Das Münsterland ist eine flache Landschaft, darum ist es ein Paradies für Fahrradfahrer. Aber wir haben hier auch Berge: Die “Baumberge” – die “Gipfel” liegen etwa 160 m über dem Meeresspiegel. “Berg” ist eben ein vager Begriff, ein “vages Attribut”

In der natürlichen Sprache sind viele Attribute “vage”: Es ist unsicher, es scheint von der persönlichen Einschätzung des Sprechers abzuhängen, on einem Objekt ein Attribut zukommt oder nicht.

Die Vagheit beschäftigt die Philosophen schon solange, wie es Philosophie gibt, das Haufen-Paradox, welches das Problem der vagen Begriffe aufzeigt, geht auf Zenon oder Eubulides zurück, ist also seit ungefähr 2.400 Jahren bekannt: Wenn man von einem Getreidehaufen ein Korn wegnimmt, ist da immer noch ein Haufen – also kann man immer ein Korn nach dem anderen wegnehmen, und es bleibt ein Haufen. Aber wenn man alle Körner weggenommen hat, ist da ganz sicher kein Haufen mehr.

Wissenschaftlern fällt es schwer, mit Vagheit umzugehen: Sie definieren die Vagheit, wenn es geht, einfach weg. Das Beispiel, welches in den letzten Jahren vielleicht die größte Bekanntheit erlangte, war der Pluto, der nach der neuen Planetendefinition plötzlich kein Planet mehr ist. Auf diese Weise strukturiert die Naturwissenschaft sich die Welt. Sie zieht in die vorgefundene Vielfalt relativ willkürliche Grenzen ein, um die so konstruierten Einheiten systematisch untersuchen zu können. Vage Begriffe und exakte Wissenschaft passen nicht zusammen.

Im Experiment werden die Bedingungen dann so optimiert, dass die Vagheit verschwindet. Wenn man die Spinne an ihrem Seidenfaden sieht, wie sie sich im Wind hin und her bewegt, ist es unklar, ob man diese Bewegung als Pendelbewegung ansehen kann. Ein dünnes Stahlseil, an dem eine schwere Metallkugel hängt, das ganze unter Laborbedingungen im Vakuum reibungsarm aufgehängt und dann aus der Ruhelage um 3 Grad ausgelenkt: Das ist eine klare Pendelbewegung, die man untersuchen und mit einem theoretischen Modell beschreiben kann.

Als Physiker und Chemiker kann man so arbeiten, für Biologen und Mediziner wird es schon schwieriger, Sozial- und Geisteswissenschaftler aber müssen sich ständig mit der Vagheit quälen, und Philosophen sowieso. Die aus dem Haufen-Paradox bekannte Argumentation wird gern zum Verwässern ethischer Urteile genutzt (z.B. von Sixtus Empiricus zum Inzest) und wenn man wissenschaftsphilosophische Unterscheidungen trifft, dann bringen auch Wissenschaftler wieder die Vagheit ins Spiel, um die philosophische Argumentation zu kritisieren.

So gab es vor einigen Tagen hier im Arte-Fakten-Blog eine Diskussion über die Frage der Unterscheidung von natürlichen Bedingungen und künstlichen Laborbedingungen. Die Grenze zwischen beiden ist natürlich vage. Trotzdem können wir das Labor von der Wildnis doch klar unterscheiden.

Ähnlich verlief eine Diskussion zur Unterscheidung von direkt beobachtbaren Phänomenen und nicht direkt beobachtbaren Prozessen. Auch hier ist der Maßstab, bei der Übergang von einem zum anderen erfolgt, fließend: Aber Menschen, Bäume und Steine kann man sicher direkt beobachten, während Elektronen und Protonen ganz sicher nicht direkt beobachtbar sind, ebenso wie der Urknall.

Diese Beispiele verweisen schon auf eine mögliche Lösung des Problems: Vage Attribute werden definiert, in dem man paradigmatische Fälle angibt. Eine LKW-Ladung Getreide, auf die Autobahn geschüttet, ist ganz klar ein Haufen. Die 2000 Autos, die eine Stunde auf die Reinigung der Fahrbahn warten, bilden ganz klar einen Stau. Wenn das Getreide dann entsorgt ist und noch ein paar einzelne Körner am Straßenrand liegen, dann ist das kein Haufen mehr, und wenn das letzte Auto wieder angefahren ist, dann hat sich der Stau definitiv aufgelöst.

Dazwischen liegt die Vagheit, die man nicht los wird und mit deren Konsequenzen sich Wissenschaft und Philosophie herumschlagen müssen – vor allem mit der Frage, welche Folgen es hat, wenn man die Vagheit zugunsten der Handhabbarkeit von Modellen bewusst oder unbewusst ignoriert.

Kommentare (19)

  1. #1 Patrick
    Mai 21, 2009

    Es liegt wohl im Fluch der “Absolut”- Definition.
    Wissenschaft arbeitet anhand ihrer wissenschaftlichen Mittel, deren Definition “absolut” ist.

    Das Attribut “vage” ist eine Variable, die niemals zu einem eindeutigen Ergebnis führen kann.
    Darum beruft sich die derzeitige Wissenschaft auf Konstanten, die messbar, wie berechenbar “absolut” sind.

    Da die Spinnenseide in der Natur von unterschiedlichen Faktoren (die im Labor niemals 1:1 nachgestellt werden können) zu einer scheinbaren (vagen) Pendelbewegung getrieben wird, muss die physikalische Mechanik hier von “chaotischen” Zuständen ausgehen. Der Gegendefinition von “absolut”.
    Unter Umständen könnte der Faden in der Natur jedoch (im Gedankenmodell) technisch perfekter (absoluter) eine Pendelbewegung darstellen, als in dem von Menschenhand nachgestellten Modell im Labor.

    Hier schaltet sich die Logik des Menschen ein, die im Prinzip eigene Definitionen für “Ja” und für “Nein” festlegt.
    “Absolut” und “Chaos” lässt sich daher nur schlecht widerlegen. Außer man würde das Gesamtspektrum der Wirkungsweisen in unserem Universum erfassen können. Dann nämlich wäre die natürliche Form, sowie die nachgestellte Labor- Form “absolut”.
    Das Paradoxon wäre ein Computer, der dies errechnet, obwohl er selbst mit zu dem “Gesamtuniversellen” gehören würde.

    Hierzu empfehle ich Isaac Asimovs Kurzgeschichte The Last Question (Wenn die Sterne verlöschen). 😉

  2. #2 Florian Freistetter
    Mai 21, 2009

    @Patrick: “Das Attribut “vage” ist eine Variable, die niemals zu einem eindeutigen Ergebnis führen kann.”

    Siehe “Fuzzy Logic”.

  3. #3 Julia
    Mai 21, 2009

    Was ist eigentlich die Moral von der Geschichte?
    “Dazwischen liegt die Vagheit, die man nicht los wird und mit deren Konsequenzen sich Wissenschaft und Philosophie herumschlagen müssen – vor allem mit der Frage, welche Folgen es hat, wenn man die Vagheit zugunsten der Handhabbarkeit von Modellen bewusst oder unbewusst ignoriert.”
    Das ist alles etwas vage.

  4. #4 Michael Michaelis
    Mai 21, 2009

    @ Florian Freistetter:
    Siehe “Fuzzy Logic”.

    Fiel mir auch gleich ein.

    Es gibt im Bereich der Softwareentwicklung einen ganzen Haufen von Problemen, die man nur in den Griff bekommt, wenn man “weiche” Faktoren in Rechnung stellt (Kreativität von Programmierern, Tauglichkeit von Hochsprachen für bestimmte Probleme, um Beispiele zu nennen) . Am Ende kommt ein Programm dabei heraus, das aus Nullen und Einsen besteht.

    Oder anders formuliert: wenn man “Vagheit” vorfindet, gibt es keinen Grund, warum man sich mit ihr abfindet, statt sie analytisch auseinander zu nehmen.

  5. #5 Patrick
    Mai 21, 2009

    @ Florian:

    Fuzzy Logic

    Ja, ganz richtig. Wobei die Fuzzylogik an sich ja eigentlich auch wieder eine Variable darstellt, die so nicht als “fest” und “eindeutig” definiert werden kann.
    Wäre also hier in dem angesprochenen “Absoluten” nicht brauchbar… außer man übernimmt die Fuzzylogik als Teil eines “absoluten Systems”.
    Dann wären wir wieder bei meinem “modernen Determinismus”, der Quantenfluktuation und dergleichen sog. “Zufälle”, mit in das nicht-zufällige Gesamtsystem einschließt.

  6. #6 Patrick
    Mai 21, 2009

    @ M. Michaelis:

    Oder anders formuliert: wenn man “Vagheit” vorfindet, gibt es keinen Grund, warum man sich mit ihr abfindet, statt sie analytisch auseinander zu nehmen.

    Schon. Nur wird dies entsprechend der äußeren Bedingungen schon beinahe unmöglich.
    Das Beispiel: Eine Spinne hängt an ihrem Faden und vollzieht eine “vage” Pendelbewegung. Unter welchen Voraussetzungen ließe sich diese Vagheit nun “absolut” analysieren, um sie 1:1 zu rekonstruieren?
    Nicht machbar! (?)

  7. #7 Geoman
    Mai 21, 2009

    Als Diplom-Geograph bin ich in einer diffusen (weichen) Disziplin (zum Glück mit etwas härteren Nebenfächern) wissenschaftlich sozialisiert worden. Da war für mich die zufällige Entdeckung oder auch Erkenntnis, dass Systemdenken, “Reduktion zugunsten intellektueller Tranzparenz” bedeutet, schon eine (wenn auch innergeographisch nicht gern gesehene) Erleuchtung.

    Nach Lektüre diese Beitrages müsste ich meiner Mutterdisziplin, die Geographie, fast in Schutz nehmen, weil sie die Vagheit nicht ausblendet bzw. versucht hat, sie zum zumindest ansatzweise naturwissenschaftlichen ‘Gegenstand’ zu machen. Wenn ich sie hier doch nicht rehabilitiere, so liegt es es an meiner bitteren Erfahrung , dass die klassische oder auch normale Geographie dazu neigt, sich der diffusen Welt (die sie traditionell als “Landschaft” wahrnimmt) mit völlig untauglichen bzw. überkommenen Frage- und Lösungsstrategien zu nähern.

  8. #8 Jürgen Schönstein
    Mai 21, 2009

    @Jörg Friedrich

    “Berg” ist eben ein vager Begriff, ein “vages Attribut” (…) Wissenschaftlern fällt es schwer, mit Vagheit umzugehen: Sie definieren die Vagheit, wenn es geht, einfach weg. (…) Auf diese Weise strukturiert die Naturwissenschaft sich die Welt. Sie zieht in die vorgefundene Vielfalt relativ willkürliche Grenzen ein, um die so konstruierten Einheiten systematisch untersuchen zu können.

    Dass Wissenschaft und vage Begriffe nicht zusammen passen, will ich gerne glauben. Aber dass sie sich die Vagheit “einfach weg” definiert, halte ich doch für eine ge”v”agte Behauptung. Definieren – ja. Weg – nein. Und einfach? Na, ganz so einfach machen es sich die Wissenschaftler wohl nicht.

    Fangen wir mit dem Berg an, zu dem ich als Geograph ja vielleicht sogar kompetent etwas sagen darf: Ein Berg ist, laut dem “Lexikon für Geographie” (Akademischer Verlag), eine “Vollform, die sich gegen ihre Umgebung durch größere Höhe und Neigung absetzt und damit eine höhere Reliefenergie aufweist” – der relative Höhenunterschied sowie die Hangneigung lassen sich aber ohne jede Vagheit messen und beschreiben. Und so lange ich klar stelle, ab welcher relativen Höhe (seien es nun 100 oder 300 Meter) oder welchem Neigungswinkel (25, 30 oder 40 Grad – was auch immer) ich von einem “Berg” spreche, wird auch klar, was ich damit meine. Alle anderen Erhebungen werden dadurch ja nicht wegdefiniert – sie sind nach wie vor existent, und gegebenenfalls steht es jedem frei, meine Definition auszuweiten oder einzuschränken und dann die Ergebnisse neu zu betrachten.

    Oder Pluto: Der wurde ja auch nicht einfach “wegdefiniert”, sondern – gemeinsam mit anderen, vergleichbaren Objekten – lediglich neu klassifiziert. Wobei es sowieso nur für’s Fernsehquiz eine Rolle spielt, ob es nun acht, neun oder elf “Planeten” in unserem Sonnensystem gibt – an der sehr konkreten Beschreibbarkeit jedes einzelnen dieser Himmelskörper ändert diese Klassifizierung ja nichts.

    Und selbst wenn Grenzen, wie Sie schreiben, willkürlich gezogen werden: So lange die Kriterien dieser Grenzziehung transparent und nachvollziehbar gemacht werden, sehe ich darin kein Problem. Nicht mal ein vages.

  9. #9 Geoman
    Mai 22, 2009

    @Jürgen Schönstein

    Unser beider Mutterdisziplin die “Geographie” wird auch als “volkswissenschaftliche” Disziplin bezeichnet, weil sie dem alltäglichen Denken des ‘Volkes’ sehr nahesteht. Dies zeigt sich darin, dass sie dazu neigt, ihre ‘Gegenstände’ nicht – wie andere naturwissenschaftliche Disziplinen – zu konstrieren, sondern direkt aus der Alltagssprache zu übernehmen, also z. B. Landschaft, Berg etc. Um dieses Begriffe vom alltäglichen Gebrauch abzuheben, werden sie dann üblicherweise verwissenschaftlicht, d. h. – wie Sie das hier mit dem Begriff “Berg” getan haben – z. B. mit einem Neigungswinkel und einer Höhe versehen. Damit sind die Probleme, die damit verbunden sind, wenn man einen alltäglichen Begriff in die Wissenschaft übernimmt, aber noch nicht gelöst. In der Alltagsprache ist der Begriff “Berg” ja immer eine Gegenbegriff zu “Tal”, man könnte auch formulieren, wer Berg sagt, denkt Tal mit. Im Alltag sind solche Gegenbegriffe (wie z. B. auch “Natur” und “Kultur”) weitgehend unproblematisch zu handhaben, aber wenn ich sie zu einem wissenschaftlichen Gegenstandsbereich erhebe, dann wird es ungemütlich. Versuchen sie z. B. mal zu definieren, wo der Berg anfängt und das Tal aufhört.

  10. #10 Jörg Friedrich
    Mai 22, 2009

    Fuzzy Logic ist genau eine der Methoden, mit denen man Unsicherheit per Definition zu Sicherheit macht.

    (Nebenbei: Alle Logiken, und zwar vor allem ale Konzepte mehrwertiger und modaler Logik und natürlich auch die Fuzzy Logik werden von Philosophen aufgenommen und teilweise weiterentwickelt u.a. auch dem Grund, um mit Vagheit umgehen zu können.)

    @Jürgen Schönstein: Geoman hat es eigentlch schon beschrieben, aber zur Ergänzung: Natürlich definieren die Wissenschften nicht die Objekte weg, sondern die Vagheit über die Attributzuweisung (oder Klassenzugehörigkeit) eines Objekts. Das haben Sie mit dem Berg-Beispiel demonstriert. In den Alpen z.B. ist ein “eigenständiger Gipfel” eine Erhebung mit einer Schartenhöhe von 30 m – dmit wird aaus Vagheit per definitionem Klarheit gemacht.

    Dass es “gegebenenfalls jedem” frei steht, die Sache neu zu definieren, ist nicht ganz richtig: im Allgemeinen muss man sich der Definition der Gemeinschaft anschließen, mit der man kommunizieren will – oder man muss sehr gute Gründe angeben, die Definition zu ändern, und dann muss sie von der Gemeinschaft übernommen werden.

  11. #11 Jürgen Schönstein
    Mai 22, 2009

    @Geoman

    Versuchen sie z. B. mal zu definieren, wo der Berg anfängt und das Tal aufhört.

    Im Fall eines Inselberges – der sich aus einer Rumpffläche erhebt (Beispiel wäre der australische Ayers Rock) – ist das ganz einfach und selbst dem Laien klar. Aber wir wollen hier eh’ keinen Grundkurs in Geomorphologie veranstalten, oder?

    @Jörg Friedrich
    Davon abgesehen, dass ich von “Berg” und nicht von “Gipfel” geredet habe (wenn Sie sich ein Bild des Watzmann anschauen, werden Sie selbst gleich sehen, was der Unterschied ist), geht es doch hier darum, ob die Wissenschaft etwas – das Sie “Vagheit” nennen – weg definiert. Und da halte ich nur dagegen: Es wird nichts “weg” definiert.

    Dazwischen liegt die Vagheit, die man nicht los wird und mit deren Konsequenzen sich Wissenschaft und Philosophie herumschlagen müssen – vor allem mit der Frage, welche Folgen es hat, wenn man die Vagheit zugunsten der Handhabbarkeit von Modellen bewusst oder unbewusst ignoriert.

    schreiben Sie. Und ich halte dagegen, dass es in den meisten Wissenschaften – wie’s in den Geisteswissenschaften aussieht, weiß ich zugegebener Maßen nicht – dank klarer und in jedem Fall nachvollziehbarer Definitionen kein vages “Dazwischen” gibt.

  12. #12 Jörg Friedrich
    Mai 22, 2009

    @Jürgen Schönstein: Indem Sie sagen, “dass es in den meisten Wissenschaften dank klarer und in jedem Fall nachvollziehbarer Definitionen kein vages Dazwischen gibt” beschreiben Sie genau das, was ich “die Vagheit wegdefinieren” genannt habe. Ich weiß auch, dass dieses “Klarheit Schaffen durch Definitionen” eine notwendige Bedingung exakter Wissenschaften ist – genau das war das Thema meines Blog-Artikels. Die Klarheit ist konstruiert, und die Klassen, die man sich damit schafft, sind konstruierte Klassen.

    Das ist übrigens keine Kritik an den Wissenschaften, ich behaupte nicht, dass die Wissenschaften etwas anderes tun sollten. Was ich mache, ist bloße Beschreibung: Vorraussetzung für erfolgreiches Arbeiten in einer exakten Wissenschft ist zunächst eine relativ willkürliche Grenzziehung in der real existierenden Vagheit – so konstruiert man sich handhabbare Klassen.

  13. #13 Geoman
    Mai 23, 2009

    @Jürgen Schönstein

    Ihr Beispiel mit Ayers Rock, zeigt, dass sie sich schwer mit dem Punkt tun, auf den Jörg Friedrich hinaus will, nämlich dass Wissenschaftler immer dann wenn, sie handhabbare Klassen konstruieren, Vagheit oder auch komplexe Aspekte der Wirklichkeit wegdefinieren müssen. Sie drehen die Geschichte irgendwie um, in dem sie an einer einzelnen, außergewöhnlichen Reliefform, zeigen wollen, dass der vage Begriff „Berg“ definierbar bzw. vom Begriff “Tal” abgrenzbar ist.

    Mir scheint das liegt daran, dass man als Geograph gewohnt ist, mit vagen lebensweltlichen Begriffen zu arbeiten. Begriffe wie „Berg“ und „Tal „ sind aber keine wissenschaftlich konstruierten Klassen, sondern stammen aus dem Erleben oder auch der Erwanderung der Alltagswelt und dort machen sie auch Sinn.

    Ich vermute, dass sie den überkomplexen (im Sinne von vagen) Begriff „Berg“ im Sachwortregister eines wissenschaftlichen Geomorphologiebuches gar nicht finden werden. Genauso wenig wie Sie den vagen Begriff „Natur“ in einem naturwissenschaftlichen Fachbuch finden werden, zumindest wenn man vom Vor- oder Nachwort absieht.

    Nun will ich hier die Geographie (oder geographische Geomorphologie) nicht durch den Kakao ziehen, zumal die anderen Disziplinen häufig auch nicht viel besser oder reflektierter sind. Ein schönes Beispiel für eine (zwar im allgemeinen, d. h. im wissenschaftlichen Alltag Handhabbare, aber nichts desto trotz) schlecht oder zumindest sehr unsauber konstruierte Klasse, sind z. B. „Arten“, die es wohl weniger in der Wirklichkeit als im botanischen Garten oder im Zoo gibt.

  14. #14 Jürgen Schönstein
    Mai 26, 2009

    @Jörg Friedrich

    Ich weiß auch, dass dieses “Klarheit Schaffen durch Definitionen” eine notwendige Bedingung exakter Wissenschaften ist – genau das war das Thema meines Blog-Artikels.

    OK, das klingt aber schon ein bisschen anders als

    Wissenschaftlern fällt es schwer, mit Vagheit umzugehen: Sie definieren die Vagheit, wenn es geht, einfach weg. (…) Vage Attribute werden definiert, in dem man paradigmatische Fälle angibt. (…) Dazwischen liegt die Vagheit, die man nicht los wird und mit deren Konsequenzen sich Wissenschaft und Philosophie herumschlagen müssen – vor allem mit der Frage, welche Folgen es hat, wenn man die Vagheit zugunsten der Handhabbarkeit von Modellen bewusst oder unbewusst ignoriert.

    Lesen sie’s selbst noch einmal, und dann werden Sie vielleicht sehen, warum ich mich an solchen Formulierungen störe. Von wegen “Vagheit ignorieren” und so … Ich will’s mal mit einem Beispiel versuchen: Ortsangaben sind, wenn man sich auf Flur- oder Ortsnamen verlassen würde, auch eher vage. Aber diese Angaben spielen halt keine Rolle, wenn man statt dessen UTM- oder GPS-Koordinaten wählt. Die sind nämlich eindeutig. Durch solche Angaben hat man keineswegs Vagheit ignoriert oder “weg definiert”, sondern statt dessen eine präzisere Form der Beschreibung gefunden.

  15. #15 Geoman
    Mai 26, 2009

    @ Jürgen Schönstein

    Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie wild und undiszipliniert, jedenfalls nicht ‘wissenschaftlich’ argumentieren, um Jörg Friedrichs Ausführungen über “Vagheit und Wissenschaft” an die Wand zu fahren.

    Ob GPS-Daten eine “präzisere Form der Beschreibung” als ‘vage’ Flur- und Ortsnamen sind, hängt doch ganz von der Fragestellung ab, die sie bearbeiten wollen. Nehmen wir einmal an, wir beide würden darum weitteifern, den Ort der Varusschlacht herauszufinden, von dem wir nur wissen, dass sie irgendwo in Norddeutschland stattgefunden hat. Um genaueres herauszufinden, kriegen sie ein GPS-Gerät und ich Karten der Orts- und Flurnamen. Wer von uns beiden verfügt dann wohl über die präziseren und geeigneteren Daten, um mögliche Orte der Schlacht zu beschreiben?

  16. #16 Jürgen Schönstein
    Mai 26, 2009

    @Geoman

    Wer von uns beiden verfügt dann wohl über die präziseren und geeigneteren Daten, um mögliche Orte der Schlacht zu beschreiben?

    Keiner. Was aber nichts mit Vagheit zu tun hat, sondern nur mit der Tatsache, dass man’s halt nicht weiß. Das ist aber ein ganz anderes Problem …

  17. #17 Jürgen Schönstein
    Mai 27, 2009

    @Geoman
    Sorry für die kurz angebundene vorherige Antwort – ich hatte den ganzen Tag über ein wenig mehr auf dem Tapet, als eine Replik auf den Vorwurf zu verfassen, ich argumentiere “wild und undiszipliniert, jedenfalls nicht ‘wissenschaftlich’ …” Aber ich will höflicher sein als Sie und daher eine ausführlichere Antwort geben: Was mich an Jörg Friedrichs Ausführungen gestört hat und nach wie vor stört ist die Behauptung, dass sich die Wissenschaft die Vagheit einfach weg definiere. Und die wird durch Wiederholung auch nicht sinnvoller.

    Wenn Ihnen das Beispiel mit den Ortsnamen bzw. GPS-Koordinaten nicht gefällt, nehmen wir doch ein viel einfacheres: Im Alltag benutzen wir zur Beschreibung von Temperaturen die Begriffe “heiß, “warm”, “kühl”, “kalt” – vage Begriffe, denn was der eine noch für warm hält, mag dem anderen schon kühl vorkommen. Und heiß kann, wenn’s ums Wetter geht, bei 35 Grad liegen – aber auch bei mehreren tausend, wenn es beispielsweise um unsere Sonne geht. Doch in der Wissenschaft gibt es das Problem halt nicht, weil sich die Temperatur in Kelvin oder Grad Celsius oder Grad Fahrenheit, in jedem Fall aber eindeutig definierbaren Werten angeben lässt. Da wird nichts “weg” definiert, sondern lediglich definiert. Und Definition ist nicht, wie das obige Posting zu unterstellen scheint, ein willkürlicher Entschluss der Wissenschaftler, der dem eigentlichen wissenschaftlichen Arbeiten irgendwie voran gestellt wird – Definition ist in aller Regel ein Resultat wissenschaftlichen Arbeitens. Und dementsprechend auch nicht willkürlich, wie Herr Friedrich annimmt.

    Was nicht heißen soll, dass man in der Wissenschaft nicht manchmal gewisse Grade von Vagheit akzeptieren kann. Nehmen wir mal das Wasser, das vor ein paar Generationen noch als eines von vier “Elementen” angesehen wurde. Heute wissen wir, dass Wasser in seiner Reinform aus zwei Elementen besteht und zudem eine große Menge verschiedener Substanzen gelöst enthalten kann. All das wäre ziemlich wurscht, wenn ich als Wirtschaftsgeograph die Kostenaspekte des Warentransports über Wasserwege untersuchen will – ob es nun härter oder weicher ist, welche Mineralien darin gelöst sind etc. kann ich dabei eigentlich vernachlässigen, so lange ich nur weiß, dass Schiffe darauf schwimmen können. Wenn ich hingegen die Karstbildung analysiere, muss ich schon viel genauer wissen, was im Wasser gelöst werden kann, bei welcher Temperatur oder unter welchen Druckverhältnissen die gelösten Stoffe wieder ausgefällt werden etc. Und wenn ich eine Standortanalyse für Heilbäder plane, muss ich bis aufs letzte berücksichtigen, welche Ionen in welcher Konzentration im Wasser nachweisbar sind.

    Ja, und wenn es darauf ankommt, wird auch die Unterscheidung zwischen Berg und Tal für den Wissenschaftler kein Problem sein – selbst wenn dem Bergwanderer eine andere Definition einfiele (Berg ist, wenn er hoch steigt, Tal ist, wenn er runter geht – wäre ein Ansatz). Nochmal: Ich sage nicht, dass es keine Vagheit in den Alltagsbegriffen gibt und dass sich Wissenschaftler manchmal dieses Alltagswortschatzes bedienen und sich dabei bemühen, diese Vagheit durch Definitionen auszufüllen. Was daran willkürlich und ignorant sein soll, kann ich jedoch auch beim x-ten Lesen des obigen Eintrags nicht nachvollziehen.

  18. #18 Jörg Friedrich
    Mai 27, 2009

    Ich vermute, dass Ihre Ablehnung meiner Formulierung vom “einfach wegdefinieren” und vom “bewusst oder unbewusst ignorieren” damit zu tun hat, dass Sie dahinter eine (Ab-)Wertung dieses Vorgehens vermuten. Das entspricht aber nicht meiner Ansicht. Ich halte das Bilden von Klassen, das Ziehen von Grenzen für einen notwendigen Teil des wissenschaftlichen Arbeitens – und das schrieb ich ja auch in einem meiner Antwort-Kommentare.

    Dies Kategorien und diese Grenzziehungen sind in der Tat willkürlich – und ein Großteil des wissenschftlichen Arbeitens besteht in der Neu-Ziehung solcher Grenzen, in der Neu-Bestimmung von Kategorien. Auch darin sehe ich nichts Verwerfliches sondern einen normalen Prozess der Optimierung von Theorien.

    Worum es mir geht ist nur, dass man sich eben dieser Vorläufigkeit, dieser Grenzziehungen immer bewusst sein muss – in der realität gibt es keine Klassen und Kategorien, da gibt es (fast) nur Vagheit, fast jede Zuordnung eines realen Objekts zu einer kategorie ist mit Unsicherheit und Einschränkungen behaftet. diese Einschränkungen sind Zweck-abhängig, wie Sie ja in Ihrem letzten Beitrag noch einmal illustriert haben.

  19. #19 Albert Wilfert
    Juni 11, 2009

    Sokrates wurde der Giftbecher aufgenötigt, weil er die Machthaber seiner Zeit mit
    ihrer Dummheit konfrontierte und sich selbst freimütig dazu bekannte, wenig zu wissen. Das Volk erschlug seine Mörder, weil sie erkannten, dass er auf der Seite der Wahrheit stand. Er wusste wenigstens, wie wenig er wusste.
    Wir können uns eine Wiederholung ersparen. Wenn wir wollen.