“Ich hoffe, das Ding explodiert und zerstört die Idioten die es gebaut haben.”
“Lasst es ausgeschaltet, spielt nicht Gott. Lebt in Einklang mit der Natur, Physik wird uns in den Untergang führen.”
“Etwas unerwartetes könnte passieren und das wäre unser Ende. Ich denke nicht, dass unsere hart erarbeiteten Steuergelder zur Unterstützung eines Haufens verrückter Wissenschaftler eingesetzt werden sollten.”
“Alle sollten fasten und beten damit diese dämonischen Leute aufgehalten werden, bevor sie die Erde zerstören.”
Das ist nur eine kleine Auswahl der Kommentare, von denen die Facebook-Seite des europäischen Kernforschungszentrum CERN in den letzten Tagen regelrecht überschwemmt wird. Sehr viele Menschen sind davon überzeugt, das dort demnächst irgendetwas Katastrophales passieren wird. Ein Dimensionstor soll geöffnet werden; ein “Portal” in ein anderes Universum. Schwarze Löcher sollen uns alle zerstören; die Welt wird untergehen – und so weiter. All das wird angeblich am 23. September 2015 passieren.
Und noch viel mehr: Ein “Blutmond” wird als letztes Zeichen einer biblischen Prophezeiung auftreten und das “jüngste Gericht” mit der Wiederkehr Jesu einleiten. Ein Asteroid wird mit der Erde kollidieren. Die Wirtschaft wird kollabieren und mit ihr die gesamte Zivilisation. Das Ende der Welt steht also wieder mal bevor…
Natürlich ist das alles kompletter Unsinn und es wird überhaupt nichts passieren. Genau so wie bei den unzähligen Weltuntergangsvorhersagen die in den letzten Jahrhunderten ebenfalls nicht eingetreten sind. Aber die CERN/Blutmond-Geschichte gehört leider zu denen, die aus (zumindest mir) nicht nachvollziehbaren Gründen eine mediale Eigendynamik entwickelt haben, sich mittlerweile rasend schnell in den sozialen Netzwerken verbreiten und teilweise auch schon in die normalen Medien hinüber schwappen.
Und es ist immer wieder erstaunlich, wie sich aus ganz harmlosen Meldungen und Fakten völlig absurde Weltuntergangs- und Verschwörungstheorien entwickeln die dann von einer Vielzahl an Menschen komplett unkritisch verbreitet und vor allem vorbehaltlos geglaubt werden.
Die Sache mit dem “Dimensionstor” am CERN ist ein gutes Beispiel dafür. Man sieht daran vor allem sehr schön, wie sich viele völlig unterschiedliche “Fakten” zu einer ganz neuen Verschwörungstheorie zusammenfinden.
Behauptungen, dass der Teilchenbeschleuniger LHC am CERN für den Weltuntergang sorgen würde, existieren ja schon länger. Schon lange vor dem Start der Anlage 2008/2009 gab es entsprechende Verschwörungstheorien, laut denen dort angeblich die Gefahr bestünde, ein schwarzes Loch zu erzeugen, dass dann die Erde zerstört. Ich habe mich damit damals sehr ausführlich auseinander gesetzt und im Detail erklärt, warum das nicht möglich ist: “Der LHC ist nicht gefährlich”
Aktuell geht es aber nicht um schwarze Löcher, sondern um das ominöse “Dimensionstor”. Der einschlägig bekannte Kopp-Verlag hat auf seiner Homepage zum Beispiel Mitte August einen Artikel mit dem Titel “Öffnet die Europäische Organisation für Kernforschung ein Portal zu einer anderen Dimension?” (WebCite) veröffentlicht. Darin wird zum Beispiel behauptet:
“Aus aller Welt melden sich Forscher mit Mahnungen. Sie befürchten, die bizarren Experimente, die am CERN-Standort in der Schweiz stattfinden, könnten ein schwarzes Loch aufreißen, den gesamten Planeten vernichten oder ein Portal in eine andere Dimension öffnen.”
Und die Geschichte vom “Dimensionstor” soll sogar von einem “ranghohen” CERN-Mitarbeiter stammen. Und zwar Sergio Bertolucci, der (mit Verweis auf diese Quelle, WebCite) folgendes gesagt haben soll:
“Ein ranghoher Mitarbeiter am Large Hadron Collider (LHC) sagte, die gewaltige Maschine werde möglicherweise bislang unvorstellbare wissenschaftliche Phänomene erschaffen oder entdecken, ›unbekannte Unbekannte‹ wie beispielsweise ›eine zusätzliche Dimension‹ ›Vielleicht kommt etwas durch diese Tür oder wir schicken etwas durch sie hindurch‹, erklärte Sergio Bertolucci diese Woche im CERN-Hauptquartier gegenüber Reportern. Bertolucci ist der wissenschaftliche Leiter des CERN.”
Und auch der berühmte Stephen Hawking soll vor der Vernichtung des Universums gewarnt haben, die bei der Erzeugung von “Higgs-Teilchen” im Beschleuniger stattfinden könnte. Weitere mysteriöse Fakten: Am CERN steht eine Statue des hinduistischen Gottes Shiva, dem “Zerstörer des Universums”.
Kann das alles Zufall sein? Angeblich nicht und es kommt noch viel schlimmer. Im in der Verschwörungstheoretikerszene populären Blog des wegen Volksverhetzung verurteilten Ernst Köwing kann man noch viel wildere Dinge lesen: “CERN – Das Dimensionstor soll im September hochgefahren werden” (WebCite). Da kann man lesen:
“Im September soll CERN erstmals seit seiner Existenz auf volle Hochleistung gefahren werden. Was soll damit bezweckt werden? Der Versuch dunkle Materie zu erzeugen und Phänomene wie Raum-Zeit-Brüche zu erzeugen sind wohl nur die Oberfläche des ganzen. Es handelt sich bei dem ganzen Ausmass wohl um eine von den Illuminaten und dem Vatikan kontrollierten Raumhafenverstärker und Manipulationsanlage.”
Und es ist ja tatsächlich so, dass der LHC Anfang September abgeschaltet wurde, um Renovierungsarbeiten durchzuführen, wie das CERN selbst berichtet. Bereitet man sich also nun dort wirklich auf einen Neustart am 23. September 2015 mit nie geahnten Energie vor, bei dem man ein Portal in eine fremde Dimension öffnen will?
Nein. Natürlich nicht. An dieser ganzen Geschichte ist nichts dran, was man auch leicht erkennt, wenn man ein bisschen recherchiert.
Sergio Bertolucci existiert tatsächlich. Er ist derzeit dort “Director for Research and Computing”, gehört also zu den führenden Wissenschaftlern. Und als im Jahr 2009 der Beschleuniger gestartet wurde, hat er offensichtlich in einem Video über die zu erwartenden Forschungsergebnisse gesprochen (Ich habe bis jetzt nur diese Quelle dafür ausfindig machen können, die aber nicht die Primärquelle ist – vielleicht hat da ja noch jemand sachdienliche Hinweise). Darin sprach er wohl über die “Extradimensionen”, die tatsächlich zu den spektakulären Vorhersagen der modernen Physik gehören, die am LHC theoretisch bestätigt werden könnten.
Wer wissen will, worum es dabei geht, kann diesen Artikel lesen, den ich zu dem Thema geschrieben habe. Das Wort “Dimension” bedeutet in der Wissenschaft nicht unbedingt das, was es in der Alltagssprache bedeutet und vor allem nicht das, was es in der Science-Fiction-Literatur gerne bedeutet. Wenn die Physiker von “Extradimensionen” sprechen, dann meinen sie damit keine “fremden Universen” aus denen irgendwas zu uns kommen könnte. Hier geht es um subatomare Effekte, die zum Beispiel dafür sorgen könnten, dass sich die physikalischen Gesetze ein wenig anders verhalten als wir das bisher gewohnt sind, wenn man sie auf ganz kleinen Skalen betrachtet. So etwas könnte man bei den Experimenten am CERN messen und wenn das passiert, wäre das ein großartiger Fortschritt für die Physik.
Die Physiker am CERN machen also das, was Physiker eben so machen: Sie probieren das Universum zu verstehen und herauszufinden, nach welchen Naturgesetzen es funktioniert. Es geht definitiv nicht darum, irgendwelche “Portale in andere Welten” zu öffnen. Das mag in Science-Fiction-Geschichten funktionieren; die reale Wissenschaft ist dazu aber definitiv nicht in der Lage.
Auch Stephen Hawkings angebliche Vorhersage, dass die Experimente am CERN durch die Produktion von Higgs-Teilchen das Universum zerstören könnten, sind Unsinn. Da ich dieses Thema schon früher ausführlich in einem eigenen Artikel behandelt habe – “Warnung vor dem ‘Gottesteilchen’: Stephen Hawking befürchtet Kollaps des Universums” – möchte ich das hier nicht noch einmal erklären.
Aber wie ist das mit der Statue von Shiva? Warum stellt sich ein physikalisches Institut die Statue eines Gottes vor die Tür, der als “Zerstörer des Universums” bekannt ist? Nun, die Statute steht dort tatsächlich. Sie wurde am 18. Juni 2004 aufgestellt (siehe hier) und war ein Geschenk der indischen Regierung. Der indische Botschafter hat sie ganz offiziell überreicht um die lange Zusammenarbeit zwischen Indien und dem CERN zu würdigen. Sie trägt Plaketten auf der man folgendes lesen kann (hier ist der komplette Text zu finden):
“Vor hunderten Jahren schufen indische Künstler eine wunderschöne Serie von Bronzestatuen des tanzenden Shiva. In der Gegenwart haben Physiker die fortgeschrittenste Technik benutzt, um die Muster des kosmischen Tanzes darzustellen. Die Metapher des kosmischen Tanzes vereint so alte Mythologie, religiöse Kunst und moderne Physik.”
Denn eigentlich ist es nicht “Shiva”, den die Statue zeigt, sondern Nataraja, eine der vielen Erscheinungsformen dieser Hindu-Gottheit. Shiva zeigt sich hier als “König des Tanzes”, dessen “kosmischer Tanz” den hinduistischen Zyklus von Schöpfung, Zerstörung und Wiedergeburt des Universums zeigt. So wie Nataraja also die hinduistisch-religiöse Vorstellung der Kosmologie repräsentiert, repräsentiert das CERN die moderne, wissenschaftliche Erforschung von Anfang und Ende des Universums. Und wenn Indien dem CERN ein Geschenk macht, dann ist eine Shiva-Statue durchaus passend und kein geheimes Zeichen irgendwelcher Weltuntergangsfantasien…
Aber diese Realität interessiert die Verschwörungstheoretiker und aufmerksamkeitsheischenden Apokalyptiker natürlich nicht. Und von den vielen Menschen, die deren Unsinn – leider – viel zu naiv in den sozialen Netzwerken verbreiten, sind leider auch wenige bereit, darüber nachzudenken und die Sache kritisch zu betrachten. Wenn es irgendwo im Internet steht oder in einem YouTube-Video erzählt wird UND noch dazu spektakulär-angstauslösend ist, dann wird jede Aussage für echt gehalten. Das mangelnde Wissen über Physik und Astronomie tut sein übriges und wenn dann auch noch die “normalen” Medien (zum Beispiel hier, hier, hier oder hier) das Thema aufgreifen, dann hilft das nicht unbedingt (denn das ja immer nur “ironisch” gemeint ist, kriegt leider auch nicht jeder mit).
Auf welche Weise auch immer hat sich jedenfalls wieder mal eine Weltuntergangstheorie entwickelt, die vermutlich nicht verschwinden wird, bevor der 23. September nicht vorbei ist. Bis dahin wird sie noch viele weitere Details entwickeln. Und keine noch so ausführliche Erklärung wird die Weltuntergangsfanatiker bzw. diejenigen, die ernsthaft Angst haben, davon abbringen, dass da vielleicht doch was passiert.
Dabei wäre es ganz einfach, die Angst vor diesem Unsinn los zu werden. Man muss sich nur ein wenig mit der Welt beschäftigen. Ein bisschen etwas über Physik und Astronomie lernen zum Beispiel und zwar auf eine vernünftige Art! Man könnte in die Stadtbücherei gehen und dort ein paar populärwissenschaftliche Bücher zum Thema lesen. Oder mal bei einem astronomischen Verein vorbei schauen und sich ein bisschen was vom Himmel zeigen lassen. Einen der vielen öffentlichen Kurse oder Vorträge über Wissenschaft besuchen, die überall von Universitäten und anderen Bildungseinrichtungen angeboten werden. In der Schule mit den Lehrern sprechen und sie bitten, diese Themen ausführlich im Unterricht zu behandeln (oder vielleicht sogar ein großes Projekt daraus zu machen). Möglichkeiten gäbe es viele – aber man muss sie halt auch wahrnehmen. Im Gegensatz zu Angst und Panik landet Wissen leider nicht von selbst im eigenen Kopf…
Die Welt wird am 23. September 2015 genau so wenig untergehen wie sie zu all den anderen in der Vergangenheit vorhergesagten Terminen untergegangen ist. Nicht durch ein “Dimensionstor” am CERN – und übrigens auch nicht durch den “Blutmond” und dem “Jüngsten Gericht”! Warum es sich bei der Mondfinsternis am 28. September 2015 um ein ganz normales Ereignis handelt, habe ich ebenfalls früher schon ausführlich erklärt: “Vier Mondfinsternisse und ein Weltuntergang: Die angebliche Apokalypse im Jahr 2015”. Und einen die Erde vernichtenden Asteroideneinschlag am 23. oder 24. September 2015 wird es auch nicht geben! Das erklärt nicht nur ganz offiziell die NASA sondern auch ich in einem weiteren Artikel: “Panik(mache) vor Asteroideneinschlag und Weltuntergang am 24. September 2015”.
Der 23. September 2015 wird ein ganz normaler Tag werden. Am CERN genau so wie anderswo. Ich werde vielleicht einen Kuchen für den zweiten Geburtstag meines Neffen backen. Am CERN werden die Physiker ihrer Arbeit nachgehen, so wie sie das auch an jedem anderen Tag machen. Und genau das sollten auch all diejenigen tun, die Angst vor dem Weltuntergang haben: Das, was sie auch sonst machen würden. Der 23. September ist ein ganz normaler Tag – und wenn ihr ihn trotzdem zu einem besonderen Tag machen wollt: Dann macht ihn zu dem Tag, an dem ihr damit anfangen habt, ein bisschen mehr über das Universum zu lernen!
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