Da redete Josua mit dem HERRN des Tages, da der HERR die Amoriter dahingab vor den Kindern Israel, und sprach vor dem gegenwärtigen Israel: Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon! Da stand die Sonne und der Mond still, bis daß sich das Volk an ihren Feinden rächte. Ist dies nicht geschrieben im Buch des Frommen? Also stand die Sonne mitten am Himmel und verzog unterzugehen beinahe einen ganzen Tag.

Kepler erläutert nun ausführlich, dass man die Bibel in dieser Hinsicht nicht wörtlich nehmen sollte:

Jene Leute mögen aber folgendes erwägen: Da wir mit dem Gesichtssinn die meisten und wichtigsten Erfahrungen in uns aufnehmen, ist es für uns nicht möglich, unsere Redeweise von diesem Gesichtssinn abzuziehen. So gibt es täglich viele Vorkommnisse, wo wir uns unserem Gesichtssinn folgend ausdrücken, wenn wir auch ganz gut wissen, dass sich die Sache anders verhält. Ein Beispiel hierfür bietet jener Vers des VERGIL [Aeneis III,72]: “Fahren vom Hafen wir weg, so entweichen Länder und Städte”.

Kepler bringt weitere Beispiele, für derartige Formulierungen:

So sagen auch jetzt noch die Anhänger des PTOLEMAIOS, die Planeten stehen still, wenn sei einige Tage nacheinander bei denselben Fixtsternen zu verweilen scheinen, und doch sind sie der Ansicht, daß sie sich zu diesen Zeiten in Wirklichkeit geradlinig auf die Erde zu oder von ihr weg bewegen.

Und er überträgt diese Argumentation auf die Interpretation der Bibel:

Ist es daher verwunderlich, wenn die Schrift auch den menschlichen Sinnen entsprechend redet, wenn der wirkliche Sachverhalt mit oder ohne Wissen der Menschen den Sinnen widerspricht?”

Als Beispiel dafür bringt er den 19. Psalm, in dem beschrieben wird, wie die Sonne aus einem Zelt am Horizont hervortritt “wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held zu laufen den Weg”. Hier sei auch jedem klar, dass es sich um eine poetische Anspielung handle und keine Beschreibung der Wirklichkeit, so Kepler.

Kepler erklärt auch, warum der Gedanke, die Erde stehe still und die Sonne bewege sich, so verlockend sei:

Uns kommt nämlich die Sonne klein, die Erde dagegen groß vor. Auch wird die Bewegung der Sonne wegen ihrer scheinbaren Langsamkeit nicht direkt wahrgenommen, sondern nur durch Überlegung, insofern sich nach einiger Zeit ihr Abstand vor den Bergen ändert. Unmöglich kann sich daher die Vernunft, ohne zuvor belehrt zu worden sein, etwas anderes vorstellen, als daß die Erde mit dem daraufstehenden Himmelsgewölbe gleichsam ein großes, unbewegliches Haus ist, in dem die Sonne, von Aussehen so klein wie ein in der Luft herumfliegender Vogel von der einen Seite nach der anderen eilt. Diese Vorstellung aller Menschen gab Anlaß zur ersten Zeile in der Heiligen Schrift.

Schon vor 400 Jahren, als die moderne Wissenschaft gerade ihren Anfang nahm, vertrat Kepler also die Ansicht, dass man nicht einfach das für wahr halten durfte, was sich vernünftig anhört. Unsere Sinne können uns täuschen. Das gilt heute noch viel mehr, wo wir uns mit den absolut nicht-intuitiven Konsequenzen der Relativitäts- und Quantentheorie herumschlagen müssen.

Schließlich bringt Kepler noch ein hervorragendes Beispiel für die Unsinnigkeit einer wörtlichen Interpretation der Bibel:

Wenn jemand die Stelle aus dem 24. Psalm anführen wollte, wo es heißt “die Erde ist auf Strömen bereitet”, um darauf die neue sich wirklich sinnlos anhörende Lehre zu begründen, die Erde schwimme auf Strömen, so würde man einem solchen mit Recht sagen, er solle den Hl. Geist aus dem Spiel lassen und ihn nicht zum Gespött in die Schulen der Physiker hineinziehen; denn der Psalmist wolle hier nichts anderes andeuten, als was die Menschen vorher schon wissen und täglich erfahren, daß die Länder (…) von ungeheuren Strömen durchflossen und von den Meeren umspült seien. (…)
Wenn man dies gerne gelten läßt, warum läßt man es dann auch nicht gelten, daß wir an anderen Stellen, die man der Bewegung der Erde entgegenzuhalten pflegt, in gleicher Weise den Blick von der Physik weg auf die Absicht der Schrift hinwenden?

Kepler argumentiert noch weiter auf diese Art und Weise, bevor er mit dieser Aufforderung endet – die fast schon in eine der vielen Diskussionen über Pseudowissenschaft und Esoterik hier bei Scienceblogs passen könnte:

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