Unter der Überschrift “Diagnose: Bedingt lebensfähig” hat Michael Imhof, habilitierter Mediziner, Buchautor und chirurgischer Gutachter in Würzburg, in der FAZ vom 31.08.2010 einen Text veröffentlicht, der nun auch online verfügbar ist. Imhof beschreibt das Dilemma der modernen Medizin. Auf der einen Seite steigert der medizinische Fortschritt “die Überlebenschancen auch extrem kleiner Frühgeborener mit unter 1000 Gramm Geburtsgewicht enorm”.

Auf der anderen Seite konstatiert Imhof:

Diese eindrucksvollen Verbesserungen der Überlebenschancen werden auf der anderen Seite erkauft durch einen beträchtlichen Prozentsatz an verbleibenden körperlichen und geistigen Behinderungen. Jedes vierte Kind mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm entwickelt im Laufe der nächsten Monate und Jahre eine so genannte Zerebralparese (kindlicher Hirnschaden) und Kinder mit einem extrem niedrigen Geburtsgewicht von weniger als 1000 Gramm leiden oft an Fehlbildungen des Herz-, Lungen- und Bronchialsystems, an Hirnblutungen oder auch an speziellen Augenerkrankungen und häufig zeigen sich später verminderte kognitive Fähigkeiten sowie Lern- und Schulschwierigkeiten.

Angesichts eines solchen Lebensschicksals stellt sich, so Imhof die “hoch emotionale Sinnfrage … vor allem auch angesichts der dem Kind zugemuteten Leiden – Leiden in Gestalt der Torturen der Intensivmaschinerie, der oft zahlreichen korrigierenden operativen Eingriffe und die lebenslangen Behinderungen.”

Wer fragt das Kind?

“Wer fragt das Kind?” so fragt Michael Imhof. Gut, dass Imhof diese Frage stellt, auch wenn er sie, wie die Sinnfrage, natürlich nicht beantworten kann. Er wendet sich an dieser Stelle im Text einem anderen Thema zu, er kommt zurück auf den Tod der drei Frühgeborenen in Mainz, der der Anlass seines Textes ist. Denn: ” In der immer komplexer werdenden modernen Medizin mit ihren zahlreichen Schnittstellen können schon kleine Unachtsamkeiten und Informationsdefizite verheerende Auswirkungen zeigen.”

Die weiteren Ausführungen Imhofs zu ökonomischen Zwängen im Krankenhaus, zu Konsequenzen aus Zeitdruck und Sparzwang sind richtig und wichtig, ich möchte aber bei der oben formulierten Frage bleiben, weil ich meine, dass eine Sinnfrage weder politisch noch ökonomisch beantwortet werden kann.

Die Frage nach dem Sinn

Eine solche Frage kann wahrscheinlich gar nicht beantwortet werden, aber sie muss gestellt und bedacht werden. “Wer fragt das Kind?” Die Antwort darauf scheint einfach: Niemand. Die Frage drängt uns jedoch den Vergleich mit anderen Lebenssituationen auf, in denen das Leiden so groß wird, dass der leidende Mensch und seine Mitmenschen sich die Sinnfrage stellen: Die Diskussion, ob und in welchem Umfang der Einzelne am Ende seines Lebens selbst bestimmen können soll, ob sein Leiden beendet wird, ist im vollen Gange. Hier setzen wir voraus, dass der Betroffene selbst eine Entscheidung treffen kann, dass er abwägen kann, sich beraten lassen kann, und dann zu einem Entschluss kommt, der für andere, für seine Nächsten genauso wie für die, die sein Leben verlängern können, akzeptabel ist.

Für ein neugeborenes Kind ist diese Entscheidung nicht möglich, und andere sind nicht befugt, über sein Leben zu entscheiden. Den Eltern ist eine solche Entscheidung nicht zuzumuten, zumal wir längst akzeptiert haben, dass Entscheidungen auf Argumenten zu beruhen haben, auf Fakten und stichhaltigen Prognosen: Und diese Argumente stehen am Beginn des Lebens eines Frühgeborenen niemandem zur Verfügung.
Wenn ein Mensch zu leben begonnen hat, dann muss dieses Leben unter Aufbietung aller Kräfte, die menschenmöglich sind, erhalten werden. Darüber besteht ganz sicher Konsens – wir können nicht anders als diesem Imperativ zu gehorchen. Die Frage ist, ob diese Kräfte nicht zum Teil auf einer Täuschung basieren: Sie erhalten ein Leben, ja, aber was für ein Leben ist das?

Die Kräfte verstärken

Es scheint nur eine mögliche Antwort auf die Sinnfrage zu geben: Wir müssen unsere Kräfte eben verstärken. Wir haben – so scheint es – keine andere Wahl als den Weg des Fortschritts weiter zu gehen. Ob uns das je aus dem Dilemma herausführt, das Imhof bezeichnet, ist ungewiss.

Allerdings haben wir auf diesem Weg doch die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Worauf sollen wir uns konzentrieren? Sollen wir die “Entgrenzung” von der Imhof spricht, die Fähigkeit, Frühgeborene mit immer geringerem Geburtsgewicht, aus immer früheren Schwangerschaftswochen am Leben zu halten, weiter hinaustreiben. Oder sollen wir uns besser darauf konzentrieren, die Lebensqualität der Kinder zu erhöhen, über den Tag hinaus, an dem sie von den Schläuchen der Intensivstationen getrennt werden? Diese Wahl immerhin haben wir.

Quantität oder Qualität

Lebensqualität lässt sich nicht in Kennzahlen messen. Da lassen sich keine Erfolge feiern, wie bei Rekorden, die in messbaren Zahlen Grenzen immer weiter hinausschieben. Wie sehr jemand leidet, lässt sich nicht beziffern. Deshalb muss eine Entscheidung, die Kräfte des Fortschritts umzuleiten, mit einer Veränderung des Wertesystems einhergehen: Ein Wert ist nichts, was man an einem Messgerät ablesen kann, was man in Tabellen oder Diagramme eintragen kann. Ein Wert ist etwas, für den das Leben, wie es ist, sich lohnt.

Kommentare (27)

  1. #1 Keoman
    September 1, 2010

    Die Formulierung “Wer fragt das Kind?” ist eine hochexplosive und hochemotionale Frage, zumindest empfinde ich das so. Es wäre ja schon geholfen, wenn in der Intensiv-Apparatemedizin, über Zeit oder ein Ort dafür vorgesehen wäre, um diese Frage zu stellen.

  2. #2 kommentarabo
    September 1, 2010

  3. #3 miesepeter3
    September 1, 2010

    Die moderne Medizin kann schon fast “Wunder” vollbringen, um Leben zu retten und/oder zu erhalten. Die Fragen “darf sie das?”, “soll sie das?” oder gar “muß sie das?”
    ist nicht von ihr zu beantworten, sondern von der Gesellschaft, z.B. von der Politik.
    Das Problem der Lebenserhaltung um (fast) jeden Preis ist keines der Moderne. Auch schon im Mittelalter gab es die Frage, wen man retten sollte bei einer schweren Geburt: das Kind oder die Mutter? Die Kirche hat für alle entschieden: besteht auch nur die leiseste Hoffnung, dass das Kind wenigstens so lange am Leben gehalten werden kann, bis eine (Not)Taufe durchgeführt werden kann, dann m u s s das Kind gerettet werden. So entgeht Gott keine Seele. Die Mutter war ja schon getauft und ihre Seele war nicht der Gefahr ausgesetzt, verloren zu gehen. Eine sehr menschliche Entscheidung war dies gewiss nicht und es ist noch nicht allzulange her, dass die Kirche diesen Einfluß auf solche Entscheidungen verloren hat.
    In unserem Kulturkreis wird das Individuum und seine Belange besonders hochgehalten. In z.B. asiatischen Kulturen steht mehr die Gruppe z.B. die Familie, der Clan oder die Volksgemeinschaft im Mittelpunkt des Interesses. Die Frage nach Leben erhalten um jeden Preis, auch dem der schweren Behinderung und damit der Belastung für die Allgemeinheit hat nicht die gleiche Wichtigkeit, wie bei uns.
    Bei uns spielen mehrere Faktoren mit in die Entscheidungen herein: die Angst der Eltern, als Rabeneltern zu gelten, wenn sie das Nichtleiden des Kindes in den Vordergrund stellen, die Angst vor Bestrafung, wenn nicht alle Möglickeiten der Lebensehaltung genutzt werden. Auch in seltenen Fällen der wird dem übersteigerten Wunsch nach einem Kind mehr nachgegeben, als der Einsicht, dass dieses Leben für das Kind möglicherweise nicht ganz so erfreulich ist, wie der erfüllte Kinderwunsch der Eltern. Und dann die gemeine Frage, ab wann ist das Leben eines Menschen nicht mehr lebenswert, ab welchem Grad der Behinderung bzw. Krankheit? Wer soll/kann das entscheiden? Ich gestehe, dass mir eine solche Entscheidung nicht nur unangenehm wäre, sondern mich auch überforderte,
    sowohl bei einem eigenen Kind als auch für alle Kinder.
    Diese Frage allein der Medizin aufzubürden wäre ausgesprochen unfair.

  4. #4 Keoman
    September 1, 2010

    “Diese Frage allein der Medizin aufzubürden wäre ausgesprochen unfair.”

    Die Apparatemedizin hat vorrangig Interesse an ihren Apparaten, und ist in der Regel wenig daran interessiert, sich auch noch die Meinung der Angehörigen aufzubürden. Darüber gibt es persönliche Berichte, die einen erschauern lassen.

  5. #5 Thomas J
    September 1, 2010

    @JF

    Verständnisfrage:

    “Sollen wir die “Entgrenzung” von der Imhof spricht, die Fähigkeit, Frühgeborene mit immer geringerem Geburtsgewicht, aus immer früheren Schwangerschaftswochen am Leben zu halten, weiter hinaustreiben. Oder sollen wir uns besser darauf konzentrieren, die Lebensqualität der Kinder zu erhöhen, über den Tag hinaus, an dem sie von den Schläuchen der Intensivstationen getrennt werden?”

    Wieso “oder”? Sollten wir nicht beides tun?

    Und noch eine Frage zu Ihrem Schlussabschnitt:
    Welche Werte sollen sich ändern? Gibts es Werte, denen Sie skeptisch gegenüberstehen?

  6. #6 roel
    September 1, 2010

    “Diese eindrucksvollen Verbesserungen der Überlebenschancen werden auf der anderen Seite erkauft durch einen beträchtlichen Prozentsatz an verbleibenden körperlichen und geistigen Behinderungen. Jedes vierte Kind mit einem Geburtsgewicht unter 1500 Gramm entwickelt im Laufe der nächsten Monate und Jahre eine so genannte Zerebralparese (kindlicher Hirnschaden)”

    Das heißt: 75% der Frühgeborenen unter 1500g sind körperlich und geistig gesund. Es tut mir Leid um die verbleibenden 25%, aber ab wann kann man absehen, ob das Kind gesund oder behindert sein wird? Natürlich gilt es die 25% zu reduzieren, und natürlich steigen die Möglichkeiten immer früher Frühgeborene zu retten, was dieser Reduzierung erstmal entgegenwirkt.

  7. #7 Jörg Friedrich
    September 1, 2010

    @Keo-man, miesepeter3:
    Der Ort, diese Frage zu stellen, ist sicher nicht die Intensivstation, also der medizinische Betrieb selbst, und auch nicht “die Politik”. Der Ort, an dem diese Frage zu diskutieren ist, ist die Öffentlichkeit, denn die Politik kümmert sich nur um die Fragen, die die Öffentlichkeit ihr aufdrängt. Dabei ist für mich “Öffentlichkeit” nicht “Talkshow” und “Feuilleton” sondern die Diskussion der Bürger. Als Bürger müssen wir solche Fragen erst einmal auszusprechen lernen, vielleicht auch in einer Wortwahl, die uns zunächst selbst erschreckt.

    @Thomas J: “Beides tun” ist immer gut, hört sich immer gut an. Aber die Ressourcen einer Gesellschaft sind begrenzt, deshalb muss sie priorisieren. Ich bin momentan der Meinung, dass wir an vielen Stellen umzuriorisieren haben, weg vom Erreichen neuer Bestmarken, hin zu den Problemen, die wir mit Zahlen nicht erfassen können, die mit Freude, Leid, Angst zu tun haben.

    @roel: Ich verstehe das Zitat nicht so, dass alle, die keine Zerebralparese haben, gesund sind. Aber so lange aus den 25% nicht 0,25% geworden sind, gibt es m.E. kein Grund, die “Entgrenzung” Richtung noch früherer Schwangerschaftswochen und noch geringerer Geburtsgewichte voranzutreiben.

  8. #8 merdeister
    September 1, 2010

    @Keoman
    aus eigener Erfahrung kann ich nur vermuten, dass Sie von Intensivstationen für Erwachsene sprechen. Auf neonatologischen Intensivstationen weht ein anderer Wind, weil die Perspektive ein ganz andere ist.

  9. #9 Keoman
    September 1, 2010

    @miesepeter3

    Stimmt! Bin mir aber nicht sicher, ob das substanziell viel ändert. Die zweifellos vorhandenen, wenn auch derzeit engen Spielräume werden fast immer zu gunsten der Apparatemedizin ausgeschöpft. Damit ist zwar nicht der Betroffene aber der Arzt auf der juristisch und das Krankenhaus auf der finanziell sicheren Seite. Von moralischen Aufständen hört man in der Regel nur, wenn’s um die Kürzung des Budget geht.

  10. #10 Keoman
    September 1, 2010

    Nicht Miesepeter3 sondern merdeister war gemeint.

    Smartphone…

  11. #11 merdeister
    September 1, 2010

    @Keoman
    Miesepeter bin ich auch manchmal.
    Als Arzt ist man sowieso nie auf der juristisch sicheren Seite. Das Krankenhaus ist an einer schnellen Behandlung eher interessiert als an langen Liegezeiten, die lohnen sich nicht mehr.
    Frühgeborene werden so früh wie möglich von der maschinellen Beatmung genommen, weil das Outcome besser ist. Gleiches gilt für intravenöse Ernährung. Und dann sind, mal abgesehen vom Inkubator nicht mehr viele Geräte vorhanden.
    In Entscheidungen werden Eltern mit einbezogen, damit Ärzte auf der sichereren Seite sind

  12. #12 buch
    September 1, 2010

    @JF
    Gratuliere, zum ersten Mal löst einer ihrer Artikel bei mir kein Kopfschütteln oder Verwunderung aus,
    nein, diesmal kommt mir die Galle hoch!
    Vielleicht weil ich mich mit ehemals 1,19 kg (GJ 1983) diesmal angesprochen fühle.
    Gehen wir mal den hier weiterverbreiteten Unfug der Reihe nach durch:
    Wenn ich sie bezüglich der drei in Mainz verstorbenen Frühchen hier richtig verstehe, sind sie der Meinung, da nicht 100% Garantiert werden kann dass ein Frühchen die Behandlung (Brutkasten, Infusionen, etc.) überlebt, es humaner wäre sie alle nicht zu Behandeln und somit sie alle zu töten?
    Da braucht man ja selber einen Hirnschaden um diese Logik nachvollziehen zu können!!
    Unterlassen einer zur Verfügung stehender medizinischen Behandlung mit daraus resultierender Todesfolge ist Mord, das kann man drehen und wenden wie man will!

    Und was zum Kuckuck wollen sie uns mit 25% der Frühchen unter 1500 Gramm haben einen Hirnschaden sagen?
    Wieder, das es humaner wäre alle verrecken zu lassen, da ja immerhin die 25% Chance pro Kind besteht, dass es später einen Hirnschaden haben wird?

    Oder zB. Augenerkrankungen, mein Augenarzt hat mich bei der ersten Netzhautuntersuchung; nachdem er einen Blick auf diese gemacht hat, gefragt, ob ich eine Frühgeburt war.
    Und raten sie mal, wenn ich mich entscheiden müsste, zwischen meinen 10 Dioptrien links und rechts oder 5 Minuten nach der Geburt gestorben zu sein,
    wie würde ich mich wohl entscheiden? Hmm?
    Was würden wohl 99,99% der auf medizinischen Behandlung angewiesenen Frühgeburten im Erwachsenenalter sagen?
    Ach, eigentlich wär ich lieber tot, wird imho ziemlich selten die Antwort sein.

    Wo hört bei ihnen diese Geisteshaltung auf?
    Normalerweise mag ich Nazivergleiche ja überhaupt nicht, aber es würde mich nicht Gerade vom Hocker hauen, wenn sie die Verbrechen an den körperlich und/oder geistig Behinderten für sie gar nicht so schlimm finden würden,
    denn da war es ja keine 25, sondern eine 100% Chance das der Betroffene nicht “Lebenswert”(einer der Unwörter des Jahrtausends) war.

    Falls ich sie nicht gerade phänomenal missverstehe, ist das der beiweitem dümmste Artikel von Ihnen, und damit wohl der unangefochtene Spitzenreiter der bislang erschienen dämlichen Artikel auf den Scienceblogs.
    Impfgegnerartikel (Ehgartner, nicht Flo!) miteingeschlossen!

    Und bevor sie jetzt losheulen, das hab ich ja alles gar nicht gesagt,
    dann verraten sie mir bitte in Klartext, was sie mit diesem Artikel sagen wollten!
    Ich habe dann wohl Lern und Verstehschwierigkeiten mit ihren hochgeistigen Artikeln!
    Ganz sicher nicht mfg
    buch

  13. #13 Webbaer
    September 2, 2010

    Schon erschütternd der Befund, zugetragen von Michael Imhof.
    Wenn 25% der Kinder Gehirnschäden davontragen und ein weiterer Teil massive Organschäden und kognitive Beeinträchtigungen, dann hat man sich bereits in einen ethisch sehr fragwürdigen Bereich vorgetastet,
    Die o.g. Werte werden zukünftig möglicherweise noch einmal deutlich schlechter.

    Normalerweise mag ich Nazivergleiche ja überhaupt nicht, aber es würde mich nicht Gerade vom Hocker hauen, wenn sie die Verbrechen an den körperlich und/oder geistig Behinderten für sie gar nicht so schlimm finden würden,…

    Erbärmliche Kommentare wie diese sollen wohl eine ethische Erörterung verhindern. Schämen Sie sich und lassen Ihre Projektionen besser zu Hause.

    MFG
    Wb

  14. #14 winihuber
    September 2, 2010

    Die Gedanken über “Leiden und Sinn” gehören für mich zu den wesentlichen Fragen des Lebens.

    Der Kommentar von @buch zeigt sehr deutlich dass man an die Antwort auf diese Frage letzlich schuldig bleibt wenn man als einzige Argumentation Zahlenmaterial hätte.

    Der springende Punkt ist doch der: Die Frage nach Leiden und Sinn stellt sich für jeden Menschen! Soweit ich weiss waren die Werte bei meiner Geburt relativ normal, und ich wurde nach ca 9. Monaten geboren. Im Gegensatz zu “buch” hatte ich also ideale Vorrausssetzungen.

    Ob ich in mein Leben dann mit weniger Leid konfrontiert war ist eine andere Frage. (sie lässt sich hier nicht beantworten)

    Leben gilt es zu bewahren und zu schützen. Ich denke, dass muss der Grundsatz sein, der vor allen anderen Überlegungen kommen sollte. Dass die Wissenschaft solche Überlegungen anstellt ist verständlich, aber sie sind ohne eine ethische Auseinandersetzung – die aber auch die Medizin unbedingt führen muss – wertlos.

    Dem was Sie im ersten Teil des Absatzes “Kräfte verstärken” schreiben, aber auch dem unter “Quantität oder Qualität” kann ich zur nur zustimmen.

    Bei Ihrem letzten Satz “Ein Wert ist etwas, für den das Leben, wie es ist, sich lohnt.” muss ich nachfragen: Woher wissen wir das denn vorher?
    Selbst IM Leben wissen wir es nur bedingt.

    Ich denke, das Leben ist ein Wert an sich. Oder besser: der Wert schlechthin!

  15. #15 Keoman
    September 2, 2010

    @ miesepeter3

    Wenn ich Ihre Kommentare so lese, dann scheint ja in Sachen “Leiden und Sinn” in Krankenhäusern alles zum Besten stehen und eine Diskussion darüber ziemlich überflüssig.

    Leider widersprcht dies einer WDR-Sendung, die ich vor einiger Zeit hörte. Die verzweifelten Schilderungen einer Angehörigen eines, ich meine Wachkomapatienten, die berichtete, wie sie in Kommuniktion mit dem Krankenhaus gegen die Wand gelaufen ist, haben mich dermaßen betroffen und wüten gemacht, dass ich den Sender gewechselt habe.

    Einer in der Runde anwesenden Experten hat so ähnlich abwiegelnd wie Sie reagiert, kein unrecht erkennend.

  16. #16 miesepeter3
    September 3, 2010

    @Keoman

    Ich habe erhebliche Schwierigkeiten nachzuvollziehen , was Ihr Kommentar mit dem Thema Frühgeburten zu tun hat und wo ich behauptet haben soll, in den Krankenhäusern stehe alles zum Besten.
    Aber um auf Ihren Themenwechsel einzugehen, kann ich aus eigener Erfahrung feststellen, dass in den meisten Krankenhäusern leider nicht alles zum Besten steht.
    In meiner schönen Heimatstadt haben wir sogar ein Universitätsklinikum. Auf der Station für frisch Operierte stehen gerade mal zwei Pfleger/innen für rund 40 Patienten zur Verfügung. Wenn einer mal krank ist, muß hektisch ein Ersatz gesucht werden. Hektisch, weil es sehr schwer ist, eine Vertretung bei der miesen Bezahlung zu finden und weil Eile geboten ist. Das Personal ist dauerüberlastet, Ich wundere mich, warum da überhupt noch jemand arbeitet. Bei solchem Dauerstress des Personals kann man als Patient und auch als Besucher immer wieder eklatante Fehler der Pfleger/innen beobachten. Und wenn man bedenkt, dass das nur die Spitze des Eisbergs ist, kann man nur beten, nie auf einer solchen Station Patient sein zu müssen. Der gleiche Dauerstress gilt auch für die Ärzte. Es wundert mich immer wieder aufs neue, dass denen da nicht mehr Fehlleistungen unterlaufen. Selbst wenn man den Medizinern 50 % dieser Fehler anrechnen will, so bleiben immer noch genug Fehler übrig, die auf den Sparzwängen, verursacht durch die schlechte Bezahlung durch die Krankenkassen und den Bemühungen der kaufmännischen Verwaltung der Klinik, diese aufzufangen, beruhen. Übrigens, bei dem zweiten Krankenhaus, ein Privatunternehmen, sind die Umstände noch schlimmer.
    Insofern gebe ich Ihnen Recht, diese Zustände sind einer Kulturnation unwürdig.
    Aber auch hier wäre es unfair, ausschließlich der Medizin die Schuld zu geben.

  17. #17 Thomas J
    September 3, 2010

    @JF

    “Ich bin momentan der Meinung, dass wir an vielen Stellen umzuriorisieren haben, weg vom Erreichen neuer Bestmarken, hin zu den Problemen, die wir mit Zahlen nicht erfassen können, die mit Freude, Leid, Angst zu tun haben.”

    Ich denke, dass das ein naiver Traum ist. Der Trend zum noch früheren lebensfähige Frühchen wird anhalten. Wer weiss, vielleicht wird die Schwangerschaft sowieso einmal komplett “outgesourced”?
    Wäre das schlecht?

    Mir ist es viel wichtiger, dass Leiden perspektivabhängig ist.
    Im Fall einer leichten Hirnschädigung, Lernschwäche, was auch immer:
    Wenn alle Menschen diesen Schaden hätten, würden sie auch leiden?
    Oder ist es nicht viel mehr an uns, den in irgendeiner Form benachteiligter Menschen ein Gefühl einer Gleichwertigkeit zu vermitteln?

  18. #18 Jörg Friedrich
    September 3, 2010

    @buch: Ich freue mich für Sie, dass Ihre Geschichte so gut verlaufen ist. Allerdings verstehe ich nicht, warum uns diese erfreuliche Tatsache verbieten sollte, über das Leid anderer Menschen, denen es nicht so gut ergeht wie Ihnen, nachzudenken. Wenn Sie meinen Text zuende gelesen haben, werden Sie auch diese Sätze nicht übersehen haben: “Wenn ein Mensch zu leben begonnen hat, dann muss dieses Leben unter Aufbietung aller Kräfte, die menschenmöglich sind, erhalten werden. Darüber besteht ganz sicher Konsens – wir können nicht anders als diesem Imperativ zu gehorchen.”

    Sie schreiben: “Normalerweise mag ich Nazivergleiche ja überhaupt nicht” – der Rest Ihres Satzes widerlegt Sie allerdings. Aber das müssen Sie mit sich selbst ausmachen.

    Sie missverstehen weder mich noch meinen Text – Sie verstehen, was Sie lesen, auf Ihre Weise. Warum sollte ich darüber “heulen”? Dann müsste ich den ganzen Tag heulen, weil die Tatsache, dass Menschen nicht die Texte, die sie lesen, und die Worte, die sie hören, verstehen sondern immer nur das, was sie herauslesen und heraushören, alltäglich ist.

  19. #19 Jörg Friedrich
    September 3, 2010

    @Thomas J, winihuber: Sie sprechen einen ganz wichtigen Punkt an, der mir beim Schreiben ebenfalls durch den Kopf ging. Ich wollte meinen Text aber mit diesem Aspekt des komplexen Themas nicht überfrachten, deshalb steht da nur der (etwas kryptische) Satz am Schluss.

    Das Leben wie es ist, muss sich lohnen. “Sich lohnen” ist da natürlich eine etwas unpassende Formulierung, weil sie eigentlich in das ökonomische Denken gehört. Ich habe leider keine besseren Worte gefunden, aber ich glaube, ich meine genau das, was Thomas J schreibt: “Oder ist es nicht viel mehr an uns, den in irgendeiner Form benachteiligter Menschen ein Gefühl einer Gleichwertigkeit zu vermitteln?”

    Eigentlich ist selbst diese Formulierung nicht ganz zufriedenstellend, weil sie eine Asymmetrie zwischen “uns” und den “benachteiligten Menschen” bezeichnet, die schon problematisch ist. Wäre es auch denkbar, dass “die benachteiligten” “uns” das Gefühl der Gleichwertigkeit vermitteln? Erst dann wäre die Symmetrie hergestellt.

    Ich habe zu diesen Aspekten, wie Sie merken, selbst nur Fragen und keine Antworten. Außerdem bin ich kein Träumer, und so weiß ich, dass diese Symmetrie – wenn überhaupt – ein Ideal ist.

    Es gibt ein Buch von Michel Foucault Wahnsinn und Gesellschaft. Er beschreibt darin die “Geschichte des Wahnsinns im Zeitalter der Vernunft” – wie der geistig “Benachteiligte” im Laufe der Neuzeit aus dem Alltag verdrängt und in Heilanstalten ausgegrenzt wurde – und “wir” damit die Fähigkeit verloren haben, mit diesen umzugehen.

  20. #20 Thomas J
    September 3, 2010

    @JF

    Die Asymmetrie in meiner Formulierung kommt aus einer Normvorstellung heraus, aber Sie haben natürlich recht. Gut daran zu denken.

  21. #21 Webbaer
    September 3, 2010

    Wir haben mittlerweile wohl Frühgeburten der 22.Woche, die überleben – zum Vergleich: in D ist es unter bestimmten Bedingungen nicht strafbar, §218a(4), nach 22 Wochen “abzutreiben”.

    Ethisch ein sehr schwieriges Thema, dem Blogautoren an dieser Stelle ein kleines Lob, dass er auch dahin geht, wo es weh tut.

    Das Problem wird sich ganz vermutlich noch verschärfen und uns politisch und medial begleiten, aktuell gerade so: https://www.spiegel.de/panorama/0,1518,715193,00.html

    MFg
    Wb

  22. #22 Lisa
    September 3, 2010

    @Webbaer
    Ethisch schaffen wir das nur, wenn wir die Elternliebe wieder auflösen – sie ist ja nicht angeboren. Dann können wir ?hoffen?, bald keine Kinder mehr austragen zu müssen. Dann können wir uns aussuchen, in welchem Stadium wir Kinder aus der Produktion holen. Vielleicht erst mit 3, wenn sie sicher sauber sind? Oder wenn sie aus dem Haus gehen und später nur mal mit Enkeln vorbei kommen? Am Schnittpunkt Abbruch und Frühgeburt in der 22.Woche scheint das der Trend zu sein.

    Wer denkt eigentlich – auch hier im Blog – an die betroffenen Eltern, deren Leben ggf. zerstört wird, wenn ein Frühchen künstlich am Leben gehalten wird? Auch deshalb werden nicht alle Kinder gezeugt, die gezeugt werden könnten. Es gilt heute als unmoralisch, solche Frühchen abzulehnen. Treibt die Gesellschaft die Grenzen immer weiter, muss sie auch Verantwortung übernehmen.

  23. #23 Webbaer
    September 3, 2010

    @Lisa

    Ethisch schaffen wir das nur, wenn wir die Elternliebe wieder auflösen – sie ist ja nicht angeboren.

    Die Liebe zum eigenen Kind gilt als zivilisatorische Errungenschaft, die in den verschiedenen Kulturkreisen sehr unterschiedlich ausgeprägt ist, fürwahr.
    Der zweite Satz Ihres Kommentars scheint zynisch, aber nicht so realitätsfern wie er scheint. Es gibt hierzu bereits einige Überlegungen in bestimmten Kreisen.
    Der erste Satz, Absatz 2, Ihres Kommentars trifft einen wichtigen Punkt.
    Es gibt einige ungünstige gesellschaftliche Entwicklungen, die nur durch das Primat der Politik über die Wissenschaft zu regeln sind.

    Merkwürdigerweise werden solche Fragen kaum öffentlich debattiert [1], gell?

    MFG
    Wb

    [1] im Zeitalter der Eisbärenbilder und der “Infantilisierung der Gesellschaft”

  24. #24 Lisa
    September 3, 2010

    @webbaer
    Vielleicht ist Elternliebe auch nur eine Errungenschaft auf Zeit? 200Jahre, wenn überhaupt – nicht einmal ein Wimpernschlag in der Geschichte. Dazu die jüngste Evolutionsforschung zum Thema Sozialisation: Widerlegung der „Theorie der Verwandtenselektion“ und der „Großmutter-Theorie“ von Hamilton.
    Denkt man meinen ersten Absatz im vorigen Post zuende, dann gibt es zukünftig keinen Grund mehr, individuelle Beziehungen zu ‘noch nicht fertigen Menschen’ aufzubauen.
    Und: Ich hätte besser schreiben sollen: Schnittstelle zwischen Retortenbaby und Frühchen.

  25. #25 Jörg Friedrich
    September 3, 2010

    @Lisa: Ich teile Ihre Einschätzung dass die medizinische, aber auch die sonstige gesellschaftliche Entwicklung auf ein Szenario hinausläuft, in dem Kinder zumindest in der westlichen Welt eher produziert als gezeugt und geboren werden. Das hat – für die gesundheit von Mutter und Kind – sicherlich viele Vorteile. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass die Bindung zwischen Eltern und Kindern dann eine ganz andere ist als wir das heute erleben. Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob ich so eine Entwicklung begrüßen oder fürchten soll.

  26. #26 Webbaer
    September 3, 2010

    …eher produziert als gezeugt und geboren werden. Das hat – für die gesundheit von Mutter und Kind – sicherlich viele Vorteile.

    Eben nicht, jedenfalls nicht für das Kind, wie es scheint.
    Es geht hier auch weniger oder gar nicht um die Bindung von Elter und Kind, sondern um das Ergebnis. Dieses macht Angst.
    Ist ein wenig so wie mit den neuen Krankheiten, die zwar nicht therapiert werden können, persistent bleiben, aber gesellschaftsverändernd wirken werden, ein wenig Phantasie vorausgesetzt, das kann übel enden…

    MFG
    Wb

  27. #27 a.friedrich
    September 5, 2010

    Eigentlich geht es gerade bei den extremen Frühgeburten darum, ob die wissenschaftliche Medizin bereit ist ihren Kolonialkrieg gegen die Natur zu beenden und deren Entscheidung zu akzeptieren, in einem Stadium wo das Leiden sicher noch sehr gering ist, verglichen mir dem was Menschen erwartet, die, kaum lebensfähig in die Welt gepresst werden ohne das nötige Rüstzeug. Denn nach diesem “sensationellen” Erfolg, ein Kind unter 1000 gramm noch durchzubringen, steht meist die Aussicht auf ein Leben voller Leiden und Krankheiten und einem frühen Tod. Das diese Entscheidung im Einzelfall schwierig ist, steht ausser Frage.