Das Wechselspiel der Gezeiten rund um Neuwerk lässt sich am besten vom ältesten Gebäude der Insel aus betrachten. Der alte Leuchtturm, der sich seit 1310 über die Insel erhebt, ist gleichzeitig auch das älteste Gebäude der Stadt Hamburg, auf deren Staatsgebiet man sich überall auf Neuwerk befindet. Trotzdem war der Turm im Jahr 1825 der Schlusspunkt der großen Landvermessung des Königreichs Hannover, die unter der Leitung des Mathematikers und Geodäten Carl Friedrich Gauß durchgeführt worden ist.

IMG_3825 (Andere)

Heute kostet der Eintritt in den Leuchtturm für Erwachsene zwei Euro. Vor ein paar Jahren noch hätte ich hier aber auch mit einem 10DM-Schein bezahlen und Neuwerk auch dort entdecken können. Auf der Vorderseite des Scheins war ein Porträt von Carl Friedrich Gauss abgebildet; auf der Rückseite das von ihm erfundene Gerät für die Landvermessung: ein Vize-Heliotrop. Mit dieser Kombination aus Fernrohr und Spiegel war es ihm möglich, bis zu 100 Kilometer entfernte Vermessungspunkte genau anzuvisieren und so das ganze Königreich mit einem Netz aus gedachten Dreiecken zu überziehen. Der Turm auf Neuwerk ist die nördlichste Spitze dieses Netzwerk und steht am Ende eines Dreiecks, dessen anderen beiden Eckpunkte von Bremerlehe und Langwarden an der Küste gebildet werden. Langwarden wiederum ist durch genau vermessene Sichtlinien mit Jever und Varel verbunden; Varel mit Garlste und Bremerlehe; Garlste mit Bremen und Brillit – und so weiter. Kennt man die exakte geografische Position eines dieser Orte, dann kann man durch einfache trigonometrische Berechnungen die Koordinaten all der anderen Städte bestimmen. Man muss nur wissen, wie lang die Linien der Dreiecke sind, die die Orte verbinden und unter welchen Winkeln sie aufeinander treffen.

Zur Ortsbestimmung dieses einen Punkts, aus dem sich alle anderen Koordinaten berechnen ist dann aber wieder die Astronomie nötig. Heute schalten wir einfach unser Navigationsgerät an, wenn wir wissen wollen, wo wir sind. Früher war es eine der wichtigsten Aufgaben der Astronomen, für die genaue Verortung in Zeit und Raum zu sorgen und anhand der Sterne am Himmel die Koordinaten der Erde zu bestimmen. Die Positionen der Sternwarten waren der Ausgangspunkt für Koordinatennetze, die sich über die ganze Erde spannten. Heute ist nur noch ein Observatorium übrig geblieben: Der Längengrad der königlichen Sternwarte im Londoner Stadtteil Greenwich wurde am 14. Oktober 1884 als offizieller Nullmeridian für die gesamte Welt festgelegt. Seitdem wird die Position jedes Ortes danach bestimmt, wie weit östlich oder westlich er sich von der gedachten Linie befindet, die vom Nordpol durch Greenwich zum Südpol führt. Beim Leuchtturm von Neuwerk sind das übrigens genau 8 Grad, 29 Minuten und 45 Sekunden östlicher Abstand.

So genau wie heute werden damals aber auch die Messungen von Gauß nicht gewesen sein. Obwohl sie mit Sicherheit genauer waren, als alles, was zuvor möglich war. Denn Gauß hatte seine eigene “Methode der kleinsten Quadrate” entwickelt und damit seinen Ruf als großer Mathematiker begründet. Im Januar 1801 hatte der italienische Astronom Giovanni Piazzi einen damals unbekannten Himmelskörper entdeckt. Von diesem neuen “Planeten” war die Gemeinde der Wissenschaftler höchst begeistert – nur leider wurde er schon bald nach seiner Entdeckung wieder verloren. Zu wenig Beobachtungen waren gemacht worden, um seine Bahn genau genug berechnen zu können und die Chancen, ihn am Himmel wieder zu finden, war gering. Aber die Methode von Gauß machte es möglich, den Einfluss der Beobachtungsfehler auf die Berechnungen zu minimieren und im Dezember 1801 tauchte der neue Himmelskörper genau dort auf, wo Gauß’ Technik sein Erscheinen vorhergesagt hatte. Und auch bei der Berechnung der Koordinaten der niedersächsischen Gemeinden hat ihm seine mathematische Methode gute Dienste geleistet. Der neue Planet wurde ein paar Jahrzehnte später zum Asteroiden degradiert und trägt heute den Namen Ceres. Die Methode von Gauß dagegen wird immer noch überall in der Wissenschaft verwendet.

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Kommentare (14)

  1. #1 McPomm
    26. August 2014

    Verstärkt der Flutberg des Wassers die Bremswirkung der Gezeiten? Also, wäre die Gezeitenwirkung schwächer, wenn die Erde keine Ozeane hätte? Die Kontinente unterliegen ja auch der Gezeitenkraft.

  2. #2 noch'n Flo
    Schoggiland
    26. August 2014

    @ FF:

    Sollte euch diese Reportage gefallen haben, kann man das Projekt in Zukunft gerne an einem anderen Ort wiederholen.

    Auf jeden Fall, gerne. Toller Artikel!

    Hoffe, Dir hat es auf Neuwerk auch gut gefallen.

  3. #3 Alderamin
    26. August 2014

    @McPomm

    Nach Wikipedia verursacht das Wasser ganze 98% der gesamten Leistung, die an Gezeitenreibung anfällt.

  4. #4 Witold Ch.
    26. August 2014

    FF at his best! Schöner Text!

    Frage zum Wind: Diese strömenden Luftmassen, werden sie nun aus dem Hochdruckgebiet herausgeblasen oder doch eher vom Tiefdruckgebiet angesaugt?

  5. #5 Berossos
    26. August 2014

    @Alderamin

    Ein bisschen off-topic, passt aber dennoch in den Kontext: Man geht davon aus, dass im Hadaikum vor rund 4 Milliarden Jahren, kurz nach Entstehung des Mondes und der ersten Ozeane, unser Trabant die Erde in einem Abstand von von nur 60.000 km umkreiste (manche Modelle geben noch weniger an). Auf jeden Fall war die Gezeitenwirkung mindestens das Hundertfache stärker als heute. Wobei die Tageslänge nur etwa 10 bis 14 Stunden betrug. Vermutlich muss man sich das Ganze als eine Art von Dauer-Tsunami vorstellen, der über Millionen Jahre hinweg unablässig über den Erdball rollte.

  6. #6 Sepp
    26. August 2014

    Sehr schöner Text! Ich hoffe, dass du eine schöne Reise hattest.

    @Witold Ch.: Gebiete mit niedrigerem Druck können nichts “ansaugen”, es wird immer vom höheren Druck gedrückt. Bei einem Strohhalm ist das gut erkennbar. Ziehst du am oberen Ende, so verringest du den Druck im Halm. Der Luftdruck außerhalb ist nun höher und drückt das Wasser hoch in den Halm. Das ist auch der Grund, warum das Wasser in einem Strohhalm nicht beliebig hoch gezogen werden kann.

  7. #7 Kallewirsch
    26. August 2014

    @Witold

    Ich würds so sagen:
    Zwichen Gebieten mit Überdruck und Gebieten mit Unterdruck entsteht eine Kraft, die dafür sorgt, dass das Medium strömt. Man kann nicht sagen, dass der Überdruck schiebt oder das der Unterdruck saugt. Beides ist der Fall und eine reine Frage der Sichtweise. Denn zu jedem Überdruck gehört per Definition immer auch ein Unterdruck. Das impliziert schon die Bezeichnung, denn einen ‘Über-‘Druck kann es nur geben, wenn der Druck irgendwo anders niedriger ist.

    Und natürlich kann man auch der Sichtweise anhängen, dass der Unterdruck in einem Strohhalm das Wasser ‘ansaugt’. Auch hier lässt sich zeigen, dass Wasser nicht beliebig hoch gesaugt werden kann, denn man kann ja nicht beliebig tiefen Unterdruck erzeugen.
    Rein rechnerisch kommt bei beiden Sichtweisen ein identisches Ergebnis heraus. ‘Schieben’ oder ‘Ziehen’ ist nicht die Frage, denn das einzig relevante ist die Differenz.

  8. #8 Witold Ch.
    26. August 2014

    @ Sepp

    Vielen Dank für die plausible Antwort.

    (Hätte ich eigentlich selber drauf kommen müssen …)

  9. #9 Witold Ch.
    26. August 2014

    @ Kallewirsch

    Vielen Dank für Deine präzisierenden Worte.

    … entsteht eine Kraft, die dafür sorgt, dass das Medium strömt.

    (… früher der der pauspäckige Aiolos, der milde Zephyros oder der rauhe Boreas …)

  10. #10 Moss
    Ladenburg
    26. August 2014

    Es gibt Gezeitenkraftwerke, die Energie aus Ebbe und Flut holen. Das erhöht die Gezeitenreibung und damit die Geschwindigkeit, mit der der Mond sich entfernt. Ich frage mich, wieviel Energie man da entziehen müßte, um einen (mit unseren derzeitigen Mitteln) messbaren Effekt zu bekommen – die paar GW, die derzeit entnommen werden, dürften ja ziemlich irrelevant sein.

  11. #11 Alderamin
    26. August 2014

    @Moss

    Ich frage mich, wieviel Energie man da entziehen müßte, um einen (mit unseren derzeitigen Mitteln) messbaren Effekt zu bekommen – die paar GW, die derzeit entnommen werden, dürften ja ziemlich irrelevant sein.

    Aus dem Wikipedia-Link von oben: 3,75 TW an Gezeitenreibung fallen an, davon 98% durch das Wasser, das macht 3,675 TW. Ein paar Gigawatt mehr spielen da offenbar keine Rolle. Interessant allerdings, dass der Weltenergieverbrauch an elektrischem Strom mit fast 23800 TWh/a (17% von 140 PWh/a), das entspricht 2,72 TW Dauerleistung über ein Jahr, bereits in der Größenordnung der gesamten Gezeitenreibung sind. Da man diese nie komplett und verlustfrei wird nutzen können, reichte also die Gezeitenreibung auf der ganzen Erde nicht aus, um die Menschheit mit Strom zu versorgen. Selbst wenn wir diese durch entsprechende Kraftwerke noch weiter erhöhen würden – man müsste das gesamte Flutwasser aller Ozeane ausbeuten, was schwerlich gelingen dürfte.

    Die größten Gezeitenkraftwerke (siehe Wikipedia) leisten aber nur maximal 20 MW. Zum Vergleich: die Windkraftanlage Alpha Ventus leistet mit 12 Windrädern maximal 60 GW, im Jahresmittel 2012 268 GWh entsprechend einer Durchschnittsleistung von 30 MW.

  12. #12 Karl Mistelberger
    26. August 2014

    > “Im Jahr 1687, als der große Leuchtturm auf Neuwerk schon 377 Jahre alt war, hat der ebenfalls große Isaac Newton sein Buch “Philosophiae Naturalis Principia Mathematica” veröffentlicht und darin erklärt, wie man die Gravitationskraft berechnet.”

    Von der Begründung der Newtonschon Mechanik bis zur präzisen Vorhersage der Gezeiten war es ein weiter Weg. Erst Pierre-Simon Laplace gelang der entscheidende Durchbruch (unter Zugrundelegung von Newtons Mechanik): Laplace’s tidal equations. Selbst von da ab dauerte es noch sehr lange bis praktischer Viorhersagen möglich wurden: Gezeitenrechenmaschine

  13. #13 Alderamin
    26. August 2014

    @myself

    Vergleich: die Windkraftanlage Alpha Ventus leistet mit 12 Windrädern maximal 60 GW

    Ups, 60 MW waren hier gemeint, so stark bläst der Wind dann auch nicht…

  14. #14 PDP10
    26. August 2014

    @ Florian:

    Sollte euch diese Reportage gefallen haben, kann man das Projekt in Zukunft gerne an einem anderen Ort wiederholen. “

    Schliesse mich noch’n Flo an.
    Schöner Bericht! Mehr davon wäre toll.