Im zweiten Teil der Reihe “Philosophie und Wissenschaften” geht es um die Biologie. Die Vielzahl der philosophisch interessanten Themen, die die Biologie bereithält, kann hier gar nicht annähernd dargestellt werden. Insbesondere hält die Biologie nicht nur erkenntnistheoretische, sondern auch ethische und anthropologische Herausforderungen für den Philosophen bereit. Hier möchte ich aber nur auf einige Aspekte zu sprechen kommen die besonders schön zeigen, wie Philosophen und Spezialwissenschaftler sich gegenseitig unterstützen können und wie aus dieser spannungsreichen Diskussion auch wieder für andere Wissenschaften Anregungen gewonnen werden können.

Auch die Biologen sprechen von Theorien und Gesetzen – so, wie es auch Physiker, Chemiker, Ökonomen und Literaturwissenschaftler tun. Aus der Physik ist uns dabei seit langem die Idee geläufig, dass Theorien im Kern aus mathematisch formulierten Grundaxiomen (den Gesetzen) bestehen, aus denen dann, für spezielle Bedingungen, weitere Gesetze abgeleitet werden können, schließlich können für bestimmte kontrollierbare Bedingungen Vorhersagen berechnet werden, die in Experimenten überprüft werden können.

Gesetze ohne Formeln

Betrachtet man die Theorien der Biologie, fällt auf, dass diese in ihrem Kern oft ganz ohne Mathematik auskommen. Darwins “Entstehung der Arten” enthält nicht eine einzige Formel und auch ein Gesetz im strengen Sinne eines mathematischen Axioms, aus dem andere Gesetze deduktiv abgeleitet werden würden, die dann eine experimentellen Prüfung im Labor unterzogen werden würden, sucht man darin vergeblich.

Handelt es sich vielleicht um ein historisches Problem, das in aktuellen biologischen Theorien längst behoben ist? Ist vielleicht jede biologische Theorie längst mathematisch re-formuliert worden, oder wird dies angestrebt, um die mathematische Exaktheit der Physik zu erreichen? Weit gefehlt. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch im 21. Jahrhundert werden biologische Theorien wie z.B. die Chromosomentheorie der Vererbung oder molekularbiologische Theorien im Kern ganz ohne mathematisch repräsentierte Gesetze formuliert.

Mathematik in der Biologie

Natürlich verwenden auch Biologen Mathematik. Auf der einen Seite wird Beobachtungsmaterial statistisch aufbereitet, Regelmäßigkeiten werden durch Nährungsgleichungen beschrieben. Auf der anderen Seite werden Modelle aufgestellt, um idealisiertes Verhalten einfachster biologischer Modellorganismen zu beschreiben. Die Organismen in diesen Modellen sind zumeist so reduziert, dass selbst das Pantoffeltierchen oder die berühmte Fliege Drosophila dem gegenüber komplex erscheinen.

Aber diese Gleichungen bilden nicht den Kern von Theorien. Sie sind Modelle die helfen, Teile des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes, der viel zu komplex ist um in eine mathematische Gleichung gezwängt werden zu können, zu verstehen.

Und ums Verstehen geht’s dem Biologen, viel mehr als ums Vorhersagen. In der Biologie weiß man, dass auch das Verstehen hilft, sich in der Welt handelnd zu Recht zu finden, nicht nur das Vorhersagen. Die Biologen können ihre Untersuchungsobjekte nicht beliebig in Experimentier-Laboren manipulieren, dafür gibt es ethische Einschränkungen aber auch Grenzen, die aus der nicht weiter reduzierbaren Komplexität auch des einfachsten biologischen Organismus resultieren.

Deshalb hat die Biologie neben den mathematischen noch andere gleichberechtigte Modelle, aus denen sie Erkenntnisse ableitet. Allen voran sind dabei natürlich die Modell-Organismen zu nennen. Die Biologie hat eine spezielle Methodik entwickelt, um Erkenntnisse aus Experimenten mit einfachen Organismen für das Verständnis des Verhaltens komplexerer Organismen zu verwenden. Die Biologie verwendet aber oft auch mechanische oder chemische Modelle, oft im Gedankenexperiment, um ein Verständnis für komplexe Abläufe zu bekommen.

Erweiterung des Theorie-Begriffes

Was für die Philosophie nötig wird, um die Realität der biologischen Forschung in einer Wissenschaftstheorie erfassen zu können, ist eine Erweiterung der Begriffe Theorie und Gesetz über die physikalisch geprägten Begriffe hinaus. Auch das Konzept der Verifikation und der Falsifikation muss überdacht werden. Ins Zentrum rückt dann der allgemeine Begriff des Modells, der Verfahren, Modelle zu konstruieren und der Möglichkeiten, aus Modellen Schlussfolgerungen über die Realität zu ziehen. Hier kann die Biologie Vorbildfunktion und Paradigma-Funktion haben.

Letztlich können alle Wissenschaften, auch die Physik, von diesen Überlegungen profitieren. Natürlich ist und bleibt wahr, was schon Heidegger über die Physik gesagt hat: Ihre Strenge besteht in ihrer mathematischen Exaktheit. Aber vielleicht muss sie auf dem Weg zum letztgültigen Modell nicht direkt auf die mathematische Modellierung zustreben. Das sind Fragen, deren Beantwortung sich weder die Philosophen noch die Wissenschaftler leicht machen sollten, aber die Diskussion solcher Fragen kann dem Fortschritt “auf die Sprünge” helfen.

Kommentare (12)

  1. #1 Tim Boson
    November 27, 2009

    Gut. Auch ein schönes Thema. Ab jetzt nur noch kurz, ich versprech’s
    Das Interessante an der Thematik scheint mir zu sein, dass eine so genannte Lebenswissenschaft wie die Biologie schon länger gewohnt ist, Prozesse zu beschreiben, oder zu untersuchen. Also in der der Biologie ist die Zeit etwas fiel fundamentaler Wirksames und auch in ihrer Irreversibilität stärker erlebbar. Lebensprozesse sind beim Biologen Zeitvorgänge. Ich denke, dass es auch so etwas wie eine Biologie der Mathematik geben müsste, ebenso wie eine Physik der Biologie.
    Und dann müsste es interdisziplinäre Formen-Seminare geben, die gezielt Modelle strukturell vergleichen. Beispiel: Schneckenhaus – Spiralgalaxie – oder Lissayoufiguren und Einzellerformen etc… hier ergäbe sich ein schönes Feld von Gesamtwissenschaft.

  2. #2 cygo
    November 28, 2009

    @Tim Boson:
    Was bitte hat ein Schneckenhaus mit einer Spiralgalaxie zu tun? Beides rund? Tolle Vorraussetzung für ein interdisziplinäres wissenschaftliches Seminar.
    Meiner Ansicht nach wird auch prinzipielle Vergänglichkeit der Dinge in anderen Wissenschaften präziser beschrieben als in der Biologie. Man denke da z.B. an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik und dessen Herleitung aus der statistischen Physik.
    Biologen sind übrigends nicht die einzigen die Prozesse beschreiben, siehe z.B. Modellbildung in der Physik. Dort geht es im Allgemeinen weniger darum, konkrete Zahlenwerte auszurechnen, sondern die Vorgänge zu verstehen.

  3. #3 Tim Boson
    November 28, 2009

    Hey Cygo…guter Einwurf, der Vergleich von Formen läuft auf eine Schulung der Wahrnehmung hinaus…es geht nicht darum, darüber zu streiten, was die dinge funktional miteinander zu tun haben oder nicht miteinander zu tun haben, es geht um Formen …das mit dem 2. Hauptsatz hatte ich hier an anderer Stelle schon mal diskutiert…. wo ich angesprochen habe, dass “Wärme-Verteilung” und “Mathematik betreiben” das selbe sind. Es kann nicht entschieden werden, ob die Wärme Mathematik betreibt oder ob Mathematik die Wärme berechnet. Aber das wollt ich jetzt nicht noch mal aufrollen.

  4. #4 Webbaer
    November 28, 2009

    Auch das Konzept der Verifikation und der Falsifikation muss überdacht werden. …
    Aber vielleicht muss sie [die Physik] auf dem Weg zum letztgültigen Modell nicht direkt auf die mathematische Modellierung zustreben.

    Hübsche Gedankengänge (zumindest für den Webbaeren), aber auch ein wenig gefährlich. Danke für diesen Artikel. Und natürlich: Weiter so!
    MFG, WB

  5. #5 MartinB
    November 28, 2009

    Ich glaube, auch zu diesem Artikel gäbe es eine Menge zu sagen. Ich fange mal an mit dem, was mir als ein Hauptproblem erscheint, nämlich der Satz:
    “Ums Verstehen geht’s dem Biologen, viel mehr als ums Vorhersagen”
    Wenn Sie Verstehen und Vorhersagen trennen, was genau bedeutet dann Verstehen?

    Darüberhinaus ist Vorhersagen (obwohl ich es in meinen Kommentaren zu einem anderen Post ständig hervorgehoben habe) selbst nicht der Kern einer physikalischen Theorie. Im Kern geht es um die (bei physikalischen Theorien quantitative) Beschreibung. Die Gültigkeit der Beschreibung überprüft man mit falsifizierbaren (und dann in der Physik nahezu immer quantitativen) Vorhersagen.

    Insofern sehe ich keinen fundamentalen Unterschied zwischen der logischen Struktur der Biologie und der Physik: Auch in der Biologie geht es meiner Ansicht nach zunächst ums Beschreiben mit Hilfe theoretischer Konzepte (z.B. Mutation und Selektion), aus denen dann Vorhersagen abgeleitet werden können, um zu prüfen, ob die Beschreibung stimmt (z.B. Vorhersagen über die Evolutionsgeschwindigkeit, oder Dinge wie Konvergenz und Homologie). Dabei muss sich eine Vorhersage nicht zwingend auf ein zukünftiges Ereignis beziehen, sondern kann auch eine Vorhersage über etwas existentes, aber bisher nicht beobachtetes sein (Wenn ich eine neue Vogelart entdecke, dann erwarte ich nach Evolutionstheorie fundamentale Bauplanübereinstimmungen mit existenten Vogelarten).

    Ihrer Aussage, dass die Physik *auf dem Weg zu einer neuen Theorie* nicht unbedingt mathematische Modelle braucht, würde ich zustimmen. Wie man zur neuen Theorie kommt, ist völlig egal, und jeder der selbst Physik betreibt weiß, dass das Entwerfen von hypothesen eine hochgradig unpräzise, intuitive, bildhafte Angelegenheit ist. Aber zur echten Theorie wird es (in der Physik) erst, wenn es in Formeln gegossen ist und berechnet werden kann – das ist ja genau das Problem der Stringtheorie.

  6. #6 Jörg Friedrich
    November 30, 2009

    @MartinB:
    “Verstehen” bezieht sich im Allgemeinen immer auf etwas Vorgefundenes, man sagt, dass man etwas Vorgefundenes verstanden hat wenn man die Frage beantwortet hat, wie es dazu kommen konnte.

    “Vorhersagen” aber bezieht sich auf etwas zukünftiges, und in der Physik bedeutet das immer: Etwas unter kontrollierten Bedingungen hervorgebrachtes.

  7. #7 MartinB
    November 30, 2009

    “…wenn man die Frage beantwortet hat, wie es dazu kommen konnte.”
    Naja, das scheint mir doch etwas einfach. Woher weiß ich denn, dass meine Antwort, wie es dazu kommen konnte, richtig war? Indem ich eben Vorhersagen mache. Ansonsten wäre z.B. Kreationismus auch Wissenschaft, denn er besagt, dass es zu den heutigen lebewesen kommen konnte, weil sie so geschaffen wurden. Das ist aber eben eine nicht überprüfbare und deshalb nicht wirklich tragfähige Aussage, weil sie damit nichts vorhersagen können, die Aussage hat keine weiterführende Erklärungskraft. (nein, ich will jetzt keine Kreationismus-Debatte starten, war nur das erste Beispiel, das mir einfiel.) Zu jeder Beobachtung fallen mir immer hundert Möglichkeiten ein, wie es dazu kommen konnte, aber welche ist die richtige (oder zumindest die beste)?

    Insofern finde ich Ihre Unterscheidung nach wie vor nicht treffend. Und zumindest in der Biologie (und wegen der endlichen Lichtgeschwindigkeit auch in der Astronomie) kann sich eine Vorhersage einer Theorie durchaus auf etwas Vergangenes, aber noch nicht Beobachtetes beziehen.

  8. #8 Jörg Friedrich
    November 30, 2009

    “Woher weiß ich denn, dass meine Antwort, wie es dazu kommen konnte, richtig war? Indem ich eben Vorhersagen mache.”

    Da irren Sie sich, es gibt noch andere Möglichkeiten, die Richtigkeit einer verstehenden Theorie zu prüfen: z.B. ihre innere Konsistenz, aber auch (da ähneln diese Theorien wieder den physikalischen) die Erklärung möglichst vieler Befunde mit möglichst wenigen plausiblen Grundannahmen.

    An anderer Stelle hatten Sie einmal betont, dass die Vorhersagen, die in Theorien gemacht werden, berechnet werden müssen. Den mathematischen Charakter jeder Theorie, die sich als wissenschaftlich bezeichnen will, hatten Sie ausdrücklich betont. Ich wüstse gern, wie sich das mit Ihrer hier verwendeten Bedeutung des Begriffes Vorhersage verträgt.

  9. #9 MartinB
    November 30, 2009

    Das quantitative bezog sich auf die Physik, um die ging es dort ja. Natürlich muss nicht jede Theorie quantitativ in ihren Vorhersagen sein, ich dachte, das hätte ich nachgetragen, als ich merkte, dass ich missverstanden wurde. Manche Vorhersagen (z.B. der Biologie) lassen sich auch nicht unbedingt sinnvoll quantifizieren, das ist auch völlig o.k., da bin ich völlig mit Ihnen einer Meinung. (Trotzdem würde ich nicht so weit gehen, die Evolutionstheorie generell als nicht-quantitativ zu bezeichnen.)

    Innere Konsistenz ist nett, aber der Kreationismus ist auch in sich konsistent und seine Anhänger betonen ja gerade, wie einfach die zugrundeliegende Annahme ist. Außerdem ist die Ökonomie der Annahmen zwar plausibel, aber kann ja kaum das fundamentale Entscheidungskriterium sein, denn dann würden wir ja schon voraussetzen, dass die Natur so einfach wie möglich ist.

    Für die Erstsemester hatte ich während meines Studiums mal einen text erfunden, in dem ein Physiker mit einem Schamanen diskutierte. Der Schamane hatte eine in sich völlig konsistente und einfache Theorie, warum Gegenstände nach unten fallen (in ihnen wohnen Geister, die sehr gesellig sind, und deshalb unbedingt zusammensein wollen.) Wie gesagt, in sich war die Theorie konsistent und plausibel (und der arme Physiker verzweifelte schlussendlich beim Versuch, sie zu widerlegen.) Konsistent und einfach allein reicht eben nicht aus.

    Aber vielleicht geht es besser, wenn wir es konkret fassen: Können Sie mir eine (natur)-wissenschaftlich anerkannte Theorie sagen, die keine Vorhersagen macht? Mir fällt absolut keine ein, aber wenn Sie ein Beispiel haben, lasse ich mich gern überzeugen.

  10. #10 Jörg Friedrich
    November 30, 2009

    @MartinB: Sie haben nunmehr den Begriff der Vorhersage so erweitert, dass er auch vergangene Ereignisse einbezieht, über die wir erst in Zukunft kenntnis erlangen. Wenn Sie das so machen und wenn sie zudem vor allem negative (ausschließende) Vohersagen hinzuziehen, werden Sie in der Tat kaum eine wissenschaftliche Theorie finden, die keine Vorhersagen macht. Dann werden wir vielleicht in folgendem einig:

    Die Physik macht vor allem Vorhersagen über zukünftige, im Experiment hervorzubringende Ereingnisse. Dies sind positive Vorhersagen, d.h., das Auftreten konkreter beobachtbarer Phänomene wird vorhergesagt.

    Andere Wissenschaften machen Vorhersagen über das zukünftige Feststellen bereits vergangener Ereignisse. Solche Vorhersagen sind vor allem negativ: Es wird das Auffinden bestimmter Phänomene ausgeschlossen.

    Es gibt noch andere Arten von Vorhersagen, die sich aber alle deutlich vom physikalischen Vorhersagebegriff unterscheiden. Eben darum ging es mir: Es gibt deutliche Unterschiede zwischen den Wissenschaften, und diese Unterschiede kann man z.B. daran erkennen, welche Bedeutung von “Vorhersage” (wenn dieser Begriff überhaupt verwendet wird) in einer Wissenschaft benutzt wird.

  11. #11 MartinB
    November 30, 2009

    @JörgFriedrich
    Dass die auf die Vergangenheit bezogenen Vorhersagen meist negativ sein sollen, mag ich nicht so recht einsehen – wenn ich mal wieder die Paläontologie als Beispiel nehme, dann sind doch Funde wie Ambulocetus oder Tiktaalik oder Caudipteryx eigentlich genau das, was die Theorie vorhergesagt hat.

    Und so richtig sehe ich den fundamentalen Unterschied nicht zwischen der Vorhersage, die sich auf ein vergangenes, aber unbekanntes Ereignis bezieht und einer, die ein zukünftiges vorhersagt. Was ist denn z.B., wenn ich eine Elementarteilchenreaktion vorhersage und daraufhin die am DESY in der Vergangenheit erzeugten Daten durchforste, ob ich dort Belege dafür finde? Es macht doch keinen fundamentalen Unterschied, ob die Daten schon vorhanden sind, aber noch nicht auf diese Reaktion untersucht wurden, oder ob sie erst neu erzeugt werden. Auch hier wäre die auf das Vergangene bezogene Vorhersage positiv, nicht negativ.

    Und wie ist es mit der Astrophysik und ihrem Wechselspiel mit der Elementarteilchenphysik? Alle Beobachtungen in der Astronomie beziehen sich automatisch auf die Vergangenheit, trotzdem wird die Astrophysik gern genommen, um fundamentale Theorien abzuklopfen.

    Andersherum machen die Biologen ja auch hinreichend viele Evolutionsexperimente (z.B. Lenskis 44000 E.coli-Generationen). Da finden auch Vorhersagen statt – z.B., dass die Fitness anfänglich stark steigen sollte, was sie auch tat.

    Ich stimme Ihnen insofern zu, als eine (zudem stark quantitative) Disziplin wie die Physik strengere Vorhersagen macht als die Biologie, in der ja auch der Zufall eine Rolle spielt. (Niemand hat Tiktaalik exakt so vorhergesagt.) Insofern fällt es der Biologie dann leichter, Dinge auszuschließen, als sie exakt vorherzusagen. Aber einen wirklich “deutlichen Unterschied” zwischen den Wissenschaften sehe ich eigentlich nicht, eher ein graduelles Spektrum.

  12. #12 Ingo Diedrich
    April 19, 2010

    Ich denke, die hier angesprochenen Themen sind so alt wie die Biologie selbst. Ist das Leben ein beseelter Organismus und in diesem Sinne nicht real, sondern Thema der Theologie? Oder ist der Mensch eine komplexe Maschine und kann mit den Mitteln der Physik erfasst werden? Oder ist der Kern des Lebens evtl. etwas anderes als Seele und Mechanik, nämlich so etwas wie eine Lebenskraft?
    Je nach Standpunkt ergibt sich auch eine andere Bedeutung für die an der Physik orientierten Mathematik. Aber schon Kant meinte ja, dass das Leben eben nicht mit Kausalitäten und Wirkungen beschrieben werden kann. Ich finde interessant, dass die Entstehung der Biologie mit dem funktionalistischen Denken zusammenfällt (Cuvier). Wer das Leben mathematisch beschreiben will, benötigt also eine dem Leben angemessene Mathematik.
    In meinen Augen hat im 20 Jh. Wilhelm Reich diese Perspektive am konsequentesten vorangetrieben. Anfänglich verortete er sich im Spannungsfeld von den Vitalisten und der mechanistischen Perspektive. Später entwickelte er insbesondere zur Beschreibung des Lebens eine funktionalistische Position. Mit den „Orgonometric Equations“ formulierte er eine entsprechende Mathematik.
    Darüber hinaus schreiben Sie, dass es in der Biologie mehr um das „Verstehen“ als um das „Vorhersagen“ geht. Auch dieser Aspekt weist auf die Verortung der Disziplin hin. Zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, aber auch innerhalb der Sozialwissenschaften gibt es seit langem die Auseinandersetzung zwischen verstehen (Quali) und erklären (Quanti). In den Sozialwissenschaften wird gesagt, dass das Spezifische ja sei, dass man über den „Sinn“ einen Zugang zur Handlung der anderen Person bekommen könne. So kann man Handlungen verstehen. Naturwissenschaftler können quasi von außen das Objekt allenfalls erklären und aus diesen Erklärungen Vorhersagen treffen.
    Wenn sie nun sagen, dass es in der Naturwissenschaft Biologie um das verstehen ginge, dann hört sich das für mich sehr interessant an. Wie sieht der Zugang zu den Lebewesen aus? Der Sinn wird es wohl nicht sein.
    Reich verweist in diesem Zusammenhang auch auf die Ausdrucksbewegung, die allen Lebewesen gemein ist und die wir als Gefühl interpretieren. Für mich ein sehr spannender Ansatz, der deutlich macht, warum Biologie in so einem breiten Spannungsfeld steht.

    Die TU Darmstadt hat übrigens eine sehr interessante Vorlesung zum Thema Leben aus philosophischer Perspektive ins Netz gestellt (https://www.e-learning.tu-darmstadt.de/openlearnware/philosophie/leben.de.jsp). Auf meinem ID Blog (idiedrich.wordpress.com) finden sich ebenfalls ein paar Hinweise.