Die Theorie der Galaxienentwicklung besagt, dass große Galaxien aus der Kollision und Verschmelzung kleinerer Galaxien hervorgehen. Wir können dies in fernen Galaxien beobachten, wo solche Kollisionen gerade stattfinden (Artikelbild). In einem früheren Artikel haben wir schon davon gehört, dass die Große Magellansche Wolke einst ihre kleinste Schwester verschlang.
Der Astrometriesatellit Gaia misst mit hoher Präzision die Position und Bewegung von Milliarden von Sternen innerhalb der Milchstraße und des sie umgebenden Halos. Die computergestützte Analyse der Bahnen zahlloser Sterne erlaubt es uns nun, die Kollisionsgeschichte unserer Milchstraße bis in ihre früheste Jugend zurück zu verfolgen und gewissermaßen “Astro-Archäologie” zu betreiben. Im folgenden Bild sieht man von einem Computerprogramm namens Streamfinder aufgespürte Sternströme in den Gaia DR-2-Daten, die von vergangenen Zwerggalaxien zeugen, welche relativ kürzlich von der Milchstraße vereinnahmt wurden:
Im heutigen und im nachfolgenden Artikel möchte ich über zwei besonders große Kollisionsereignisse berichten, welche die Form der Milchstraße maßgeblich prägten.Man weiß aus dem Alter der ältesten Roten und Weißen Zwerge, dass die Milchstraßenscheibe ungefähr zwischen 11 und 8 Milliarden Jahre vor unserer Zeit entstanden sein muss. Der Halo aus Sternen und Dunkler Materie, der die Milchstraße umgibt, muss noch älter sein, das Alter der Kugelsternhaufen liegt zwischen 11 und 13 Milliarden Jahren, nur wenig jünger als das Weltalter von knapp 14 Milliarden Jahren überhaupt. Wann der Halo genau entstand und wie lange die Entstehung der Scheibe dauerte, ist jedoch nur sehr vage bekannt.
Ein Team um Vasily Belokurov von der Universität Cambridge, UK wollte mit Hilfe der Gaia DR2-Daten und Spektren des Sloan Digital Sky Survey (SDSS) untersuchen, ob man aus der Bewegung der Sterne (Gaia) verschiedenen Alters (abgeleitet aus den SDSS-Spektren) die Entstehungsgeschichte der Milchstraße rekonstruieren und datieren könnte – und kamen dabei einer frühen, massiven Kollision der Milchstraße mit einer anderen Galaxie auf die Spur [2].
Ausgrabungen im DR2-Katalog
Betrachtet man die Bahnen von Sternen in Sonnennähe, dann haben diejenigen von Sternen des Halos (die auch die Scheibe durchstoßen und somit in Sonnennähe gelangen) einen hohen radialen Bewegungsanteil, d.h. die Sterne befinden sich auf elliptischen Bahnen, die von weit draußen im Halo in Richtung des Milchstraßenzentrums verlaufen, wohingegen die Sterne der Scheibe auf Kreisbahnen mit konstantem Abstand zum Zentrum kreisen.
Die Autoren untersuchten eine Auswahl von knapp 200.000 alten Hauptreihensternen und bestimmten ihre Geschwindigkeiten in Betrag und Richtung, zusätzlich ihren Metallgehalt aus ihrem Spektrum. Die ausgewählten Sterne (zwischen 4500K = Spektralklasse K3V und 8000K = Spektralklasse A8V) haben keine tiefe Konvektion, d.h. die Metalle, die sie selbst im Kern erbrüten, kommen nicht an die Oberfläche; die Oberfläche zeigt vielmehr den Metallgehalt des Gases, aus dem sie ursprünglich entstanden sind. Der Metallgehalt eines Sterns gibt wiederum einen Anhaltspunkt für sein Alter, denn mit der Zeit wurde das Gas, aus dem neue Sterne entstehen, immer mehr durch die Überreste von Supernovae mit Metallen angereichert, so dass alte Sterne metallärmer sind als junge Sterne.
Zunächst zeigte sich bei niedrigen galaktischen Breiten (also innerhalb der Scheibe) und hohem Metallgehalt (also junge Sterne) eine zwiegespaltene Verteilung der Sterne in Bezug auf ihre Bewegung in der Milchstraße:
Man muss sich vergegenwärtigen, dass im obigen Bild keine räumlichen Verteilungen von Sternen dargestellt sind, sondern nur deren Geschwindigkeiten. Daher finden sich die Sterne der gesamten galaktischen Scheibe in dem blauen Klecks oberhalb der Mitte des Diagramms, sie bewegen sich mit rund 200 km/s (zirkulare Geschwindigkeit ≈ 200 km/s) um das Zentrum bei konstantem Abstand (radiale Geschwindigkeit ≈ 0). Sterne, die im Bild weiter außen liegen und sich somit schnell bewegen, werden eher nahe dem Zentrum der Milchstraße gelegen sein, während solche in der Mitte des Diagramms, die fast still stehen, sich eher weit weg vom Zentrum an den Umkehrpunkten ihrer Bahnen aufhalten dürften.Neben der offensichtlichen Scheibenpopulation gibt es eine zweite Gruppe von Sternen, die wie ein Balken quer im Diagramm liegt: die zirkulare (Kreis-) Bewegung von ihnen ist nahe 0, die radiale hingegen reicht bis fast ±400 km/s. Diese Sterne bewegen sich auf schmalen Ellipsenbahnen bis weit hinaus in den Halo. Dieses Muster, von den Autoren (m.M.n. etwas unglücklich) als Gaia Wurst (Gaia sausage) bezeichnet, sieht man nur bei Sternen in der Nähe der Milchstraßenscheibe und bei hohem Metallgehalt. Etwas weiter weg von der Scheibe ist die Geschwindigkeitsverteilung ein waagerecht liegendes Oval, d.h. die Bahnen sind auch elliptisch, aber nicht derart schmal, und bei sehr alten, metallarmen Sternen ist die Verteilung fast kreisförmig, die Sterne bewegen sich auf Bahnen aller möglichen Exzentrizitäten – dies sind die ältesten Halosterne, die noch vor der galaktischen Scheibe entstanden. Das Heraustreten der Scheibenpopulation und die “Wurst” verschwinden bei Sternen mit weniger Metallanteil, die also älter sind. Beispielhaft im Bild unten die Verteilungen innerhalb der Scheibe für sehr alte (links) bis sehr junge (rechts) Sterne.
Man sieht hier, wie die Scheibe nach dem Halo allmählich entstand; genau danach hatten die Autoren gesucht. Aber woher stammt die Wurst?
Jetzt geht’s um die Wurst
Die Bilder oben geben eine anschauliche Übersicht über die Entwicklung der Bahnen, aber erst wenn man die Geschwindigkeiten mit statistischen Methoden auswertet, wird klar, was hier vorgefallen sein muss. Im nächsten Bild sieht man die Dispersion und Anisotropie der Geschwindigkeiten über dem Metallgehalt aufgetragen, und zwar nur für die Sterne im Halo. Die alten Sterne finden sich links, die jüngeren rechts. Die Dispersion gibt an, um wieviel die Geschwindigkeiten im Mittel streuen; je größer die Streuung, desto breiter ist die Geschwindigkeitsverteilung. Die durchgezogenen Linien geben die Streuung der radialen Geschwindigkeiten an (waagerechte Achse in den Bildern oben), die gepunkteten die Streuung der Rotationsgeschwindigkeiten in der Milchstraßenebene und die gestrichelten senkrecht dazu. Bei einem Metallanteil von 10-2,0, entsprechend einem Alter von ca. 8 bis 10 Milliarden Jahren vor unserer Zeit, tun alle drei Verteilungen einen Sprung: die radiale Streuung wächst, die Streuung in der Scheibenebene und senkrecht dazu schrumpft mit einem Satz. Vor allem die roten Linien, die Sterne nahe der Scheibe beschreiben, zeigen den Sprung besonders ausgeprägt. Die Bahnen der Halosterne wurden also abrupt elliptischer, denn elliptische Bahnen haben größere radiale Geschwindigkeiten bei nur kleinen zirkularen – es ergibt sich die oben schon gesehene “Wurst”.
Im rechten Bild ist ein Parameter β namens “Anisotropie” der Bahnen dargestellt, der aus den Geschwindigkeitsdispersionen abgeleitet ist – wie genau1 muss uns hier nicht interessieren, nur dass mit β→1 die Bahnen immer langgezogener werden (bei β=-∞ wären sie perfekt kreisförmig). Auch hier zeigt sich bei Fe/H = 10-2,0 ein Sprung, die Bahnen werden abrupt exzentrischer. Das riecht nach einem massiven, kataklysmischen Ereignis zu just dieser Zeit. Was könnte die Bahnen des riesigen Milchstraßenhalos so massiv verändert haben? Nur eine Kollision von galaktischem Ausmaß!
Folgenschwerer Einschlag
Dass die Milchstraße mit anderen Galaxien, vornehmlich Zwerggalaxien, kollidiert ist, ist nicht neu, aber eine allmähliche Vereinnahmung von kleinen Galaxien kann den abrupten Sprung nicht erklären – da muss schon etwas größeres mit der Milchstraße kollidiert sein. Die Autoren führten Simulationen durch, um zu testen, ob der Einschlag einer großen Galaxie die stark elliptischen Bahnen jüngerer Halosterne erklären kann. In der Tat ergaben sich mit zunehmender simulierter Masse der einschlagenden Galaxie zunehmend extreme β-Werte. Bei weniger als 1 Milliarde Sonnenmassen (ca. 1 Promille der Milchstraßenmasse) ergab sich β≈0,35, bei mehr als 10 Milliarden Sonnenmassen (1% Milchstraßenmasse) β≈0,8. Daher proklamieren die Autoren den Einschlag einer Galaxie in der Milchstraße von rund 50 Milliarden Sonnenmassen beginnend vor ca. 11 Milliarden Jahren [3], und sie bezeichnen sie als “Sausage Galaxy”, weil sie für die “Wurst” in der Geschwindigkeitsverteilung verantwortlich sein soll. In der Presse kam dies dann zum, Teil als “wurstförmige Galaxie” an, was natürlich Unsinn ist – es wird eine gewöhnliche Spiralgalaxie gewesen sein, man findet in der Rotation der Halosterne noch Reste ihrer Drehung von ca. 20-30 km/s.
In weiteren Arbeiten zeigte die Autorengruppe, dass dieses Modell auch einen Abfall der Dichte der Halosterne jenseits einer Entfernung von 20 kpc vom Milchstraßenzentrum erklären kann, dass 8-10 Kugelsternhaufen, die sich mit ähnlich “wurstförmiger” Geschwindigkeitsdispersion und signifikant schneller bewegen als die mutmaßlich mit der Milchstraße entstandenen Kugelsternhaufen und eine Gruppe von die Milchstraße in umgekehrtem Drehsinn umkreisende Sterne auf diese Kollision zurückgeführt werden können, was die Theorie untermauert.
Ist es nicht ungemein faszinierend, wie Gaia die Astronomie revolutioniert? Zusammen mit den Daten anderer Kataloge wie des SDSS lässt sich Astro-Archäologie der Milchstraße betreiben und die Ausgrabungen in den Daten lassen die Relikte längst vergangener Ereignisse erkennen. Gaia ist viel mehr als ein einfacher Astrometriesatellit zur Messung von Sternörtern – sie ist eine Big-Data-Maschine, in deren Archiv noch viele Schätze auf ihre Ausgrabung warten.
Referenzen
[1] Khyati Malhan, Rodrigo A. Ibata, Nicolas F. Martin, “Ghostly Tributaries to the Milky Way: Charting the Halo’s Stellar Streams with the Gaia DR2 catalogue“, Monthly Notices of Royal Astronomical Society, 12. September 2018; arXiv:1804.11339.
[2] V. Belokurov, D. Erkal, N.W. Evans, S.E. Koposov, A.J. Deason, “Co-formation of the Galactic disc and the stellar halo“, Monthly Notices of the Royal Astronomical Society, Volume 478, Issue 1, p.611-619, Juli 2018; arXiv: 1802.03414.
[3] G.C. Myeong, N.W. Evans, V. Belokurov, J.L. Sanders, S.E. Koposov, “The Sausage Globular Clusters“,
The Astrophysical Journal Letters, Volume 863, Issue 2, August 2018, arXiv:1805.00453.
[4] “The Gaia Sausage: The Major Collision That Changed the Milky Way Galaxy“, Center for Computational Astrophysics, Flatiron Institute, Simons Foundation, 4. Juli 2018.
1 β ist folgendermaßen über die Streuungen der Geschwindigkeiten in der galaktischen Breite (Ebene der Milchstraßenscheibe) σΘ, in der galaktischen Länge σΦ und in der radialen (in Bezug auf das Milchtraßenzentrum) Richtung σr definiert:
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Wenn die Objekte alle perfekte Kreisbahnen hätten, dann wäre σr=0 (keinerlei Bewegung nach innen oder außen) und der Bruch würde unendlich groß werden, β also -∞. Wenn wiederum die Bahnen schmale Ellipsen sind, ist die Streuung von σr groß, denn auf elliptischen Bahnen variiert die Geschwindigkeit stark zwischen dem Perigalaktikum und dem Apogalaktikum; die kreisförmigen Anteile σΘ und σΦ wären auf schmalen Bahnen hingegen klein, es gäbe nur wenig Seitwärtsbewegung, also wird der Bruch klein und β tendiert gegen 1. Bei rein radialer Bewegung sind σΘ und σΦ=0 und β=1. β ist sehr einfach aus der Statistik der Bewegungen der Sterne zu ermitteln, während die tatsächlichen Bahnen mit ihren Exzentrizitäten praktisch unmöglich zu bestimmen sind, zumal die Bahnen von Sternen durch die Milchstraße keine Kepler-Ellipsen sein können – solche existieren nur um Punktmassen, nicht innerhalb der weit verteilten Masse der Milchstraßenscheibe.
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