Du fragst, warum der Weise das Sterben vergisst?
Weil nichts an ihm mehr sterblich ist!

Tao Te King 51

Das Tao ist Erzeugen.
Das Te ist Ernähren.
Stoff und Natur geben Gestalt –
und alles soll sich, ob jung oder alt,
vor dem Tao verbeugen
und das Te verehren –
den beide finden in sich selber halt.

Der Sinn erzeugt, das Leben nährt,
lässt wachsen, pflegt, vollendet, hält.
Nichts wird dabei von ihnen begehrt –
und anspruchslos schenken sie die Welt.
Erkennst du das, dann wird dir klar:
das Wesen dieser Tugend ist wahr!

Tao Te King 52

Alle Wesen kann man im Anfang sehen.
Dieser Anfang wird Mutter genannt.
Und hast du diese Mutter erkannt,
kannst du auch ihre Kinder verstehen.
Und wenn du begreifst, dass du selber ein Kind bist,
erkennst du, das sie dein Ursprung ist!
Und da sie der Ursprung von allen war,
bringt auch der Tod dir keine Gefahr.

Verschließe die Lippen, halt Reden klein –
und dein Leben wird lang und erfolgreich sein.
Doch wer seinen Mund nicht halten kann,
stirbt oft schon als junger Mann.

Schätze die Kleinigkeiten im Leben,
und dir wird wahre Weisheit gegeben.
Sich wie ein Grashalm im Winde zu biegen:
mit dieser Stärke wirst du siegen.
Suche im Leben die lichten Stellen.
Ihr Glanz wird dein ganzes Leben erhellen!

Tao Te King 53

Wenn das, was du weißt nur ein Bruchteil ist,
dann achte das du nicht die Verbindung vergisst.
Der große Weg ist einfach und leicht –
doch wenige haben das Ziel erreicht.

Die Paläste werden gehegt,
doch keine Felder mehr gepflegt.
Die Menschen sind in schöne Gewänder gehüllt,
die Kornspeicher jedoch kaum gefüllt.
Siw wollen prächtige Waffen tragen
und Essen und Trinken bei großen Gelagen.
Sie steigern den Reichtum unverhohlen –
und haben doch nur von den Armen gestohlen.

Sie sind die Räuber unserer Zeit –
und lange noch nicht für das Tao bereit!

Tao Te King 54

Hast du dein Werk auf Fels gestellt,
wird es auch nicht niedergehen.
Und das, was deine Hand festhält,
wird dir nicht verloren gehen.

Meditiere über dein eigenes Leben
und das Leben wird dir offenbart.
Kannst du dies Wissen deiner Familie geben,
wird es für Generationen verwahrt.
Mach dieses Wissen im Dorf bekannt
und jeder Mangel wird verschwinden.
Nutze dies Wissen zur Führung im Land –
so wirst du alles überwinden.
Lass dich bei allem davon leiten:
so kannst du dies Wissen wahrhaftig verbreiten!

Du und die anderen: ihr seid Eins.
Liebe andre Familien so wie du deine liebst.
Gib anderen Dörfern das was du deinen gibst.
Nimm alle Länder als Teil deines Seins.

Sieh die ganze Welt als Mutter an –
und dich in der Mitte stehen.

Warum kann ich die Welt so sehen?
Weil ich die Welt sehen kann!

Tao Te King 55

Du hast das wahre Leben erreicht,
wenn es dem eines Kindes gleicht.

Ein kleines Kind ist biegsam und schwach,
doch stark ist die Hand wenn sie deine ergreift.
Noch sind in ihm keine Begierden gereift –
und doch ist Erregung in ihm wach.

Es wird nicht von Wespen gestochen;
nicht von giftigen Schlangen gebissen;
nicht von jagenden Tigern gerissen
und nicht von wilden Tieren gerochen.

Soviel das kleine Kind auch schreit –
seine Stimme wird niemals leise.
Es lebt auf die richtige Weise.
Es sieht im Leben die Ewigkeit!

Hör auf ständig umherzuhetzen!
Lebenskraft unnütz einzusetzen!
Lass von Kampf mit dir selber los!
So erzeugst du nur unnütze Schmerzen.
Nimm dir die Kraft aus deinem Herzen.
Denn dann bist du wahrhaft groß!

Tao Te King 56

Der Wissende, der redet nicht.
Der Redende hat nichts verstanden.
Schließe deine Pforten dicht –
im Reden ist wenig Weisheit vorhanden.
Löse die wirren Gedanken auf:

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Kommentare (24)

  1. #1 baba
    25. Juni 2015

    Das ist mal eine Überraschung! Ich habe mich im Rahmen meiner Diplomarbeit (Musik) viel mit Taoismus beschäftigt und hätte nicht erwartet, hier im Blog eine Übersetzung des Tao Te King zu finden. Ich finde die gereimte Version sehr gut gelungen! Man merkt, dass Du Dich mit den Versen echt befasst hast. Ich bin auch kein Taoist, aber Du hast recht: Die Gedichte regen wirklich zum Nachdenken an.
    Danke für diesen schönen Einstieg in den Tag und überhaupt mal ein RIESEN Dankeschön für Deine Arbeit!! Ich habe extrem viel von Deinen Texte und den Sternengeschichten gelernt und habe nach wie vor fast täglich Aha-Erlebnisse dadurch 🙂
    Ich kann nur sagen: Erhol Dich gut und dann – WEITER SO 🙂 !!

  2. #2 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    @baba: “eine Übersetzung des Tao Te King zu finden”

    Wie gesagt – es ist eher eine “Übersetzung”. Denn das Original hab ich ja nie gelesen (bzw. schon, ich hab auch ne Fassung des Originaltextes zuhause – aber verstanden hab ich halt nix 😉 )

  3. #3 Crazee
    25. Juni 2015

    Coole Sache das. Da werde ich ein wenig für brauchen.

    Wenn ich mal wieder so viel Zeit hätte wie in Studententagen…

  4. #4 Kyllyeti
    25. Juni 2015

    Es ist halt oft so mit schwierigen Sachen
    die dem Verständis Probleme machen
    Du kannst es probieren,
    sie mit Wortkunst neu zu formulieren
    und am Ende kannst du dir einen Reim darauf machen.

    (Losung eines unbekannten alten deutschen Meisters irischer Abstammung)

  5. #5 Braunschweiger
    25. Juni 2015

    @Kyllyeti: Ahh, frisch hergestellte “alte” Chinesische Sprichworte…

    Vielleicht sollten wir solche Reimweisheiten mal sammeln. Vielleicht sogar in einem Extra-Artikel. Ein gewisses Niveau sollte allerdings gewahrt bleiben.
    Ich hätte da einen älteren Beitrag, der von Wilhelm Busch genauso gut wie von Erich Kästner stammen könnte, vielleicht auch von einem früheren “Leserbriefschreiber” an passender Stelle:

    Witz mit Geist ist sehr beliebt,
    da es ihn recht selten gibt.

  6. #6 bikerdet
    25. Juni 2015

    Es war früher üblich Geschichten in Versform vorzutragen. So merkt es sich der Vortragende leichter und die Zuhörer ebenfalls. Bei einer rein mündlichen Überlieferung wird so relativ zuverlässig verhindert, das Texte VERSEHENDLICH falsch weitergegeben werden. Gegen eine absichtliche Verfälschung hilft das nicht, solange der Reim komplett angepasst wird.
    Auch heute noch sind alle unsere ‘Eselsbrücken’ in Reimform, man lernt sie so einfach schneller.

  7. #7 Florian Freistetter
    25. Juni 2015

    Also wenn ich hier mal die ersten Zeilen des Originaltextes kopiere, dann scheinen da schon irgendwelche Reime drin zu sein. Zumindest sind die jeweils letzten Symbole immer gleich (ist aber im Rest des Textes nicht durchgehend so):

    道可道,
    非常道。
    名可名,
    非常名

    (von hier: https://ctext.org/dao-de-jing)

  8. #8 rolak
    25. Juni 2015

    die ersten Zeilen

    Da haste aber gerade noch rechtzeitig aufgehört, Florian, beim dritten Zeilenpaar paßt es nicht mehr. Zeichen 1, 3 und 6 sind übrigens, wie am Anfang des Textes nicht anders zu erwarten, das Zeichen für ‘Dao’.

    Hättest auch ganz lässig eine FortsetzungsPublikation starten können, bummelig bis Mitte Juli wärst Du ganz unauffällig gekommen 😉

  9. #9 LasurCyan
    25. Juni 2015

    Das ist ja fast musikalisch strukturiert^^

    ABA
    CDA
    EBE
    CDE

  10. #10 rolak
    25. Juni 2015

    musikalisch strukturiert

    Das ist im Chinesischen durchaus eingebaut, LasurCyan, deswegen könnte ich mir (im Gegensatz zu sonst) es als Hörbuch sehr unterhaltsam vorstellen (nein, Chinesisch beherrsche ich nicht, nicht einmal ansatzweise).

  11. #11 Dampier
    25. Juni 2015

    Geil. Ich habe mir vor Jahren mal eine Sammlung von Tao Te King-Übersetzungen angelegt (<– immer noch meine Lieblingsschreibweise). Da kommt diese natürlich auch rein. Das muss ich nochmal in Ruhe lesen und mit den anderen Texten vergleichen :]

    Eine Übersetzung kann es gar nicht geben, es werden immer nur Interpretationen sein. Ich fand es ungeheuer faszinierend und es regt wirklich zu Diskussionen an. Eine Zeitlang hab ich es auch als Schriftrolle verschenkt.

  12. #12 Dampier
    25. Juni 2015

    Hier ein freies Audio-Book. Ziemlich abgefahren vorgelesen.

    https://librivox.org/daodejing-by-laozi/

  13. #13 PDP10
    26. Juni 2015

    Ich habe ja mal so meine eigene Erfahrung mit Übersetzungen aus dem Chinesischen gemacht – nicht als Übersetzer, versteht sich (ich kann kein bischen Chinesisch), sondern als Käufer.

    Ich hatte vor einigen Jahren versucht eine möglichst “amtliche” Übersetzung von Sun Tsu’s “Kunst des Krieges” zu finden ..

    Und musste lernen, dass die gefühlten 372tausend deutschen Ausgaben praktisch alle aus dem englischen oder französischen übersetzt waren … äh, ja super. Stille Post.

    Letztlich habe ich genau eine gefunden, die tatsächlich vom chinesischen direkt ins deutsche Übersetzt war …

  14. #14 rolak
    26. Juni 2015

    Letztlich .. genau eine

    Boah wie gemein, PDP10: Welche?

  15. #15 rolak
    26. Juni 2015

    öhm, das war ein wenig flott… Mittlerweile (=gestern schon) fand sich auch eine Lesung in Mandarin, nicht in BambusSchachteln, sondern in Tuben.

    Und eine schräge Animation, von der ich allerdings wegen der bereits erwähnten Sprachfertigkeit überhaupt nicht sagen kann, was genau es ist.

  16. #16 Giannozzo
    26. Juni 2015

    rolak, das Youtube-Video ist eine Einführung in den Laozi, gezeichnet von Tsai Chih-chung. Das Buch dazu gibt es sogar auf deutsch:
    https://www.amazon.de/Das-Tao-King-Laotse-interpretiert/dp/3981114825/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1435310131&sr=1-1&keywords=tsai+chih+chung
    Das Daodejing ist im Original übrigens tatsächlich nicht durchgehend gereimt, sondern nur abschnittsweise – soweit sich das heute feststellen lässt. Denn die Zeichen wurden vor 2.500 Jahren natürlich ganz anders ausgesprochen als heute, und die phonetische Rekonstruktion ist eine Wissenschaft für sich.
    Schließlich, eine gute Übersicht über deutsche DDJ-Ausgaben gibt es hier:
    https://www.das-klassische-china.de/Tao/Ubersicht%20der%20versch%20Ausgaben/index.htm

  17. #17 rolak
    26. Juni 2015

    Schönen Dank für die MetaInformation, Giannozzo, statt FleißKärtchen gabs eine Verlinkung des Kommentars zur Ergänzung der hiesigen MetaDaten 😉

    phonetische Rekonstruktion

    Das wäre ja auch zu einfach, wenn es für jede Sprache solch gut erhaltene AusspracheLehrsysteme gäbe wie für Latein.

  18. #18 PDP10
    26. Juni 2015

    @rolak:

    “Boah wie gemein, PDP10: Welche?”

    Äh, tschuldigung … 🙂

    Jene:

    https://www.amazon.de/%C3%9Cber-die-Kriegskunst-Sun-Zi/dp/7119044869/ref=sr_1_1?ie=UTF8&qid=1435346812&sr=8-1&keywords=sun+zi+%C3%BCber+die+kriegskunst

    Leider “derzeit nicht verfügbar”. Aber vielleicht lässt die sich irgendwo gebraucht / antiquarisch auftreiben.

  19. #19 rolak
    26. Juni 2015

    nicht verfügbar

    Und auch auf die Schnelle nicht auffindbar, PDP10, doch Danhe!, so kann es immerhin schon mal auf die Suchliste…

  20. #20 Johannes
    1. Juli 2015

    Hier noch eine extreme Kurzfassung 😉 https://weirdoverse.com/weird-comix/tao-raw/

  21. #21 aam
    4. Januar 2016

    Pierre Martin: Dao-De-Ging (Tao-Te-King): Die Gnosis im Alten China

    https://laotse-dao-de-ching.blogspot.com/2007/11/daodejing-tao-te-ching-spruchkapitel-1.html

  22. […] zeitversetzte, Übersetzung des Textes, wie des Dao selbst, immer nur ein Kompromiss ist, der Mehrdeutigkeit möglichst eindeutig zu vermitteln versucht. Gesamtbewusstsein ist auch so ein Begriff, wie das […]

  23. #23 Aleksandar
    31. März 2017

    Wow!Ich bin ihnen sehr dankbar für diese Übersetzung.Das kann ich sehr gut verstehen.Und es war bestimmt sehr viel Arbeit für Sie,aber Sie haben es geschafft und zwar alles so perfekt gemacht!.Und Sie zeigen es kostenlos.Ich bin Ihnen sehr dankbar und bin positiv überrascht,dass es solche Menschen wie Sie gibt.

  24. #24 Michael Hammes
    Bad Homburg
    1. November 2019

    Also, die Übersetzung von Richard Wilhelm ist mehr als in die Jahre gekommen und sicher kein Standard mehr. Mit den vielen nachempfundenen Übertragungen ist es so eine Sache: irgendwann besagen sie mehr über den Verfasser als über Laozi und das Daodejing. Der chinesische Text ist zu tiefgründig, als dass man ihn in der Zielsprache auch noch in Reime fassen könnte, selbst wenn das im Originaltext so vorkommt. Dort gibt es zum Teil Reime aber auch häufig parallelen Satzbau, was in der Poesie ebenfalls genutzt wird. Nicht alle Aspekte kann man sinnvoll in der Zielsprache unterbringen.