Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2015. Hinweise zum Ablauf des Bewerbs und wie ihr dabei Abstimmen könnt findet ihr hier. Informationen über die Autoren der Wettbewerbsbeiträge findet ihr jeweils am Ende der Artikel.
sb-wettbewerb
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Risiko ist abstrakter Begriff um die Gefährlichkeit einer Sache zu bewerten. Im alltäglichen Sprachgebrauch kommt er immer mal wieder vor. “Du gehst ein Risiko ein”, “Das ist risikoreich”. Wir wollen damit ausdrücken, dass wir eine Sache für gefährlich, vielleicht zu gefährlich halten. Es ist eine Warnung. Risiko – das impliziert Gefahr. Und Gefahr ist in den seltensten Fällen ein gerngesehener Gast.

Risiko ist eng Verknüpft mit dem Begriff der Sicherheit. Beides spielt für uns eine wichtige Rolle und ist sehr persönlich eingefärbt. Sicherheit – das Wort kann man auf vielfältige Weise interpretieren. Für manche ist Sicherheit vor allem Geborgenheit, wieder andere verstehen Sicherheit vor allem in finanzieller Hinsicht und für grauenerregend viele Menschen bedeutet Sicherheit einfach die Abwesenheit von tödlicher Gefahr.

Als Techniker steht man immer wieder vor der Situation, diese sehr persönlichen Begriffe auf eine verbindlich festgelegte interpretieren zu müssen. Will man zum Beispiel eine Chemieanlage bauen, müssen sich alle Beteiligten mit dem Risiko auseinandersetzen. Und es ist von entscheidender Bedeutung, dass wenn von Risiko, Gefährdung, Sicherheit gesprochen wird, alle die gleiche Vorstellung davon haben. Die Frage, wie man für diese schwammigen Begriffe eine feste, für alle verbindliche Interpretation findet, hat Generationen von klugen Köpfen auf den Gebieten von Technologie, Normung, Recht & Gesetz, Mathematik und wo sonst nicht noch überall, beschäftigt – sie ist alles andere als trivial.
Warum dem so ist, warum man überhaupt mit Risiko umgehen muss, warum man verbindliche Regeln dafür braucht und was man daraus für Konsequenzen zieht, das versuche ich hier kurz anzureißen.

Fast alle Maschinen, die uns das Leben erleichtern bzw. unseren Lebensstandard erst möglich machen, haben nicht nur das Potential zu nutzen, sondern auch zu schaden. Egal ob Kraftwerk, Chemieanlage oder Auto – mit großem Nutzen geht auch immer ein gewisses Risiko für durch diese Maschinen verursache Schäden einher. Ziel aller Technik ist es, das Risiko zu minimieren und den Nutzen zu maximieren. Es ist ein Allgemeinplatz, dass absolute Sicherheit nicht zu erreichen ist und ich persönlich glaube nicht, dass wirklich viele Menschen das denken, geschweige denn, Menschen, die fähig und in der Position sind, Entscheidungen zu treffen.
Trotz dessen ist der Begriff alles andere als selbsterklärend. Risiko ist abstrakt, aber das bedeutet nicht, dass es nicht beschreibbar ist.
Wie abstrakt der Begriff ist und wie fehl man selbst im ersten Moment manchmal gehen kann, soll ein kleines Beispiel zeigen: Die Mercedes-Benz Baureihe 115 von 1968
Ein Auto, nach dem man sich umdrehen wird, wenn man es auf der Straße sieht. Zugegebenermaßen ein Symbol der bürgerlichen, spießigen Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre. Aber trotz allem schön.

Bild: gemeinfrei

Bild: gemeinfrei

Dieses Auto hat, wie es da steht, einige interessante Sicherheitsmerkmale

  • Der /8 hatte ursprünglich keine Sicherheitsgurte. Dieses Extra gab es erst ab den 70er Jahre und war erst verpflichtend seit den 80ern. Standard wurde es erst beim Nachfolger, dem W123
  • Dieses Auto hat eine Starrkarosse, die sich bei einem Unfall kaum verformt. Es gibt keine Knautschzonen – die gesamte Energie des Einschlags wird an die Teile weitergegeben, die am wenigsten Widerstand leisten. Das sind in der Regel die Fahrgäste
  • Die A-Säule bricht bei vielen Unfällen und kann sich aufgrund ihrer Geometrie in den Innenraum schieben
  • Die Karosse kann sich beim Unfall so verziehen, dass sich die Türen nicht mehr öffnen lassen. Moderne Karossen sind so geformt, dass sie sich auf eine Weise verformen, die die Türen nicht blockiert, obwohl sie geschlossen bleiben
  • Ein Frontalaufprall schiebt den Motor in den Fahrgastraum. Bei modernen Fahrzeugen ist die Motoraufhängung so beschaffen, dass er Beim Unfall nach unten wegbricht und das Chassis im schlimmsten Fall darüber hinweg schrammt, statt von ihm durchschlagen zu werden
  • Die Pedale werden beim Unfall nach oben gedrückt, statt nach vorne weg zu klappen oder zu brechen und klemmen die Füße des Fahrers ein
  • Die starre Lenksäule wird beim Frontalaufprall gegen Kopf und Brustkorb des Fahrers gedrückt
  • Der Stern ist starr auf dem Kühlergrill montiert und stellt ein massives Verletzungsrisiko dar
  • Nicht alle Modelle dieses Fahrzeugs hatten ausschließlich Scheiben aus Sekuritglas. Beim Unfall konnten die Seitenscheiben splittern

Trotz dessen hat sich garantiert die überwältigende Mehrzahl der Menschen in diesem Auto in keiner Weise mehr gefährdet gefühlt, als in jedem anderen.
Mehr noch – gerade weil der /8 so stabil ist, strahlt er ein Gefühl von Sicherheit aus. Auch heute noch. Aus dem Bauch raus würde ich behaupten, dass die Mehrzahl der Leute denkt, dass diese Autos bei einem Unfall mehr Schutz für die Fahrgäste bieten, obwohl sie was passiven und aktiven Schutz der Fahrgäste betrifft mittlerweile hoffnungslos veraltet sind. Obwohl die Unfallzahlen heute kaum niedriger sind, als sie damals waren (Was bei der deutlich gestiegenen Anzahl Fahrzeuge eine deutlich kleinere Rate bedeutet), sterben heute im vereinigten Deutschland 3.000 Personen pro Jahr im Straßenverkehr, verglichen mit bis zu 11.000 pro Jahr in der alten Bundesrepublik
Risiko ist schwierig einzuschätzen.

Aber irgendwie muss man es einschätzen. Im privaten Bereich kann man vielleicht damit leben zu denken “passt schon” und einfach mal zu machen, aber sobald man sich auf das Gebiet der Großtechnik begibt, ist das nicht mehr akzeptabel. Wir wissen heute gut, wie gefährlich bestimmte Verfahren, Stoffe und Technologien sind bzw. können das Potential für katastrophale Unfälle abschätzen. Es wäre von sträflicher Nachlässigkeit, wenn wir wüssten, dass z.B. ein Stoff unter bestimmten Bedingungen gefährlich ist, wir aber keine Anstalten machen, mit der Gefährdung adäquat umzugehen. Das ist ein Punkt, den ich für besonders wichtig halte: Wir fangen nicht bei Null an. Wir haben Erfahrung. Wir können auf über Hundert Jahre systematischer Unfallforschung auf allen Bereichen der Technik zurückschauen und in den allermeisten Fällen, gut abschätzen, wie groß eine Gefährdung bzw. ein Risiko wirklich ist. Bleiben wir dazu bei obigem Beispiel und konzentrieren uns auf einen Punkt, nämlich den Sicherheitsgurt.

Zunächst muss man abschätzen, was passieren kann – man muss Szenarien entwickeln. Die Frage lautet: “Wozu brauchen wir den Sicherheitsgurt?” und das Szenario ist die Antwort darauf. Man muss sich immer vor Augen halten, dass Maschinen vor allem gebaut werden, um ihrem Besitzer Profit zu bringen. Und Sicherheitstechnik ist teuer. Hier könnte das Szenario sein: Aufprall bei Geschwindigkeiten > 1 m/s. Ja, das reicht. Dabei besteht die Gefahr, dass die Person im Fahrzeug herumgeschleudert wird und sich dabei schwer verletzt. Um Abhilfe zu schaffen, wird der Sicherheitsgurt vorgeschlagen. Jetzt muss man abschätzen: Wie oft passieren Unfälle? Wie groß ist der Schaden? Kann man das abschätzen, hat man das Risiko im Prinzip erschlagen.

Risiko ist definiert als das Produkt aus Schadensausmaß (Dn) und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit (Pn). An dieser Definition muss man sich kurz festhalten, sie auf sich wirken lasen. Man sollte sich klar machen, dass Risiko in diesem Sinne zwar immer noch abstrakt, aber in gewissem Maße berechenbar ist. Man sollte sich auch in aller Schärfe klar machen, dass in dem Begriff “Wahrscheinlichkeit” eine Komponente fundamentaler Unsicherheit steckt, die sich nicht vollständig eliminieren lässt! Kennt man die Wahrscheinlichkeiten sehr gut, etwa aus langer Erfahrung, ist die Abschätzung des Risikos sehr gut. Kennt man die Wahrscheinlichkeiten nicht gut genug, dann Ex falso quodlibet. Eine einfache Lösung für diese Misere gibt es aber nicht.

Das Dn kann vielfältig sein: Leichte Blessuren, Prellungen, Brüche, Risse, Innere und äußere Verletzungen, Hirnschäden, Tod einer Person, Tod mehrer Personen. Das ist ein breites Spektrum. Auch die Pn kann äußerst unterschiedlich sein. Zweckmäßig ist es, die unüberschaubar vielen Einzelfälle für sowohl Dn als auch Pn in einer überschaubaren Zahl Kategorien zusammenzufassen. z.B.:

R3

R4

Alternativ kann man das Dn auch in Geldeinheiten ausdrücken. Während Personenschaden eindeutig und die Verständigung über das Ausmaß des Schadens einfach ist, kann das Ausmaß des wirtschaftlichen Schadens für ein Unternehmen oder einen Menschen aber nicht einfach an absoluten Maßstäben festgemacht werden. Ein Schaden von 1.000 Millionen € mag für ein Unternehmen wie Shell, Walmart oder SAP sehr schmerzhaft, aber zu verkraften sein. Für einen Mittelständler wie Grünenthal, FIMA oder Hela ist er mit ziemlicher Sicherheit desaströs. Ein Todesfall ist unabhängig vom finanziellen Hintergrund immer eine Katastrophe. Aus diesem Grunde beschränke ich mich hier auf Personenschäden. Mit geeignet abgestuften Schadenssummen lässt sich die ganze Überlegung aber auch für rein wirtschaftlichen Schaden machen. Die Kategorien bilden Zeilen und Spalten der Risiko-Matrix:

Beispiel einer Risikomatrix

Beispiel einer Risikomatrix

Die Einteilung der Risikoklassen ist quantitativ. Dieser Punkt ist wichtig. Indem man aus Ausmaß und Wahrscheinlichkeit das Risiko für einen Schaden bildet, lassen sich verschiedene Risiken nach einigermaßen objektiven Maßstäben vergleichen. Drückt man das Dn in Geldeinheiten aus, lässt sich das Risiko direkt, z.B. in Euro pro Jahr, ausdrücken. Diese Methode hat ihre Probleme und ist sicher nicht perfekt, aber sie ist seit Jahrzehnten in der Industrie gängige Praxis und hat mit Sicherheit großen Anteil daran, dass trotz gigantischer Steigerung von Produktion, geleisteten Arbeitsstunden, etc. diejenigen Unglücke, die durch Versagen der Technik verursacht wurden, immer seltener werden.

Bleiben wir beim Beispiel Autogurt und beim Szenario “Aufprall mit geringer Geschwindigkeit”. Aus der Erfahrung kann man sagen, dass die Pn dafür nicht gerade klein ist. Tun wir so, als würde jeder Autofahrer im Mittel alle 10 Jahre einen solchen Unfall haben. Das Dn ist in Abwesenheit außergewöhnlicher Umstände auf Verletzungen beschränkt. Todesfälle bei sehr niedrigen Geschwindigkeiten sind selten. Wir sind konservativ und bewerten das Dn mit D3, denn schwere Verletzungen können durchaus Folge kleiner Unfälle sein. Daraus ergibt sich die Risikoklasse “Hoch”. Man beachte, dass das Wort “Hoch” hier nicht in einem qualitativen Sinn verwendet wird, sondern eine quantitative Bedeutung hat. “Hoch” bedeutet in diesem Fall: im Mittel besteht für jeden Autofahrer das Risiko, innerhalb von 10 Jahren einen Unfall zu haben, bei dem er sich potentiell schwer verletzt.

Mit diesem Risiko muss man jetzt irgendwie umgehen. Aufs Auto fahren zu verzichten ist nicht die Option der Wahl. Autos sind zu nützlich und wir als Gesellschaften sind im Moment der Meinung, dass es sich lohnt, die Risiken in Kauf zu nehmen. Wir müssen also technische Lösungen finden, die Risiken einzudämmen. Der Versuch, Risiken durch Technik auszuschließen hat nichts mit Angst zu tun – das ist ein Argument, das man oft gegen den Fahrradhelm hört und das in den 1970er Jahren auch gegen den Autogurt vorgebracht wurde. Angst wäre, aufs Fahrrad bzw. Auto zu verzichten. Vor Fahrtantritt Helm bzw. Gurt anzulegen ist dagegen sondern von Vorsicht, also der Eigenschaft, bekannte Risiken zu antizipieren und sich dagegen abzusichern.
An dieser Stelle drängt sich folgende Frage förmlich auf: Der Schutz gegen jeden nur denkbaren Schaden sollte das Idealziel sein. Warum bewertet man dann nicht alles mit der maximalen Stufe und ist immer auf der sicheren Seite?

Das hat zum einen pekuniäre Gründe. Aber auch technische, denn auch die Abhilfe gegen einen Schaden birgt das Risiko, Schäden zu verursachen. Der Gurt im Auto ruft in vielen Fällen, in denen er schwere Verletzungen verhindert, leichte Verletzungen hervor. Und in manchen Fällen wird der Gurt verantwortlich für den Tod eines Menschen sein, der ohne Gurt überlebt hätte. Man muss sich klar machen, dass das Schutzsystem selbst Nebenwirkungen haben kann, die das globale Risiko deutlich reduzieren, aber unter Umständen ein spezielles Risiko erhöhen. Es ist daher gar nicht automatisch sinnvoll, das Schutzsystem immer so auszulegen, dass es auch das größte Dn beherrscht, wenn dieses sehr selten vorkommt. Denn die Nebenwirkungen richten vielleicht über die Zeit insgesamt mehr Schaden als, als der schwerste Unfall anrichten würde. Der Gurt könnte zum Beispiel in einer Weise beschaffen sein, dass er jede Verletzung zuverlässig ausschließt, indem er die Person sicher fixiert, aber flexibel auf Stöße reagiert. Dadurch werden einige sehr schwere Unfälle überlebt werden können. Möglicherweise steigt dadurch aber die Gefahr, dass die Person bei einem weniger schweren Unfall vom Gurt festgehalten wird, sich darin verheddert oder die Rettungskräfte sie nicht schnell genug bergen können. Die wenigen gefährlichen Zustände, die durch den übertrieben sicheren Gurt vermieden werden, stehen dann vielleicht vielen Unfallsituationen gegenüber, die gerade durch den komplexen Gurt gefährlich werden. In diesem Fall könnte es sein, dass das globale Risiko erhöht wurde, weil das System darauf ausgelegt sein sollte, auch den schwersten Unfall zu beherrschen.

Die Beherrschung des größten Unfalls führt zu Nebenwirkungen, die die weniger schweren Unfälle gefährlicher machen. Deswegen gehört zur Abschätzung des Risikos immer die Abschätzung von Dn und Pn anhand plausibler Szenarien. Den allerschwersten Unfall abzudecken kann sinnvoll sein und ist es meistens auch, aber das ist kein Muss. Und deshalb sind Szenarien so wichtig. In einfachen Fällen kann man konstatieren, dass ein gewisses Dn verhindert werden soll, egal wie es eingetreten ist. In der Praxis kommt man aber sehr schnell an einen Punkt, an dem man mit dieser Herangehensweise Fälle betrachten müsste, die völlig utopisch sind. Alle großen Industrienationen haben im Laufe der Jahrzehnte Normenwerke entwickelt, um jedem Risiko eine angemessene Sicherheitsanforderungsstufe (Sn) zuordnen zu können. Die Sn beschreibt, um welchen Faktor man das Risiko senken kann, wenn man geeignete Maßnahmen ergreift. Die Maßnahmen folgen in der Regel einer gewissen Hierarchie:
1. Zu bevorzugen ist immer die Eigensichere oder besser Selbstbegrenzende Auslegung. Eine Maschine ist dann am sichersten, wenn sie so gebaut ist, dass der schwerste Unfall keinen über ihre eigene Zerstörung hinausgehenden Schaden anrichten kann, weil physikalische Prinzipien ihn begrenzen.
2. Ist das nicht möglich oder unzweckmäßig, sind mechanische Sicherheitseinrichtungen möglich: Sicherheitsventile, Sprinkler, etc.
3. Als letztes Mittel bleibt die sogenannte der Funktionale Sicherheit. Das sind die Logikgestützten Schutzsysteme, die aus fehlersicheren elektronischen bzw. elektromechanischen Bauelementen und einer Schaltungs- bzw. Programmlogik bestehen.
Alle Normenwerke kennen wohl unterschiedene Sn. Allen gemein ist, dass sie die breiteste Definition überhaupt dafür verwenden: Die mittlere Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderung bzw. über einen bestimmten Zeitraum. Die Idee dahinter lässt sich auf alle Arten von Schutzsystemen übertragen: Es geht darum, durch eine technische Lösung das Risiko zu verkleinern. Und weil es für die Praxis zweckmäßig ist, teilt man die Schutzsysteme anhand ihrer Fähigkeit, Risiken zu verkleinern, in Kategorien ein. Der Gedankliche Ansatz dazu ist folgender: Gehen wir davon aus, dass das Schutzsystem den gefährlichen Zustand vollständig beherrschen kann, wenn es ausgelöst wird und korrekt funktioniert (darauf sind Schutzsysteme normalerweise ausgelegt). Dann reicht es, abzuschätzen wie oft ein gefährlicher Fehler im System auftritt, der zum Ausfall desselben führt:

Die Risikoklasse bestimmt die Sicherheitsanforderungsstufe

Die Risikoklasse bestimmt die Sicherheitsanforderungsstufe

In der ersten Spalte steht die Risikoklasse, von der wir ausgehen, in der zweiten die korrespondierende Sn. In Spalte drei finden wir die Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderungen oder PFD. Sie gilt für Systeme mit niedriger Anforderungsrate bzw. nicht-kontinuierliche Anforderung. Der Autogurt gehört zu dieser Kategorie, denn auch wenn wir ihn bei der Fahrt kontinuierlich tragen, fordern wir ihn nur bei einem bestimmten Ereignis, dem Unfall, wirklich an. Genau dann muss er funktionieren und die Wahrscheinlichkeit dafür, dass er bei Anforderung versagt, ist die PFD. In Spalte vier steht die Ausfallwahrscheinlichkeit oder PFH. Diese Zahl gilt für kontinuierliche Anforderung. Ein Beispiel ist z.B. eine Analoge Messung, auf deren kontinuierliches Funktionieren man angewiesen ist, um den sicheren Zustand einer Anlage zu gewährleisten. Die PFH ist die Wahrscheinlichkeit für den Ausfall des Schutzsystems pro Stunde. Diese Zahl muss naturgemäß viel kleiner sein als die PFD.

Erinnern wir uns: Risiko ist das Produkt aus Dn und Pn. Dieses Risiko wollen wir durch ein Schutzsystem verkleinern. Das verbliebene Restrisiko ist das Produkt aus Dn, Pn und PFD bzw. PFH des Schutzsystems. Ich habe mehr als ein Mal geschrieben, dass die Risikoabschätzung quantitativ ist und hier wird das ganz deutlich: Dadurch, dass ich für das Schutzsystem fordere, dass es das Unfallszenario vollständig beherrschen kann und seine Ausfallrate unter einer bestimmten Schwelle bleiben muss, kann ich das verbliebene Restrisiko direkt abschätzen.

Die Risikoabschätzung aus unserem Beispiel Autogurt hat uns ein Risiko der Kategorie “Hoch” gebracht. Aus der Anforderungsmatrix lesen wir ab, dass wir ein Schutzsystem der Sn 3 einsetzen müssen. das bedeutet, die PFD des Gurtes muss kleiner sein als 10^(-3). Ursprünglich bestand für jeden Autofahrer das mittlere Risiko, alle 10 Jahre einen Unfall zu haben, bei dem er sich schwer verletzt. Durch den Gurt sinkt das Restrisiko auf einen solchen Schaden alle 10.000 Jahre!

Die Wahl der geeigneten Sn führt dann zur konkreten Auslegung des Schutzsystems, im Beispiel also der Konstruktion eines sicheren Gurtes. Ein wahnsinnig weites Feld. So weit, dass ich es an dieser Stelle nicht auch noch anschneiden will – ich glaube, der Beitrag ist jetzt schon lang genug. Nur so viel: Für jedes große Industrieunternehmen ist das, was ich hier beschrieben habe, Tagesgeschäft und die Verfahren zur Risikobewertung und -behandlung sind hochentwickelt. Ebenso gibt es erprobte Standardverfahren zur Auslegung von Schutzsystemen.

Spätestens an dieser Stelle sollte man gemerkt haben, dass alles, was mit dem Risiko und seiner Behandlung zu tun hat ein reines Spiel mit Wahrscheinlichkeiten ist. Es ist völlig klar, dass bei einer großen Anzahl Schutzsystemen immer mal wieder eines irgendwo auf der Welt versagen wird, selbst wenn es den höchsten Anforderungen genügt. Wir können leider nur abschätzen, wie weit wir das Risiko senken können – eliminieren können wir es nicht. Wenn man so will, können wir der absoluten Sicherheit beliebig nahe kommen, erreichen werden wir sie nie. Aber Abschätzungen, ganz ähnlich, wie ich sie hier beschrieben habe, sind der bis dato beste praktische Weg, des Risikos Herr zu werden, ohne auf die vielen Vorteile zu verzichten, die der Betrieb von Anlagen aller Art – seien es Fabriken, Maschinen oder Autos – mit sich bringt.
Trotz aller Ungewissheit in Bezug auf die Zukunft und Murphys Gesetz leben wir in einer Welt, die auf Naturgesetzen beruht. Die Temperatur in einem großen Volumen wird nicht sprungförmig steigen, wenn die Energiezufuhr klein ist. Ein Behälter wird nicht überlaufen, wenn der Zulauf kleiner ist als der Ablauf und dieser nicht versperrt ist. Diese Gesetzmäßigkeiten muss man sich zunutze machen. Es stimmt zwar, dass man nie alles weiss. Man sollte sich aber immer bewusst machen, was man weiss. Und die großen Industrie-Unfälle der Geschichte wurden von Menschen mehr oder minder bewusst verursacht, obwohl die Risiko-Abschätzung gezeigt hätte (und in erschreckend vielen Fällen sogar hatte!), dass katastrophal unsichere Zustände entstehen könnten. Der Unfall von Tschernobyl fand nicht statt, weil die Anlage marode war, sondern wurde verursacht, weil die Bedienmannschaft die Schutzsysteme wissentlich und willentlich manipulierte. Ein relativ harmloser Test, der in allen Kernkraftwerken gleicher Bauart zum Standard gehörte, konnte sich deswegen zu einer nie dagewesenen Katastrophe entwickeln. Dito Bophal. Die Katastrophe kam nicht aus dem nichts, sondern wurde verursacht von einer im Nachhinein gradezu irrsinnig risikoreichen Fahrweise der Anlage, die in dieser Form weder in Europa, noch in Amerika möglich gewesen wäre (und heute selbst in China und Indien so nicht mehr möglich ist). Und letzten Endes gehören Katastrophen wie Fukushima Daiichi auch in diese Liste. Genauso schwere Erdbeben wie das vom 11. März 2011 waren aus der jüngsten Geschichte vor dem Bau der Anlage schon bekannt. Es ist heute natürlich einfach, auf die Stimmen zu verweisen, die schon seit langem vor einer durch einen Tsunami ausgelösten Nuklearkatastrophe gewarnt hatten, weil man im Nachhinein immer “Stimmen” finden kann, die “warnen”. Aber ich bin doch der Meinung, dass bei einer sauberen Risikoabschätzung schon vor langer Zeit entweder das Kraftwerk hätte deutlich verstärkt oder aufgegeben werden müssen.

Risiko – das ist etwas, mit dem wir jeden Tag umgehen und das wir zumindest grundsätzlich beherrschen können müssen. Leider müssen wir Risiken eingehen, wenn wir nützliche Maschinen benutzen wollen. Wir sind dem Risiko aber nicht schutzlos ausgeliefert – wir können es zwar nicht aus der Welt schaffen, aber Methoden entwickeln, um es deutlich zu reduzieren. Und das ist schon eine Menge.

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Hinweis zum Autor:Orci ist Ingenieur für Elektro- und Prozessleittechnik in der Anlagenplanung eines großen deutschen Chemieunternehmen. Die Auslegung von PLT-Schutzeinrichtungen anhand von Risikoabschätzungen ist ein wichtiger Teil seiner täglichen Arbeit.

Kommentare (40)

  1. #1 Crazee
    7. September 2015

    Vielen Dank für diesen schönen Artikel. Der ERSTE!

    Zwei kleine (hoffentlich konstruktive) Anmerkungen hätte ich noch (mosern auf hohem Niveau):

    – ein paar der Fremdwörter hätte man für ein Blogpublikum noch weglassen können (pekuniär/Ex falso quodlibet…)
    – ein paar Links hätten für den interessierten Leser die weitere Recherche erleichtert (ich z. B. hätte gerne auf Bophal klicken wollen, da mir dieser Vorfall nicht mehr im Gedächtnis war)

    Ansonsten prima. Da ich gerade an Pressenumrüstungen arbeite, wurde mir dieser “Sicherheitsaspekt” noch einmal mehr bewusst.

  2. #2 demolog
    7. September 2015

    @ #1 Crazee
    7. September 2015

    Um die Fremdwörter zu lernen, hätte man sie auch in klammern übersetzen können.

  3. #3 Crazee
    7. September 2015

    Oder so.

  4. #4 Laptec
    7. September 2015

    Hab ein paar Tippfehler gefunden. 😉
    Das sind in der Regel die Fahrgäste (Punkte Fehlt)
    …, verglichen mit bis zu 11.000 pro Jahr in der alten Bundesrepublik (Punkt fehlt)
    das bedeutet, die PFD des Gurtes muss kleiner sein als 10^(-3). (“Das” steht am Satzanfang –> groß)

  5. #5 Alderamin
    7. September 2015

    @Orci

    Schön geschrieben. Solche Tabellen muss ich auch immer vor einer Messeteilnahme ausfüllen, “Risk Assessment”, mit Gegenmaßnahmen.

    Es kündigen sich ja demnächst selbstfahrende Autos an und viele Leute sind skeptisch, weil die ja Unfälle verursachen könnten, die Sensorik und ihre Datenverarbeitung kann ja immer mal etwas übersehen (deswegen wird noch eine Weile der Fahrer alles überwachen und zur Not eingreifen müssen). Hier gilt: spätestens wenn die Fahrzeuge weniger (schwere) Unfälle verursachen, als solche ohne Selbstfahrautomatik, werden die Versicherungen das honorieren.

    Mein Auto fährt zwar noch nicht selbst, misst aber den Abstand zum Fahrzeug voraus mit Radar und kann auf Wunsch den Abstand einhalten. Aber auch wenn man den Tempomaten abschaltet, überwacht das System, wenn man sich zu rasch und zu nahe einem Fahrzeug nähert. Schon zweimal (in einem guten Jahr) hat der Wagen mit mir zusammen auf die Bremse getreten (weil ihm mein Bremsen zu lasch war), einmal rollend im Stau, als der Vordermann abrupt stoppte, einmal beim Abbiegen in eine Seitenstraße, wo ein anderer Vordermann dies ebenfalls tat. Vermutlich wird das auch irgendwann mal Standard werden, wie der Sicherheitsgurt.

  6. #6 Ludger
    7. September 2015

    Sehr gut! Dazu fällt mir ein “schwebendes Verfahren” ein: die Kohlenmonoxidleitung von Bayer ( https://de.wikipedia.org/wiki/CO-Pipeline_der_Bayer_AG ). Wie würde da so eine Rechnung aussehen? Und käme in einer solchen Rechnung auch der Baggerfahrer vor, der nur einen Abwassergraben ziehen will? Und wie kommuniziert man ein solch komplexes und mit Emotionen beladenes Thema mit den Anwohnern?

  7. #7 Ursula
    7. September 2015

    Sehr interessant und flüssig geschrieben. Ich habe diesen Artikel gerne gelesen. Das Auto war für mich ein besonderer Eyecatcher, weil mein Papa so einen Mercedes fuhr, und ein bissi sentimentale Erinnerungen damit verbunden sind. Die Tabellen fand ich wichtig zur Veranschaulichung der Risikobewertung, ich habe wieder einiges gelernt. So soll’s sein!

  8. #8 Withold Ch.
    7. September 2015

    Schön, dass es endlich losgeht mit dem Wettbewerb!
    Mit diesem Artikel “Risiko” zu starten, finde ich passend. Und originell.

    Sehr verständlich, flüssig und in einem guten Ton geschrieben.

    Gutes Beispiel am Mercedes-Schlitten. Aus heutiger (Auto)Sicht geradezu unvorstellbares Risiko.

    Erfreulich auch, wie auf die Mega-Katastrophen der letzten Jahrzehnte Bezug genommen worden ist.

    “Weiterführende”, eigene Gedanken dazu:

    – Die Eliminierung/Verminderung des Risikos zur Erhöhung der Sicherheit bedeutet Einschränkung der Freiheit des Individuums und der Gesellschaft, – dh mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit, oder mehr Freiheit auf Kosten der Sicherheit?

    (Die Einführung des Sicherheitsgurten-Obligatoriums in der CH vor dreissig Jahren wurde in einigen ländlichen Kantonen als auch Zwängerei und Eingriff in die persönliche Freiheit des Autofahrers bezeichnet.)

    – Die Nicht-Festlegung auf minimales Risiko oder Inkaufnahme von Risiko auf Seiten der Unternehmer und Hersteller führt gewissermassen zu einem out sourcing des Risikos (Schaden), indem das Individuum verpflichtet wird oder sich verpflichtet fühlt, sich selber gegen alles Mögliche und Unmögliche zu versichern, nebenbei auch zu einer blühenden Versicherungs-Landschaft.

    – Mangelnde Gefährdungs- und Produktehaftung ist ein Geschäft mit dem Risiko auf Kosten des Konsumenten, der Gesellschaft.

    Wunsch an den Autor:
    Für technische Laien wäre eine Erklärung der Abkürzungen der (wahrscheinlich) englischen Fachausdrücke hilfreich:

    P (Probabilitiy ?)
    D (Damage ?)
    PFD ( … )
    PFH ( … )

  9. #9 Florian Freistetter
    7. September 2015

    @Withold: “Mit diesem Artikel “Risiko” zu starten, finde ich passend. Und originell.”

    Die Reihenfolge wurde allerdings vom Zufall bestimmt.

  10. #10 meregalli
    7. September 2015

    Eine interessante und für einen Laien auch verständliche Einführung in die Welt der Sicherheitsexperten.
    Dass einem manche Reglementierungen und Vorschriften im Alltag auf die Nerven gehen, ist sicher auch eine Frage der Generation. Für mich, für den es anfangs selbstverständlich war, ohne Sicherheitsgurt zu fahren ist es wenig verständlich, dass nun mein Wagen, der auch nicht mehr neu ist, bei einem defekten Seitenairbag die Verkehrszulassung verliert.
    Wohl auch mit dem Alter wird es zu tun haben, dass ich dem Kommentar #1 nicht zustimmen kann. Ein Text sollte auch so abgefasst sein, dass er auch in einem Printmedium verständlich ist. Die paar Klicks mehr, um klüger zu werden sind ein Klacks gegen die mühsame Suche in der Bibliothek von früher.

  11. #11 Rüdiger Kuhnke
    Literaturempfehlung
    7. September 2015

    Das Risiko-Paradox von Ortwin Renn
    Buch: /https://www.fischerverlage.de/buch/das_risikoparadox/9783596198115
    Autor: https://de.wikipedia.org/wiki/Ortwin_Renn

  12. #12 rolak
    7. September 2015

    Schöner EinführungsText für Unbeleckte, doch genau für die fehlt imho der wesentlicher Hinweis auf die gerade für Neulinge schwierige RisikoSortierFrage, etwa in der Art.

    ein paar Links

    Generell ja, Crazee, doch gerade Bhopal ist ein schlechtes Beispiel, da mit mark/click sofort erreichbar¹, im Gegensatz.zu Begriffen wie PFD, die speziell bei deutsch-bescheuklappter Suche nur sehr schwierig nachschlagbar sind (heißt übrigens ‘probability of failure on demand’ bzw ‘..per hour’, Withold).

    _____
    ¹ ok, nur in ordentlichen browsern

  13. #13 Withold Ch.
    7. September 2015

    @ FF # 9

    Dank dem Zufallsgenerator …

    @ rolak # 12

    Danke für Deine Nachhilfe …

  14. #14 2xhinschauen
    7. September 2015

    Weiterführende Literatur, auch und besonders zum Unterschied zwischen persönlicher Wahrnehmung und mathematisch-statistisch bestimmbarem Risiko, Schwerpunkt medizinische Themen: “Risiko” von Gerd Gigerenzer.

  15. #15 rolak
    7. September 2015

    Nachhilfe

    ach was, Withold, war sozusagen nur ein Abfallprodukt des anekdotischen Belegens meines Textes 😉

  16. #16 Dampier
    7. September 2015

    Interessanter Einblick in eine mir unbekannte Welt. Gut geschrieben.
    Um es ganz zu verstehen müsste ich den Artikel wohl richtiggehend studieren 😉

  17. #17 Basilios
    Trinity Seven
    7. September 2015

    Schöner Artikel, Orci. Hat mich gut unterhalten und war sehr interessant.
    Danke dafür.

  18. #18 Connie
    Hannover
    7. September 2015

    Was würde eine Risikoabschätzung für einen tödlichen Unfall bei einer bemannten Mondlandung ergeben?

    Man würde einen “sehr großen” Wert erhalten, denn bereits die unbemannten Missionen Pioneer, Surveyor und Ranger hatten hohe Ausfälle.

    Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass die
    Mondlandefähre gefahrlos aufsetzt?

    Angeblich gab es im Landegebiet von Apollo 11 ungeeignete Plätze, denn Neil Armstrong zog die Landefähre vor dem Aufsetzen noch einmal nach oben.

    Aufgrund vielfältiger Gefahren liegt meine persönliche Abschätzung bei 98%. Und mit solchen Werten schickt man keine Menschen zum Mond sondern läßt sich eine Ersatzlösung einfallen.

    GvC

  19. #19 PDP10
    7. September 2015

    Zum Deppen: Bitte ignorieren!

    Zum Artikel. Super!

  20. #20 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    @Connie: Dieses hohe Risiko war der NASA damals durchaus bewusst. Ich sah letztens eine Doku mit einem Interview, dass die Traueransprache des Präsidenten schon längst in der Schublade lag und Apollo 12 es dann einfach nochmal versucht hätte. Und dann Apollo 13… Man hatte ja Kennedys Versprechen zu erfüllen.

    Wenn sie auch noch 1,5 Jahre Zeit gehabt hätten. Das Ende der Dekade war ja erst am 31.Dez 1970…

    Damals war kalter Krieg, und da wurden solche menschlichen Verluste nicht gerne, aber durchaus freiwillig hingenommen.

  21. #21 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    Ach, und danke für den Artikel! Ich werde ihn nochmal genauer durchlesen müssen.

  22. #22 Martin
    8. September 2015

    Sehr guter Artikel!

    Beim nächsten mal aber bitte deutlich stärker auf Abkürzungen verzichten. Ein Satz wie “Das verbliebene Restrisiko ist das Produkt aus Dn, Pn und PFD bzw. PFH des Schutzsystems.” Wird sonst entweder zu einer Tortur weil er den lesefluss zerstört während man jede Abkürzung noch mal nachschlägt um sicher zu gehen das man sie icht verwechselt, oder man überließt den satz eben und steigt dabei aus.

    Ansonsten: weiter so!

  23. #23 Crazee
    8. September 2015

    @meregalli #10 und rolak #12:
    Dies ist aber ein dedizierter BLOG-Schreibwettbewerb, bei dem Florian extra darauf hingewiesen hat, dass die Möglichkeiten dieses Mediums gerne genutzt werden dürfen.

  24. #24 meregalli
    8. September 2015

    @crazee
    Das stimmt schon, deswegen ist die Verlinkerei aber nicht obligat. Ich könnte in meinem Text locker 50 Begriffe verlinken, dann wär das wirklich unleserlich. Und wenn ich dir sage: de gustibus non est disputandum,- kannst du trotzedem innerhalb von wenigen Sekunden nachschaun, was ich damit meine.

  25. #25 Orci
    8. September 2015

    Hallo zusammen und erst mal danke für die ganzen Rückmeldungen!

    Ich will mal versuchen, ein paar Fragen zu antworten:

    @#1:
    ein paar der Fremdwörter hätte man für ein Blogpublikum noch weglassen können (pekuniär/Ex falso quodlibet…)

    Wörter wie pekuniär halte ich nicht für so fremd – “Pecunia non olet” ist doch ein geflügeltes Wort. Und wer’s nachguckt, hat gleich was für seine Allgemeinbildung getan 🙂
    Statt Schweinelatein hätt ich natürlich auch die deutsche Bedeutung schreiben können, aber – siehe oben.

    Die paar Abkürzungen die ich benutze, stehen unmittelbar hinter dem erklärenden Wort in Klammer. Zugegeben: Hätt ich das umgekehrt gemacht, also z.B. “…die PFD (mittlere Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderung) ist…” oder geschrieben “… die mittlere Ausfallwahrscheinlichkeit bei Anforderung (PFD) ist…” wär das verständlicher gewesen.

    Links hätt ich tatsächlich einige einfügen können. Ich gelobe Besserung und schreibe vielleicht noch ein paar in die Kommentarspalte.

    @#5:
    Es kündigen sich ja demnächst selbstfahrende Autos an und viele Leute sind skeptisch, weil die ja Unfälle verursachen könnten, die Sensorik und ihre Datenverarbeitung kann ja immer mal etwas übersehen (deswegen wird noch eine Weile der Fahrer alles überwachen und zur Not eingreifen müssen). Hier gilt: spätestens wenn die Fahrzeuge weniger (schwere) Unfälle verursachen, als solche ohne Selbstfahrautomatik, werden die Versicherungen das honorieren.

    Genau das denke ich auch! Und ehrlicherweise freu ich mich darauf. Ich bin 31 – ich würde mich wundern, wenn ich selbstfahrende Autos nicht noch im Laufe meines Berufslebens sehen würde.

    @#6:
    Sehr gut!

    Danke!!

    Dazu fällt mir ein “schwebendes Verfahren” ein: die Kohlenmonoxidleitung von Bayer ( https://de.wikipedia.org/wiki/CO-Pipeline_der_Bayer_AG ). Wie würde da so eine Rechnung aussehen?

    Diesen speziellen Fall kenn ich nur sehr sehr oberflächlich. Von meiner Warte aus ist das ziemlich weit weg und ich weiss zu wenig darüber, um wirklich ein Urteil bildung zu können. In Allgemeinplätze flüchte ich mich ungern. Ich kann also nur Vermutungen anstellen.

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass während der Risikoabschätzung eine Ausbreitungsrechnung bei Rohrbruch gemacht wurde. Das dürfte der Worst Case sein. Man kennt ja die Betriebsbedingungen (Druck, Temperatur, Durchfluss), kennt die eigenschaften des Gases und kann so ausrechnen, in welchem Abstand von der Leckstelle die CO-Konzentration in der Luft ungefährlich ist. Daraus dürfte sich dann ein Korridor für die Verlegungen ergeben, der an ständig besiedeltem Gebiet vorbeiführt. In der Industrie unterscheidet man zwischen ständig und nicht ständig besetzten Arbeitsplätzen um abzuschätzen, wie oft ein gefährlicher Zustand zum Personenschaden führen könnte. Ich vermute, dass man das bei Wohngebieten, Straßen, Bahnverbindungen, etc. ähnlich macht.

    Grundsätzlich ist die Rechnung selbst in der Regel das kleinste Problem – die Läuft auf Multiplizieren hinaus. Schwieriger ist es, alle Faktoren mit ausreichender Sicherheit zu kennen.

    Und wie kommuniziert man ein solch komplexes und mit Emotionen beladenes Thema mit den Anwohnern?

    Gute Frage. Damit musste ich mich bisher noch nicht beschäftigten. Ich hab in anderen Zusammenhängen die Erfahrung gemacht, dass man Leute am ehesten auf seine Seite zieht, wenn man ihnen erklärt, was man macht und auf ihre Fragen eine bessere Antwort hat als “Wir wissen, was wir tun”.
    Allein von guten Worten lässt sich aber kaum jemand überzeugen. Ruhige Sprechweise, Vermeiden von Polemik, aufgreifen und beantworten der Sorgen und Nöte des Gegenübers helfen ungemein. Auch wenn’s ein bisschen nach Seelsorge klingt, aber man muss die Leute in ihrer Lebenswirklichkeit abholen. Viele haben Angst vor Technik, manche wollen einfach keine Anlagen in ihrer Nähe haben, andere sind notorische Querulanten (manchmal werden die gar erst zum Motor des Widerstandes). Die Leute wollen in der Regel mitreden, miteinbezogen werden, das Gefühl haben, an der Entscheidung beteiligt zu sein. Wenn man frühzeitig auf alle Beteiligten zugeht, sie alle ins Boot nehmen kann, dann hat man schon viel erreicht. Das gilt im Übrigen nicht nur für die Öffentlichkeit – die Betriebsmannschaft einer Anlage kann sich genauso gegen Veränderungen ihrer gewohnten Umwelt stemmen, auch wenn sie sich unterm Strich positiv auswirken.
    Was auf jeden Fall nicht hilft, ist polemische Überheblichkeit – “gegen Ideologie kommt man mit Wissen halt nicht an”. Genausowenig paternalistisches Mitleid – “die Wissen’s halt nicht besser”.
    Das sind allerdings nur meine unmaßgeblichen Erfahrungen – eine Patentlösung hab ich auch nicht.

    @#8:
    Die Eliminierung/Verminderung des Risikos zur Erhöhung der Sicherheit bedeutet Einschränkung der Freiheit des Individuums und der Gesellschaft, – dh mehr Sicherheit auf Kosten der Freiheit, oder mehr Freiheit auf Kosten der Sicherheit?

    Ein wichtiger Punkt war mir, dass auch das Schutzsystem Nebenwirkungen hat. Das Schutzsystem mag das Risiko für ein bestimmtes Szenario beliebig senken, wird vielleicht aber das globale Risiko dabei erhöhen. Deswegen ist gar nicht automatisch sinnvoll, es immer so auszulegen, dass es auch die schwersten Unfall beherrscht, wenn dadurch über die Zeit mehr Schaden angerichtet wird.
    Beziehen wir das ruhig mal auf die Sozialsysteme: Mir wird jeden Monat ein großer Teil meines Entgelts mit Gewalt weggenommen und so verteilt, dass ich das gar nicht nachvollziehen kann. Dafür muss ich mir keine Sorgen machen, dass z.B. bei einem Unfall meine Krankenhausrechnung bezahlt wird, dass ich bei Arbeitslosigkeit hungern müsste, dass die Straßen gut sind, auf denen ich fahre, etc. Die Freiheit, die mir durch den Sozialstaat genommen wird, ermöglicht mir erst eine ganze Reihe von Vorteilen, die es ohne nicht gäbe.
    Würde der Sozialstaat aber so stark ausgebaut, dass er alle Sorgen und Nöte der Menschen elimieren könnte, dann würden die Belastungen für den Einzelnen so gewaltig, dass er unter seinem eigenen Gewicht zusammenbrechen würde. Absicherung gegen den größten Schaden kann der beste Weg sein und ist es auch oft, aber keinesfalls immer.

    Mangelnde Gefährdungs- und Produktehaftung ist ein Geschäft mit dem Risiko auf Kosten des Konsumenten, der Gesellschaft.

    Das denke ich in ähnlicher Form auch. Joachim Starbatty hat dazu vor einiger Zeit mal einen interessanten Vortrag gehalten. Ich such den Link raus und dann poste ich ihn hier.
    Haftung ist aber primär kein technisches Problem, sondern ein juristisches und damit in einem gar nicht so weitgefassten Sinn ein gesellschaftliches.

    @#10:

    Dass einem manche Reglementierungen und Vorschriften im Alltag auf die Nerven gehen, ist sicher auch eine Frage der Generation. Für mich, für den es anfangs selbstverständlich war, ohne Sicherheitsgurt zu fahren ist es wenig verständlich, dass nun mein Wagen, der auch nicht mehr neu ist, bei einem defekten Seitenairbag die Verkehrszulassung verliert.

    Das Kommt nur auf Gewöhnung an
    So nimmt ein Kind der Mutter Brust
    Nicht gleich zu Anfang willig an
    Doch bald ernährt es sich mit Lust

    Es ist ganz sicher eine Frage des Alters. Im Lauf des Lebens erlebt man immer mehr neue Regeln, die für die eigenen Kinder schon ganz selbstverständlich sind. Die erleben dann auch wieder neue Regeln, wenn sie älter werden und deren Kinder…ich denke, man sieht, worauf ich hinaus will.
    Ohne jetzt ganz philosophisch werden zu wollen: Niemand sagt uns, wie wir etwas machen sollen. Wir müssen die Wahrheit selber finden. Auf die Technik umgemünzt heißt das, dass wir immer nur mit Wahrscheinlichkeiten umgehen, nie mit Sicherheiten und wir deswegen unser Methoden im Laufe der Zeit immer wieder an neues Wissen anpassen müssen. Bis in die 70er Jahre hat niemand im Chemieanlagenbau Risikoabschätzungen mit der Stringenz gemacht, wie sie heute üblich ist oder sich gewundert, warum er ohne Gurt Auto fährt. Heute ist es umgekehrt. Natürlich bedeuten mehr Regeln mehr Arbeit für alle Beteiligten, aber unterm Strich kann man sicher sagen, dass sie oft genug im Laufe der Zeit viele Menschenleben retten.

    @#11:
    Das Risiko-Paradox von Ortwin Renn

    Das kenn ich nicht – kannst Du das kurz umreissen?

  26. #26 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    @Orci: “Was auf jeden Fall nicht hilft, ist polemische Überheblichkeit – “gegen Ideologie kommt man mit Wissen halt nicht an”. Genausowenig paternalistisches Mitleid – “die Wissen’s halt nicht besser”.”

    Kennst Du noch die Firma Hoechst? Die ist genau so zugrunde gegangen: An ihrer Überheblichkeit gegenüber der Öffentlichkeit.

  27. #27 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    In einem anderen Blog sprach jemand von Zuständen, die er kriegt, wenn er (sinngemäß) kettenrauchende Mütter Lotto spielen sieht, sich über ElektroSmog beschweren und ihr Kind an der Hand (in der Rauchwolke) haben.

  28. #28 Adent
    8. September 2015

    @BreitSide
    Das war ich und das Kind kam von Ursula dazu 😉
    Ich hatte gerade diesen Artikel gelesen und dort (bei Jürgen) ging es um die Risikoabschätzung in Bezug auf grüne Gentechnik. Daraufhin habe ich mal gewagt die Relativität der Risikoeinschätzung von Menschen darzustellen, was man persönlich als Risiko sieht und wie klein das im Vergleich zum Beispiel zum Risiko beim Rauchen oder der Chance auf einen 6er im Lotto ist.
    Das “in der Rauchwolke und den Elektrosmog” hast du aber a la stille Post frei dazu assoziiert 😉

  29. #29 BreitSide
    Beim Deich
    8. September 2015

    Hehe, ja, ich schrub ja auch “sinngemäß”… 😉

  30. #30 Dampier
    8. September 2015

    @Orci danke für die Erklärungen, das ist wirklich interessant und aufschlussreich.

    Da muss ich immer an die ‘Terrorgefahr’ denken. Unsere Regierungen scheinen das Risiko von Terroranschlägen extrem hoch einzuschätzen, so dass sie sogar Abbau von Bürgerrechten und massenhafte Überwachung für gerechtfertigt halten (und große Teile der Bevölkerung sehen das ja leider auch so).

    Ich höre oft das Argument, es habe in Deutschland in den letzten 20 jahren mehr Tote durch Wespenstiche gegeben als durch Terroranschläge (von Auotverkehr und Krankenhauskeimen gar nicht zu reden). Ich seh das auch so, dass die Terrorgefahr auf einer Liste der Alltagsrisiken sehr weit hinten landen würde.

    Ich habe aber nie eine seriöse Risikoabschätzung dazu gefunden. Gibt es sowas?

    Ich habe versucht, dein System darauf anzuwenden, bin aber nicht weit gekommen. Wie würde man sowas rechnen?

    Ich würde zu gern unseren Regierenden vorrechnen, dass diese ganzen Maßnahmen (bald soll man z. B. nicht mehr anonym Bahn fahren dürfen) durch die bloße Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlages nicht gerechtfertigt sind. Und selbst wenn – rein technokratisch gesehen wäre ja selbst ein Terroranschlag alle paar Jahre nicht schlimmer als viele andere Alltagsrisiken, die wir (mehr oder weniger) sehenden Auges in Kauf nehmen.

    grz
    Dampier

  31. #31 phunc
    8. September 2015

    @Dampier

    “Ich würde zu gern unseren Regierenden vorrechnen, dass diese ganzen Maßnahmen durch die bloße Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlages nicht gerechtfertigt sind.”

    Du glaubst ja wohl nicht, dass die aufgrund einer solchen Rechnung auf einmal einsichtig werden?

    Davon abgesehen sind die Maßnahmen doch gar nicht zur Terrorabwehr gedacht.

  32. #32 Dampier
    8. September 2015

    @phunc, ist mir schon klar – ich hätte einfach gern mal belastbare Zahlen, weil ich das Argument erstmal ziemlich gewichtig finde.

    Davon abgesehen sind die Maßnahmen doch gar nicht zur Terrorabwehr gedacht.

    Immerhin könnte man genau die Aussage mit einer seriösen Risikoabschätzung evtl. belegen.

  33. #33 Ludger
    9. September 2015

    @#11:
    Das Risiko-Paradox von Ortwin Renn

    Das kenn ich nicht – kannst Du das kurz umreissen?

    Hat mich auch interessiert. Deswegen habe ich mal “gegoogelt”.
    Es gibt zum Thema auf Youtube Vorträge vom Autor zum Thema des Buches: ( https://www.youtube.com/watch?v=aP80mShNDvE )
    Prof. Dr. Dr. h.c. Ortwin Renn: Warum wir uns vor dem Falschen fürchten (VolkswagenStiftung). Er zählt Beispiele auf und führt die Fehleinschätzung auf Bedingungen unserer Evolution zurück.

  34. #34 Rüdiger Kuhnke
    München
    9. September 2015

    @ orci
    Klappentext zum Buch: “Wir meinen ständig neue Gefahren zu erkennen – Vogelgrippe, Schweinepest, Elektrosmog, Kriminalität und dergleichen begegenen uns fast täglich in den Medien. Die Angst vor solchen ‘falschen’ Gefahren verstellt den Blick auf die ‘echten’ Risiken, die uns und unsere Nachwelt bedrohen […] Renn zeigt, welches diese sind, warum wir sie unterschätzen und wie wir verantwortungsvoll mit ihnen umgehen können.”
    Wenn es auch nicht um so konkrete Abschätzungen und Berechnungen geht wie in deinem Artikel (den ich in mein Studienarchiv aufgenommen habe), so bietet es doch eine umfangreiche (600 Seiten) Sicht auf den Themenkomplex “Risiko” und seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit.

  35. #35 BreitSide
    Beim Deich
    9. September 2015

    Naja, da wird ja Einiges zusammengeworfen, was nicht zusammen gehört.

    ESmog gehört natürlich definitiv zu den nicht-Gefahren, da gibt es in der Wissenschaft keinen Dissens mehr.

    Vogelgrippe und Schweinepest sind dagegen ein typisches Beispiel von “nachher ist jeder schlau”.

    Ja, man hat mehr Schäden befürchtet als – nachträglich – aufgetreten sind. Die Befürchtungen waren aber durchaus berechtigt. Ich möchte nicht wissen, welches Geschrei aus den selben Quellen gekommen wäre, wenn die Sache mehr Opfer gefordert hätte. Bei Ebola hat man es ja schön (ahem…) gesehen. Da haben sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, die von Ärzte ohne Grenzen. Die WHO hatte eher die mäßigeren Szenarien vertreten.

    Wie gesagt, nachher ist jeder schlau.

  36. #36 Orci
    11. September 2015

    Kennst Du noch die Firma Hoechst? Die ist genau so zugrunde gegangen: An ihrer Überheblichkeit gegenüber der Öffentlichkeit.

    Ja, ich kenne Hoechst – aber der Konzern hat sich schon in meiner Kindheit buchstäblich selbst zerlegt. Hoechst ist damals den selbstgewählten Weg der Entflechtung gegangen: Statt in einem Verbundstandort als ein Unternehmen Wert zu schöpfen war man der Meinung, dass das viel besser geht, wenn jeder Betrieb gleich eine rechtlich eigenständige Gesellschaft wird. Der Rest ist Gechichte – ähnlich wie Hoechst.

    In einem anderen Blog sprach jemand von Zuständen, die er kriegt, wenn er (sinngemäß) kettenrauchende Mütter Lotto spielen sieht, sich über ElektroSmog beschweren und ihr Kind an der Hand (in der Rauchwolke) haben.

    Und mit Recht. Aber Extrembeispiele wird man immer finden. Viel beunruhigender finde ich, wenn intelligente, gebildete Menschen, die sich der Gefahren von Alkohol, Zigaretten und des Straßenverkehrs wohl bewusst sind, wirkliche Furcht vor Nicht-Gefahren wie Gentechnik, Elektrosmog oder Infraschall (Bei dem Thema kocht regelmäßig meine Galle) haben. Wie man an die Leute ran kommt, hab ich auch noch nicht rausgefunden.

    Da muss ich immer an die ‘Terrorgefahr’ denken. Unsere Regierungen scheinen das Risiko von Terroranschlägen extrem hoch einzuschätzen, so dass sie sogar Abbau von Bürgerrechten und massenhafte Überwachung für gerechtfertigt halten (und große Teile der Bevölkerung sehen das ja leider auch so).

    Ich höre oft das Argument, es habe in Deutschland in den letzten 20 jahren mehr Tote durch Wespenstiche gegeben als durch Terroranschläge (von Auotverkehr und Krankenhauskeimen gar nicht zu reden). Ich seh das auch so, dass die Terrorgefahr auf einer Liste der Alltagsrisiken sehr weit hinten landen würde.

    Ich habe die Vermutung, dass in absoluten Zahlen allein in Deutschland jedes Jahr mehr Menschenleben gerettet werden könnten, wenn jeder die Grippeschutz-Impfung in Aspruch nimmt oder Krankenhäuser mit genügend Reinigungsmitteln, Einmal-Handschuhen und täglich 15 Minuten mehr Zeit, sie zu nutzen ausgestattet würden, als weltweit bei Terroranschlägen vernichtet werden.

    Ich würde zu gern unseren Regierenden vorrechnen, dass diese ganzen Maßnahmen (bald soll man z. B. nicht mehr anonym Bahn fahren dürfen) durch die bloße Wahrscheinlichkeit eines Terroranschlages nicht gerechtfertigt sind. Und selbst wenn – rein technokratisch gesehen wäre ja selbst ein Terroranschlag alle paar Jahre nicht schlimmer als viele andere Alltagsrisiken, die wir (mehr oder weniger) sehenden Auges in Kauf nehmen.

    Ich denke, Du hättest gute Chancen, richtig zu rechnen.

    Ja, man hat mehr Schäden befürchtet als – nachträglich – aufgetreten sind. Die Befürchtungen waren aber durchaus berechtigt. Ich möchte nicht wissen, welches Geschrei aus den selben Quellen gekommen wäre, wenn die Sache mehr Opfer gefordert hätte. Bei Ebola hat man es ja schön (ahem…) gesehen. Da haben sich die schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet, die von Ärzte ohne Grenzen. Die WHO hatte eher die mäßigeren Szenarien vertreten.

    Ich denke auch, dass die Schweine- bzw. Vogelgrippe gute Beispiele sind. Die Menschheit wurde schon so oft von Seuchen heimgesucht und die spanische Grippe ist gerade 90 Jahre her.

    Das ist einer der Fallstricke von Risikomanagement: Wenn Du alles richtig gemacht hast, merkt man nichts davon.
    Es gibt ja den schönen Spruch: “Tu Gutes und Rede darüber”, aber der kann in diesem Fall leicht nach hinten losgehen – den Fachleuten, die vor den diversen asiatischen Grippen gewarnt haben, werden ihre Worte heute eher nachteilig ausgelegt.

    In diesem Zusammenhang: Das Windscale-Feuer war an sich schon eine Katastrophe. Gerade zu unvorstellbar wird es, wenn man bedenkt, dass die Filter am oberen Ende der Kamine, die den Großteil der kontaminierten Partikel zurückhielten erst nachträglich und auf Drängen von John Cockcroft eingebaut wurden. Wegen der großen Kosten nannte man sie Cockcroft’s Folly. Nach dem Brand schien diese Bezeichnung nicht mehr sehr angebracht.

  37. #37 Orci
    11. September 2015

    Erfreulich auch, wie auf die Mega-Katastrophen der letzten Jahrzehnte Bezug genommen worden ist.

    Ich finde, wer vom Nutzen spricht, darf vom Schaden nicht schweigen. Wenn Menschen erst merken, dass man ihnen etwas verheimlicht, kommt man kaum noch an sie ran.
    Frei nach Morissey:

    There’s always someone somewhere with a big nose who knows and who’ll trip you up an laugh when you fall – Who’ll trip you up and laugh when you fall!

  38. #38 Orci
    14. September 2015

    ie versprochen ein paar vielleicht ganz interessante Links:

    Probabilistische Risikoanalye – einen kleinen Einblick habe ich hier ja schon zu geben versucht

    Normale Katastrophen – ein sehr gutes Sachbuch zum Thema

    Ein Vortrag von Joachim Starbatty zum Thema Moral Hazard

  39. #39 BreitSide
    Beim Deich
    14. September 2015

    Danke für die Links!

    Starbatty – kein Wunder, dass der bei der AfD raus ist.. Hat wohl – wie manch Anderer – erst recht spät erkannt, was für Kanaillen er sich da eingehandelt hat.

  40. #40 Orci
    16. September 2015

    Schön gesagt. Starbatty war auf jeden Fall einer der wirklich engagierten Leute bei der AFD. Auf mich hat er den Eindruck gemacht, als ginge es ihm tatsächlich um mehr, als seine eigenen Pfründe zu sichern.

    Was man ihm lassen muss: Er hat eine Meinung und die kann er begründen. Und wenn man seinen Schlüssen auch nicht folgen muss, kann man zumindest sicher sein, dass das kein völliger Quatsch ist, was er so erzählt.

    In meinen Augen gehört er zur Riege jener FDP, für die liberal vor allem wirtschaftsliberal heißt und die aus der Finanzkrise von 2008 oder der seit vielen Jahren bestehenden Schieflage der sozialen Marktwirtschaft so gut wie nichts gelernt hat. Was er zum Moral Hazard sagt, finde ich sehr plausibel und klar gedacht. Was er von (De)Regulierung, staatlichen Institutionen und Globalisierung und anderen Dingen hält, würde ich nicht so vorbehaltlos unterschreiben.