförmig, elliptisch, rechtläufig, gegenläufig, schnell und langsam, mit einer leichten Häufung bei kreisförmigen, rechtläufigen Bahnen um die 100 km/s. Bild: [2].

Man sieht hier, wie die Scheibe nach dem Halo allmählich entstand; genau danach hatten die Autoren gesucht.  Aber woher stammt die Wurst?

 

Jetzt geht’s um die Wurst

Die Bilder oben geben eine anschauliche Übersicht über die Entwicklung der Bahnen, aber erst wenn man die Geschwindigkeiten mit statistischen Methoden auswertet, wird klar, was hier vorgefallen sein muss. Im nächsten Bild sieht man die Dispersion und Anisotropie der Geschwindigkeiten über dem Metallgehalt aufgetragen, und zwar nur für die Sterne im Halo. Die alten Sterne finden sich links, die jüngeren rechts. Die Dispersion gibt an, um wieviel die Geschwindigkeiten im Mittel streuen; je größer die Streuung, desto breiter ist die Geschwindigkeitsverteilung. Die durchgezogenen Linien geben die Streuung der radialen Geschwindigkeiten an (waagerechte Achse in den Bildern oben), die gepunkteten die Streuung der Rotationsgeschwindigkeiten in der Milchstraßenebene und die gestrichelten senkrecht dazu. Bei einem Metallanteil von 10-2,0, entsprechend einem Alter von ca. 8 bis 10 Milliarden Jahren vor unserer Zeit, tun alle drei Verteilungen einen Sprung: die radiale Streuung wächst, die Streuung in der Scheibenebene und senkrecht dazu schrumpft mit einem Satz. Vor allem die roten Linien, die Sterne nahe der Scheibe beschreiben, zeigen den Sprung besonders ausgeprägt. Die Bahnen der Halosterne wurden also abrupt elliptischer, denn elliptische Bahnen haben größere radiale Geschwindigkeiten bei nur kleinen zirkularen – es ergibt sich die oben schon gesehene “Wurst”.

Dispersion und Anisotropie der Geschwindigkeiten der Halosterne über dem Metallgehalt (Alter) der Sterne. Die x-Achsen entsprechen jeweils der Zeitachse. Rote Linien: weniger als 3 kpc von der Scheibe entfernte Sterne, grün: 3 bis 5 kpc und blau 5 bis 9 kpc von der Scheibe entfernte Sterne. Links: Die Dispersion gibt an, wie stark die Geschwindigkeiten streuen. Durchgezogene Linien: Streuung der radialen Geschwindigkeiten σr, gepunktet: Streuung der zirkularen Geschwindigkeit in der Milchstraßenebene σθ, gestrichelt: Streuung in Ebenen senkrecht zur Scheibe σθ. Rechts: Die Anisotropie β ist ein aus den Geschwindigkeitsdispersionen abgeleitetes Maß für die Streuung der Exzentrizität der Bahnen; je kleiner β, desto kreisförmiger sind die Bahnen. Bild: [2].

Dispersion und Anisotropie der Geschwindigkeiten der Halosterne über dem Metallgehalt (Alter) der Sterne. Rote Linien: weniger als 3 kpc von der Scheibe entfernte Sterne, grün: 3 bis 5 kpc und blau 5 bis 9 kpc von der Scheibe entfernte Sterne. Links: Die Dispersion gibt an, wie stark die Geschwindigkeiten in verschiedenen Richtungen streuen. Durchgezogene Linien: Streuung der radialen Geschwindigkeiten σr, gepunktet: Streuung der zirkularen Geschwindigkeit in der Milchstraßenebene σΘ, gestrichelt: Streuung in Ebenen senkrecht zur Scheibe σΦ. Rechts: Die Anisotropie β ist ein aus den Geschwindigkeitsdispersionen abgeleitetes Maß für die Exzentrizität der Bahnen; je größer β, desto elliptischer sind die Bahnen insgesamt. Bild: [2].

Im rechten Bild ist ein Parameter β namens “Anisotropie” der Bahnen dargestellt, der aus den Geschwindigkeitsdispersionen abgeleitet ist – wie genau1 muss uns hier nicht interessieren, nur dass mit β→1 die Bahnen immer langgezogener werden (bei β=-∞ wären sie perfekt kreisförmig). Auch hier zeigt sich bei Fe/H = 10-2,0 ein Sprung, die Bahnen werden abrupt exzentrischer. Das riecht nach einem massiven, kataklysmischen Ereignis zu just dieser Zeit. Was könnte die Bahnen des riesigen Milchstraßenhalos so massiv verändert haben? Nur eine Kollision von galaktischem Ausmaß!

 

Folgenschwerer Einschlag

Dass die Milchstraße mit anderen Galaxien, vornehmlich Zwerggalaxien, kollidiert ist, ist nicht neu, aber eine allmähliche Vereinnahmung von kleinen Galaxien kann den abrupten Sprung nicht erklären – da muss schon etwas größeres mit der Milchstraße kollidiert sein. Die Autoren führten Simulationen durch, um zu testen, ob der Einschlag einer großen Galaxie die stark elliptischen Bahnen jüngerer Halosterne erklären kann. In der Tat ergaben sich mit zunehmender simulierter Masse der einschlagenden Galaxie zunehmend extreme β-Werte. Bei weniger als 1 Milliarde Sonnenmassen (ca. 1 Promille der Milchstraßenmasse)  ergab sich β≈0,35, bei mehr als 10 Milliarden Sonnenmassen (1% Milchstraßenmasse) β≈0,8. Daher proklamieren die Autoren den Einschlag einer Galaxie in der Milchstraße von rund 50 Milliarden Sonnenmassen beginnend vor ca. 11 Milliarden Jahren [3], und sie bezeichnen sie als “Sausage Galaxy”, weil sie für die “Wurst” in der Geschwindigkeitsverteilung verantwortlich sein soll. In der Presse kam dies dann zum, Teil als “wurstförmige Galaxie” an, was natürlich Unsinn ist – es wird eine gewöhnliche Spiralgalaxie gewesen sein, man findet in der Rotation der Halosterne noch Reste ihrer Drehung von ca. 20-30 km/s.

In weiteren Arbeiten zeigte die Autorengruppe, dass dieses Modell auch einen Abfall der Dichte der Halosterne jenseits einer Entfernung von 20 kpc vom Milchstraßenzentrum erklären kann, dass 8-10 Kugelsternhaufen, die sich mit ähnlich “wurstförmiger” Geschwindigkeitsdispersion und signifikant schneller bewegen als die mutmaßlich mit der Milchstraße entstandenen Kugelsternhaufen und eine Gruppe von die Milchstraße in umgekehrtem Drehsinn umkreisende Sterne auf diese Kollision zurückgeführt werden können, was die Theorie untermauert.

Ist es nicht ungemein faszinierend, wie Gaia die Astronomie revolutioniert? Zusammen mit den Daten anderer Kataloge wie des SDSS lässt sich Astro-Archäologie der Milchstraße betreiben und die Ausgrabungen in den Daten lassen die Relikte längst vergangener Ereignisse erkennen. Gaia ist viel mehr als ein einfacher Astrometriesatellit zur Messung von Sternörtern – sie ist eine Big-Data-Maschine, in deren Archiv noch viele Schätze auf ihre Ausgrabung warten.

 

Referenzen

[1] Khyati Malhan, Rodrigo A. Ibata, Nicolas F. Martin, “Ghostly Tributaries to the Milky Way: Charting the Halo’s Stellar Streams with the Gaia DR2 catalogue“, Monthly Notices of Royal Astronomical Society, 12. September 2018; arXiv:1804.11339.

[2] V. Belokurov, D. Erkal, N.W. Evans, S.E. Koposov, A.J. Deason, “Co-formation of the Galactic disc and the stellar halo“, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Volume 478, Issue 1, p.611-619, Juli 2018; arXiv: 1802.03414.

[3] G.C. Myeong, N.W. Evans, V. Belokurov, J.L. Sanders, S.E. Koposov, “The Sausage Globular Clusters“,
The Astrophysical Journal Letters, Volume 863, Issue 2, August 2018, arXiv:1805.00453.

[4] “The Gaia Sausage: The Major Collision That Changed the Milky Way Galaxy“, Center for Computational Astrophysics, Flatiron Institute, Simons Foundation, 4. Juli 2018.

 

 
1 β ist folgendermaßen über die Streuungen der Geschwindigkeiten in der galaktischen Breite (Ebene der Milchstraßenscheibe) σΘ, in der galaktischen Länge σΦ und in der radialen (in Bezug auf das Milchtraßenzentrum) Richtung σr definiert:

\beta = 1 - \dfrac {{\sigma_\Theta}^2+{\sigma_\Phi}^2}{2{\sigma_r}^2}.

Wenn die Objekte alle perfekte Kreisbahnen hätten, dann wäre σr=0 (keinerlei Bewegung nach innen oder außen) und der Bruch würde unendlich groß werden, β also -∞. Wenn wiederum die Bahnen schmale Ellipsen sind, ist die Streuung von σr groß, denn auf elliptischen Bahnen variiert die Geschwindigkeit stark zwischen dem Perigalaktikum und dem Apogalaktikum; die kreisförmigen Anteile σΘ und σΦ wären auf schmalen Bahnen hingegen klein, es gäbe nur wenig Seitwärtsbewegung, also wird der Bruch klein und β tendiert gegen 1. Bei rein radialer Bewegung sind σΘ und σΦ=0 und β=1. β ist sehr einfach aus der Statistik der Bewegungen der Sterne zu ermitteln, während die tatsächlichen Bahnen mit ihren Exzentrizitäten praktisch unmöglich zu bestimmen sind, zumal die Bahnen von Sternen durch die Milchstraße keine Kepler-Ellipsen sein können – solche existieren nur um Punktmassen, nicht innerhalb der weit verteilten Masse der Milchstraßenscheibe.

Kommentare (10)

  1. #1 UMa
    11. November 2018

    Wenn ich mich richtig erinnere, besteht die Scheibe der Milchstraße aus einer dünnen und einer dicken Scheibe. Die dicke ist älter, die dünne, in der heute noch Sterne entstehen, ist etwa 9 Milliarden Jahre alt und erst nach der letzten wirklich großen Kollision der Milchstraße entstanden, da diese großen Kollisionen die Scheiben ge- oder zerstört haben.
    Damit kann man schon aus dem Alter der dünnen Scheibe sagen, dass die letzte große Kollision der Milchstraße vor etwas mehr als 9 Milliarden Jahren stattfand, und sich seit dem keine großen Kollisionen mehr ereignet haben. Die nächste wäre dann wohl die mit Andromeda, falls die Tangentialgeschwindigkeit nicht zu hoch ist.

  2. #2 Alderamin
    11. November 2018

    @UMa

    Ja, vorher wird es noch die eine oder andere Kollision mit Zwerggalaxien geben. Die große Kollision mit der Andromedagalaxie wird die beiden dann vollkommen verändern, sie werden ihr verbliebenes Gas in einem riesigen Starburst in Sterne verwandeln und den Rest durch Supernovae ins All blasen, und dann eine große elliptische Galaxie ohne Gas und Sternentstehung hinterlassen. Aber bis dahin dauert es noch ein Erdalter.

  3. #3 leo
    OMG !!!!!1111
    11. November 2018

    https://en.wikipedia.org/wiki/NGC_2207_and_IC_2163

    https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/33/NGC2207%2BIC2163.jpg

  4. #4 Funktionalistiker
    11. November 2018

    Sehr interessant!
    Das erste Bild zeigt die kollidierenden Spiralgalaxien NGC 2207 und IC 2163.
    Kollidieren die wirklich, oder sieht das nur so aus und die rechte Galaxie befindet sich hinter der linken.
    Was mir an dem Bild auffällt ist, zumindest sieht es so aus, dass die Scheiben der beiden Galaxien parallel zu einender liegen und nicht gegeneinander geneigt sind.
    Es sieht auch so aus, dass die Sterne nach der Anordnung der Spiralarme in den Galaxien aber entgegengesetzt rotieren.
    Und wenn die dann so richtig zusammen sind, sich die Zentren vereinigt haben, sind die Sterne der jeweils anderen Galaxie die „Geisterfahrer“? Die kommen dann mit resultierenden rund 550 km/s entgegen?
    Das Chaos möchte ich mal sehen. Gibt es das an anderer Stelle live?

  5. #5 Alderamin
    11. November 2018

    @Funktionalistiker

    Das erste Bild zeigt die kollidierenden Spiralgalaxien NGC 2207 und IC 2163.
    Kollidieren die wirklich, oder sieht das nur so aus und die rechte Galaxie befindet sich hinter der linken.

    Die Galaxien im Bild kollidieren wirklich. Sie sind noch in einer frühen Phase, man sieht den außen liegenden Arm der kleinen Galaxie aber schon verformt. Wie im Wikipedia-Artikel darüber steht, hat verstärkte Sternentstehung schon begonnen und in nur 38 Jahren gab es bereits 4 Supernovae (normal sind 1-2 pro Jahrhundert).

    Es sieht auch so aus, dass die Sterne nach der Anordnung der Spiralarme in den Galaxien aber entgegengesetzt rotieren.
    Und wenn die dann so richtig zusammen sind, sich die Zentren vereinigt haben, sind die Sterne der jeweils anderen Galaxie die „Geisterfahrer“?

    Ob die Sterne der einen Galaxie Geisterfahrer in der anderen werden, das kann man aus dem Bild nicht so erschließen, es kommt auch darauf an, in welcher Richtung sich die beiden umkreisen – aus dem Umlauf kommt der größere Drehimpuls. Ich hatte im Artikel der Kollision in den Magellanschen Wolken ein Video verlinkt, das eine retrograde Kollision zeigt (Umlauf in Gegenrichtung zur Rotation der größeren Galaxie), und da wurden die Sterne zu Geisterfahrern. Bei progradem Umlauf wohl nicht, selbst bei retrograder Rotation der Galaxien.

    Das Chaos möchte ich mal sehen. Gibt es das an anderer Stelle live?

    Live-Chaos gibt es in den Antennengalaxien zu sehen. Hier eine Simulation davon.

  6. #6 HF(de)
    12. November 2018

    Ich liebe diesen Blog. Egal ob UMTS, Astro oder sonst was: immer eine Klasse für sich. Danke, danke, danke!

  7. #7 Funktionalistiker
    12. November 2018

    Eine Frage noch.
    Wie oft kommen solche Kollisionen (beobachtet) vor, gemessen an der Gesamtzahl der beobachtbaren Galaxien?
    Gibt es dazu Zahlen?

  8. #8 Till
    13. November 2018

    Super spannend! Das zeigt mal wieder: In der Wissenschaft gilt das Motto: Das einzige was besser ist als viele Daten ist noch mehr Daten.

    Freue mich schon auf Teil 2!

  9. #9 Alderamin
    14. November 2018

    @Funktionalistiker

    Sorry für die späte Antwort, ich war unterwegs und mein Laptop mochte das Hotel-WiFi nicht.

    Ich habe eine Arbeit gefunden, nach der die Kollisionsrate von Galaxien früher so um die 1 Ereignisse pro Jahrmilliarde und Galaxie lag und heute bei 0,02 (Bild 9). Passiert(e) also oft.

  10. […] ersten Teil der Astro-Archäologie haben wir davon erfahren, dass ein englisches Forscherteam die Spuren einer Kollision der […]