Im ersten Teil dieser Serie ging es um ein Gedankenexperiment, das Einstein, Podolsky und Rosen vor 75 Jahren vorschlugen um zu zeigen, dass die junge Quantenmechanik unvollständig sein musste. Sie bezogen sich dabei auf das Konzept der Verschränkung, das Schrödinger ein paar Monate zuvor eingeführt hatte: Ein Systems, das aus zwei Teilchen besteht, die zu Beginn des Experimentes miteinander wechselwirken und danach getrennt sind, kann so beschrieben werden, dass die Eigenschaften des einen Teilchens nicht unabhängig von denen des anderen sind. Misst man den Ort des einen, weiß man auch, wo das andere ist, misst man die Geschwindigkeit des einen, kennt man auch das Tempo des zweiten. Die drei Wissenschaftler schlussfolgerten, dass mit der Unschärfe-Relation der Quantenmechanik irgendetwas nicht stimmen kann.

Schließlich ist es dem Experimentator überlassen, ob er den Ort oder die Geschwindigkeit des ersten Teilchens misst. Wenn das zweite Teilchen dadurch nicht gestört wird, müssen beide Eigenschaften für dieses nicht gemessene Teilchen schon vorher festliegen. Ansonsten müsste man annehmen, dass das Messergebnis des einen Teilchens auf mysteriöse Weise ohne Zeitverzug und ohne durch irgendeine Barriere sowie über beliebig weite Entfernungen hinweg an das andere Teilchen übertragen würde! Das nannte Einstein einmal die „spukhafte Fernwirkung”.

Post aus Kopenhagen

Es vergingen nur ein paar Monate, da antwortete Niels Bohr aus Kopenhagen. Sein Artikel war 6 Seiten lang und liest sich wie eine kleine Einführung in Quantenmechanik. Bohr erklärt noch mal, was Komplementarität von Geschwindigkeit und Ort ist, er erwähnt die Heisenberg’sche Unschärferelation und beschreibt die bekannten Standard-Experimente.

Sein Hauptargument, welches die Denkweise der Kopenhagener gut charakterisiert, steht aber schon auf der ersten Seite.

Such an argument, however, would hardly seem suited to affect the soundness of quantum-mechanical description, which is based on a coherent mathematical formalism covering automatically any procedure of measurement like that indicated. [Wie auch immer, so ein Argument scheint kaum geeignet zu sein die Robustheit der quantenmechanischen Beschreibung zu gefährden, die auf einem kohärenten mathematischen Formalismus basiert, welcher automatisch alle Messprozeduren wie der hier angezeigten abdeckt.]

Um dieses Argument richtig bewerten zu können muss man sich klar machen, dass es 1935 noch keine Experimente gab, die tatsächliche Messungen dieser Art an verschränkten Systemen erlaubten. Bohrs These bestand also einzig und allein darin, dass der mathematische Formalismus der Quantenmechanik für solche Situationen schließlich eine Lösung hat. Ob diese mathematische Lösung in irgendeiner Weise kausal erklärbar ist oder ob sie auf einer „spukhaften Fernwirkung” basieren müsste, war den Kopenhagenern 1935 bereits egal.

Aus dem Formalismus der Quantenmechanik leitete Bohr ab, dass man durch die Messung der Geschwindigkeit des einen Teilchens eben die Unsicherheit über den Ort des zweiten Teilchens erhöht, und dieser damit eben nicht bereits festgelegt sein kann. Auf die Idee, dass man ja den Ort des einen Teilchens und die Geschwindigkeit des anderen messen könnte (und damit wechselseitig doch beide Eigenschaften für beide Teilchen bestimmt hätte), kam Bohr nicht. Der mathematische Apparat hatte gezeigt, dass das nicht geht, und damit war er zufrieden.

Asterix und Obelix

Die Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik entwickelte sich in den Folgejahren zur Standard-Sicht, fast alle Physiker schlossen sich ihr an. Es war die berühmte Asterix-und-Obelix-Situation: Fast überall herrschten Heisenberg und Bohr, aber an einzelnen abgeschiedenen Plätzen gab es ein paar unzufriedene. Asterix und Obelix der Quantenmechanik, das sind David Bohm und John Bell.

Bohm ist für seine alternative Deutung der Quantenmechanik berühmt geworden, Bell hat diese weiter ausgearbeitet. Dabei war die Auseinandersetzung mit dem Gedankenexperiment der drei Querulanten Einstein, Podolsky und Rosen nicht unwesentlich.

Bohm hatte die Idee, das Gedankenexperiment umzuformulieren, und hier kommt die Polarisation wieder ins Spiel (Bohms Idee bezog sich zwar nicht auf die Polarisation von Licht sondern auf den Spin von Atomkernen, aber das Prinzip ist bei beiden gleich).

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Rufen wir uns aus dem ersten Teil dieser Serie folgendes in Erinnerung: Die Polarisation eines Teilchens kann man nicht direkt und absolut messen, man kann nur für eine bestimmte Polarisationsrichtung ein „Ja” oder ein „Nein” feststellen. Trifft ein „unbestimmt” polarisiertes Photon (Abbildung 1a) auf einen Polarisationsfilter, so wird es mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit p auf die Richtung des Filters „umgeschaltet”, d.h., es „kommt durch” (Abbildung 1b). Mit der Wahrscheinlichkeit 1-p wird es auf die dazu senkrechte Richtung umgeschaltet und wird „verschluckt”. Wenn wir eine große Menge von unbestimmt polarisierten Photonen beobachten, dann werden 50% von ihnen den Filter in Abbildung 1 passieren und 50% werden absorbiert.

Betrachten wir nun nur die Photonen, die den Filter in Abbildung 1 passiert haben und leiten diese auf einen zweiten Filter, dessen Richtung gegenüber dem ersten um 30° verdreht ist (Abbildung 2a). Wir messen, dass 75% von diesen Photonen auf die Polarisationsrichtung des zweiten Filters „umgeschaltet” werden und passieren (Abbildung 2b) und 25% auf die dazu senkrechte Richtung „umgeschaltet” werden und verschluckt werden.

Soweit so gut. Jetzt wiederholen wir das Experiment mit zwei verschränkten Photonen, von denen das eine durch den Filter 1 gejagt wird, das andere durch den Filter 2. Das Ergebnis: Immer wenn das erste Photon seinen Filter passiert (Abbildung 1) ist die Wahrscheinlichkeit, dass das zweite Photon den verdrehten Filter passiert, 75%. Und das, obwohl das zweite Photon ja nicht „wissen kann” ob das erste Photon seinen Filter passiert hat oder nicht! Es verhält sich also ganz so, als sei es selbst durch den ersten Filter geflogen!

Man stelle sich vor, man platziert genau in der Mitte zwischen Erde und Mond einen Apparat, in dem verschränkte Photonen erzeugt werden, indem z.B. bestimmte Materialien mit Laser-Licht beschossen werden, sodass sie zu fluoreszieren beginnen – dabei entstehen nämlich verschränkte Photonen gleicher (wenn auch unbestimmter) Polarisation, die in entgegengesetzter Richtung auseinander fliegen. Nach gut einer halben Sekunde trifft also das eine auf der Erde ein, wo Filter 1 steht, das andere erreicht den Mond, auf dem Filter 2 aufgebaut ist. Kommt das Photon auf der Erde durch den Filter, dann hat das verschränkte Mond-Photon eine Chance von 75%, auch durch seinen Filter zu kommen. Wenn aber der Beobachter auf der Erde seinen Filter wegstellt und die Messung beendet, dann hat auf dem Mond jedes Photon nur noch die Chance von 50%, durch den Filter zu kommen.

Signalübertragung schneller als Licht?

An dieser Stelle kommt man natürlich auf die Frage, ob es nicht möglich ist, auf diese Weise Signale schneller als Licht, ja sogar unendlich schnell zu übertragen. Stellen wir uns vor, der Beobachter auf der Erde schiebt seinen Filter im Morse-Takt in den Lichtstrahl hinein und wieder raus. Der Mond-Mann misst dann die unterschiedlichen Polarisationen und entschlüsselt so das Signal. Ist das möglich? Leider nicht, wie man sich leicht überlegen kann. Man muss sich nur vor Augen führen, was mit den Photonen auf dem Mond passiert, deren Partner auf der Erde „verschluckt” werden (Abbildung 1c). Diese werden zwar auf dem Mond auch „umgeschaltet”, aber nicht verschluckt. Ihre Chance, den Filter auf dem Mond zu passieren, beträgt 25%. Für Gesamtheit aller Photonen, die auf dem Mond gemessen werden, beträgt die Chance, Filter 2 zu passieren, also wieder 50%, ganz unabhängig davon, ob auf der Erde gemessen wird, oder nicht. Es sind nur andere Photonen, die den Filter passieren, aber das weiß man erst, wenn man die beiden Messreihen nebeneinander legt. Nachher ist man eben immer schlauer.

Bohm vermutete nun, ganz in der Tradition der drei Kopenhagen-Kritiker, dass das Verhalten der Photonen beim Aufprall auf den Filter eben doch nicht zufällig sein kann, dass es irgendeine noch unbekannte, verborgene Eigenschaft des Teilchens geben müsse, die schon vor der Trennung der beiden Partner festlegt, wie sie sich im Polarisationsfilter verhalten werden. Mit diesen noch verborgenen Eigenschaften sollte der merkwürdige Zusammenhang zwischen den Messungen erklärt werden. Und merkwürdig ist der Zusammenhang auf jeden Fall:

1. Wenn die Filter auf der Erde und dem Mond exakt gleich ausgerichtet sind, verhalten sich die verschränkten Photonen auch exakt gleich. Sind die Filter um genau 90° verdreht, verhalten sich die Photonen immer genau entgegengesetzt – wird das eine durchgelassen, dann wird das andere verschluckt.
2. Wenn die Filter gegeneinander verdreht sind, dann soll es zwischen dem Verhalten der Photonen nur einen statistischen Zusammenhang geben, so beträgt die Übereinstimmung im Verhalten bei einer Verdrehung von 30° eben 75%, bei einer Verdrehung von 60° ist die Übereinstimmung in 25% der Fälle gegeben.

Man kann sich nun verschiedene ausgeklügelte Verfahren ausdenken die das Verhalten von Photonen festlegen. Wer weiß, vielleicht sind Photonen ja komplizierte kleine Computer die beim Aufprall auf einen Polarisationsfilter nach einem verwickelten Programm eine Entscheidung treffen, in welche Richtung sie umschalten? Mit solchen mehr oder weniger verzwickten Verhaltens-Vorschriften kann man an das beschriebene Verhalten ziemlich gut herankommen. Wie sich verschränkte Photonen genau verhalten, das wusste man ja zu dieser zeit noch gar nicht ganz sicher: Messungen haben immer einen Fehlerbereich – und ob sich die Photonen eher nach Kopenhagen oder nach Bohm richten, blieb lange unentschieden.

Bells Ungleichung

Mitte der 1960er Jahre: Auftritt John Bell. John Bell ist in gewissem Sinne der tragische Held unserer Geschichte. Er war eher ein Anhänger Bohms als dass er zum Kopenhagener Lager gehörte. Trotzdem war er derjenige, der, während die Kopenhagener sich um das Paradoxon nicht kümmerten weil sie ja eine mathematische Lösung hatten, die Möglichkeit schuf, Bohm und damit auch Einstein, Podolsky und Rosen zu widerlegen. Und das tat er nicht etwa mit physikalischen Überlegungen oder Experimenten, sondern allein mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Er zeigte, dass für verknüpfte Zufallsereignisse, die nicht tatsächlich zufällig sind, eine bestimmte Ungleichung für die verknüpften Wahrscheinlichkeiten gilt: Diese Ungleichung trägt heute den Namen „Bell’sche Ungleichung”. Wenn die Ereignisse wirklich Zufällig sind, dann wird diese Ungleichung verletzt.

Natürlich gelang die Widerlegung der Skeptiker nicht ohne Experiment. Weitere anderthalb Jahrzehnte später, inzwischen war seit dem Artikel, mit dem alles begann, ein halbes Jahrhundert vergangen, zeigte Aspect experimentell, dass die quantenmechanischen Prozesse am Polarisationsfilter tatsächlich die Bell’sche Ungleichung verletzen. Es kann keine Eigenschaften geben, die schon bei der Verschränkung der Teilchen festgelegt werden und die das Verhalten jedes einzelnen Teilchens am Filter steuern. Also bleibt es bei der „spukhaften Fernwirkung”.

Nächste Woche Teil 3: War alles umsonst?