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sb-wettbewerb
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In wissenschaftsphilosophischen und -theoretischen Diskussionen kann es zuweilen hoch hergehen, insbesondere dann, wenn solche nach 22 Uhr abends auf Cocktail-Partys zwischen Naturwissenschaftlern und denjenigen, die der Nüchternheit und Stringenz der wissenschaftlichem Methode weniger Vertrauen entgegenbringen, stattfinden. Nicht selten entzündet sich der Streit um einen Standpunkt, nach welchem jegliches physikalisches, biologisches oder gar gesellschaftliches System in seinen Eigenschaften vollständig durch die Merkmale seine Einzelbestandteile bestimmt werden kann. Die philosophische Terminologie bezeichnet diese Auffassung als „Reduktionismus“. Der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg hat sie einmal folgendermassen zusammengefasst:
Wenn die Wissenschaft abgeschlossen ist, werden alle Erklärungspfeile abwärts zeigen, von den Gesellschaften zum Menschen, von dort zu den Organen (wie dem Gehirn), zur Biochemie, zur Chemie und letztlich zur Physik und der endgültigen Theorie der Natur.

Im öffentlichen Diskurs (unter den auch die erwähnten Cocktail-Partys zu zählen sind) erhält dieser Begriff jedoch allzu oft eine eher verschwommene Bedeutung. Zumeist ist er in polemischer Absicht stark negativ konnotiert und wird von seinen Gegnern mit ebenso negativen Begriffen wie „Materialismus“ (alle Phänomene der Welt lassen sich auf Materie und deren Gesetzmässigkeiten reduzieren) oder „Szientismus“ (alle Phänomene und sinnvolle Fragen lassen sich ausschliesslich mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassen) gleichgesetzt. Max Weber „Entzauberung der Welt durch die Wissenschaft“ zitierend wird argumentiert, dass die zunehmend umfassender arbeitenden Naturwissenschaften immer mehr Bereiche der menschlichen Lebenswelt besetzen und dabei nicht-naturwissenschaftliche Beschreibungsweisen entwerteten. Zuletzt wird der Reduktionismus dann gar zu einem Dogma einer „imperialistisch verfahrenden Wissenschaft“. Als Gegenposition dazu gilt das philosophische Konzept des „Holismus“. Diese fordert eine ganzheitliche Betrachtung und fasst dies zusammen in dem vielzitierten Satz „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile”.

Die Auseinandersetzung zwischen Reduktionismus und Holismus reicht zurück bis in die Zeit der europäischen Aufklärung und die an sie angrenzenden Epoche der Romantik. Während so mancher Aufklärer in der Euphorie der neuen Newton‘schen Naturbeschreibung so weit ging, Tiere oder gar Menschen als reduktiv erklärbare Automaten zu sehen (am deutlichsten wohl Julien Offray de La Mettrie in seinem Werk „L’homme machine“ (1748; zu Deutsch: „Der Mensch als Maschine“)), betonten die Romantiker eine oft als mystisch bezeichnete Erfahrung des „Gefühls, Bestandteil eines grösseren Ganzen“ zu sein. Letztere formulierten die philosophische Vorstellung eines Zusammenfalls der Gegensätze zu einer Einheit, in der sich zuletzt jenseits aller augenscheinlicher Dualität die Widersprüche zwischen scheinbar Unvereinbarem auflösen sollten (solche sich zuletzt auf höherer Ebene vereinigende „Polaritäten“ waren generell ein wichtiger Bestandteil des Denkens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Vorläufer diese Auffassung finden wird aber bereits in den Fragmenten der Vorsokratiker wie Parmenides oder Heraklit, wo sich Gegensätze von Sein und Nicht-Sein auflösen, bei mittelalterlichen Mystikern wie Meister Eckhart und Cusanus, bei denen eine solche Einheit die Allgegenwärtigkeit Gottes beschrieb, welcher zugleich den Ort dieser Einheit darstellte, sowie in den Mahayana-buddhistischen Lehren des bedingten Entstehens (pratityasamutpada). Bezüge zu transzendenten Entitäten wie in der mittelalterlichen christlichen Mystik oder der Romantik im 19. Jahrhundert (sowie in Teilen der heutigen „New Age“-Bewegung) sind für Wissenschaftler allerdings nur sehr schwierig zu erfassen und methodisch zu akzeptieren. Sie argumentieren daher oft im Gegenzug, dass anti-reduktionistische Intuitionen durch veraltete metaphysische und theologische Vorurteile motiviert seien.

Dieser Diskussion ist in den letzten Jahren eine interessante neue Dimension hinzugefügt worden, und zwar – nicht ganz der Ironie entbehrend – von Seiten der mit dem Reduktionismus bisher am engsten verbundenen Disziplin: der Physik. Der in diesem Zusammenhang geprägte Begriff ist unterdessen zu wissenschaftsbegrifflicher Prominenz gekommenen: „Emergenz“. Emergent ist ein System, wenn es Eigenschaften besitzt, welche sich prinzipiell nicht aus den Eigenschaften seiner einzelnen Systemkomponenten ableiten lassen, was die Möglichkeit einer Reduktion zuletzt grundsätzlich ausschliesst. Beispiele aus der Physik sind Paramagnetismus (spontane Magnetisierung eines Stoffes in einem externen Magnetfeld), Supraleitung, Suprafluidität (Zustand einer Flüssigkeit ohne jede innere Reibung), Phasenübergänge (wie Gefrieren oder Schmelzen von Wasser), der fraktionale Quanten-Hall-Effekt, sowie einige andere quantenphysikalische Phänomene. Sie finden allesamt in makroskopischen Systemen statt, in denen nur wenige Grössen das Verhalten von Vielteilchen-Systemen bestimmen, die sehr plötzlich ihre Grösse ändern können, so genannte „Ordnungsparameter“. Auch viele Eigenschaften von Festkörpern wie Festigkeit oder Elastizität entstehen erst im Zusammenschluss sehr vieler Atome. Für einzelne Teilchen müssen wir diese Begriffe als schlicht sinnlos erachten.

In diesem Zusammenhang fällt zunehmend ein weiterer Begriff, welchen ursprünglich die verwirrenden Eigenschaften der Quantenphysik prägten: „Kontextualität“. Seit den 1920er-Jahren wissen die Physiker, dass Quantenobjekte keine eigenständige Form des Seins besitzen, zumindest keine, die sich veranschaulichen lässt. Erst durch Wechselwirkung mit einer Umgebung erhalten sie ihre konkrete Manifestation und Form. Mit anderen Worten, Quantenobjekte besitzen keine Realität an sich, sondern nur noch eine „kontextuell“, d.h. aus dem spezifischen Zusammenhang ihrer Umgebung, definierte Existenz. Biologen wiederum kennen die Phänomenologie von Emergenz und Kontextualität bereits seit längerem. Sie wissen, dass auf höheren Organisationsebenen Merkmale auftreten, die sich nicht aus Komponenten niedrigerer Ebenen hergeleitet lassen. So ist beispielsweise das Verhalten einer einzigen Ameise recht einfach. Sie folgt klaren, nahezu mechanischen Regeln der Nahrungssuche, Nestbau, Geruchsreaktionen, etc. Im Verbund (Kontext) vieler Ameisen entsteht allerdings eine Kolonie, die ein erstaunlich komplexes Verhalten aufweisen kann und sich sogar an veränderliche äussere Umstände anzupassen vermag.

Auch die Eigenschaften von lebenden Zellen sind nicht aus sich heraus, d.h. alleine aus den Eigenschaften ihrer selbst und ihrer Bestandteile, zu verstehen. Ohne die äusseren Umstände, den Kontext, in dem eine Zelle lebt, wie Nährumgebung, pH-Wert, andere Zellen, etc. kann das Verhalten einer Zelle kaum bestimmt werden. Wie die Genforscher unterdessen wissen, gilt das sogar auf Stufen unterhalb der Zelle. Sie vermögen unterdessen äussere, d.h. nicht in der DNA codierte Faktoren, zu bestimmen, welche die Aktivität von einzelnen Gens zu steuern vermögen. Mit andere Worten, ohne im Genotyp explizit vorzuliegen, beeinflussen diese ausserhalb der Genexpression wirkenden Faktoren den Phänotypen. Im Zusammenhang mit entsprechenden (erblichen) Veränderungen in der Genomfunktion, die zusätzlich zu den genetischen, d.h. direkt durch die mit der DNA-Sequenz gegebenen Bestimmungen wirken, und welche ihren Ursprung zumeist in Umwelteinflüssen haben, denen das Lebewesen ausgesetzt ist, sprechen Biologen von „Epigenetik“. Epigenetische Wirkungsmechanismen zeigen auf, was Psychologen, Pädagogen und Soziologen schon lange behaupten: Lebewesen sind weit mehr als das Ergebnisse ihrer Gene, sondern erhalten ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten immer auch durch Wechselwirkung mit der Umgebung, in der sie leben.

So schwingt die Diskussion um Reduktionismus und Holismus heute in wesentlich differenzierteren Tönen. Doch auch im 21. Jahrhundert werden die Diskussionen um die Erfassung der Natur kaum, wie noch in der Romantik gefordert, unter dem Primat von Empfindungen, Gefühlen und mystischer Intuition geführt. Und das „kalte und künstliche Experiment“ bleibt von Seiten der Wissenschaft das Mittel der Wahl, um zu tieferen Wahrheiten des Lebens und der Welt zu gelangen. Zugleich haben die Naturwissenschaftler erkannt, dass ihre Untersuchungsgegenstände Erscheinungen und Prozesse hervorrufen können, die eigengesetzliche Dynamiken zeigen, welche sich nicht mehr alleine aus den Eigenschaften ihrer Bestandteile erfassen lassen. Und einzelne Systeme wiederum weisen je nach ihrem Umfeld, in welchem sie sich befinden, ein sehr spezifisches und idiosynkratrisches Verhalten auf. So kann ein physikalisches System auf ganz nicht-mystische Art und Weise „Bestandteil eines grösseren Ganzen“ sein.

Doch noch immer können Anti-Reduktionisten auf so einige Felder verweisen, die noch nicht wissenschaftlich erfassbar sind und wohl selbst von denen, die sie als grundsätzlich wissenschaftlich erfassbar halten, kaum dahingehend charakterisiert werden, dass sie sich auf einfache Einheiten und Prinzipien reduzieren lassen. So wird das Bewusstsein bzw. der Geist oft als ein Phänomen angesehen, das sich grundsätzlich einer rein naturwissenschaftlichen oder gar reduktionistischen Beschreibung entzieht. Philosophen sehen den Grund dafür darin, dass mentale Zustände die Eigenschaft haben, „auf bestimmte Weisen erlebt zu werden“. Wenn man seine Hand in heisses Wasser hält, so laufen nicht nur bestimmte biologische Prozesse ab, sondern es tut schlicht auch weh. Die biologischen Prozesse alleine machen es kaum oder vielleicht gar nicht verständlich, warum wir so etwas wie Schmerzen erleben. Auf einer noch höheren Ebene wiederum lässt sich die moralische Bewertung von Handlung kaum naturwissenschaftlich beschreiben. Denn moralische Begriffe sind normativ, ganz im Gegensatz zur deskriptiven Natur naturwissenschaftlicher Beschreibungen. Gleiches gilt für ästhetische Eigenschaften.

So bleibt uns eine schon über 200 Jahre währende Diskussion erhalten. Doch wird derjenige, der die Argumente und Entwicklungen in dieser Diskussion sorgfältig verfolgt, erkennen, dass die Fronten nicht mehr ganz so klar definiert sind wie noch vor 200 oder gar 100 Jahren. Weder sollte die Wissenschaft als „imperialistisch-indoktrinativ“ polemisiert, noch jegliche antireduktionistische Intuition sogleich mit veralteten metaphysischen und theologischen Motiven identifiziert werden. Es lohnt sich für beide Seiten durchaus, die für eine sorgfältigere Differenzierung notwendigen Mühen auf sich zu nehmen.
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Hinweis zum Autor: Dieser Artikel wurde von Lars Jaeger geschrieben: “Ich lebe in Zug (Schweiz) und führe meinen eigenen Blog unter https://larsjaeger.ch/?cat=19&lang=de. Ich habe am Max-Planck-Institut für Physik Komplexer Systeme in Dresden promoviert und dann einige Zeit in der Forschung, später dann in der Modellierung globaler Kapitalmärkten gearbeitet. Letztes Jahr habe ich mein erstes Sachbuch zur Geschichte der Wissenschaft geschrieben (Springer Spektrum Verlag) , s. https://www.springer.com/de/book/9783662433997 bzw. https://larsjaeger.ch/?page_id=357&lang=de.

Kommentare (54)

  1. #1 Hoffmann
    27. September 2015

    Sehr gut geschrieben! 🙂

    Über solche Diskussionen pro oder contra naturwissenschaftliche Sichtweise kann ich ein Lied singen. Gerade in Bezug auf den sogenannten genetischen Reduktionismus (Stichwort Dawkins: Das egoistische Gen!) erfahre ich immer wieder, dass der Kontext, der den Genen “Sinn” verleiht, gern ausgeblendet wird.

    Je nach Anhängerschaft streiten dann Reduktionisten und Holisten munter über diesen Punkt weiter, um sich am Ende in ihren jeweiligen Standpunkten bestätigt zu fühlen. Ist manchmal ganz amüsant, aber irgendwann doch ermüdend. Die Umstände, unter denen Genomexpression funktioniert, sind in der Regel den wenigsten bekannt, so dass es dann oft zu einem Aha-Erlebnis kommt, wenn ich mich in solche Gespräche einmische.

  2. #2 mathias
    27. September 2015

    Klasse Artikel. Und für die Physik war die Ausarbeitung der Quantenmechanik in der Tat der entscheidende Umbruch in den Sichtweisen. Selbst Einstein hatte da seine Probleme. “Spukhafte Fernwirkungen”.
    Die statistische Mechanik/Thermodynamik alleine hätte da, trotz aller fantastischen Erkenntnisse, nicht ausgereicht. Traurig, dass Boltzmann dies nicht mehr erleben konnte.

  3. #3 lindita
    27. September 2015

    Ich kenne zwar nicht alle Fachbegriffe, aber der Kontext, in dem sie stehen ist schon klar.

    Irgendwann werden sich die Gegenpole ganz vermischen, nicht nur ihre Grenzen.

    Mein Mann ist ein gläubiger Muslim. Ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht ist im egal, da nicht gelernt in seiner Kindheit (ich muss sagen, das Ungebildetsein ist kein Hindernis dafür dennoch erfolgreich seine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen wie Arbeit, Familie etc..), also haben wir interessante Streitgespräche.

    In seinen Augen bin ich ungläubig, da ich nicht an DEN bzw seinen Gott glaube. Wenn es einen Gott gibt, dann ist Er für mich rational – ein Physiker, Biologe, Chemiker usw. Er ist nicht mystisch und nur für Mönche zugänglich, denn es wäre in meinen Augen ein Widerspruch, da das Materielle im Ganzen oft ignoriert wird, dann kann das nicht mehr ganz sein. Dass alles zusammenhängt und alles auf alles einen Einfluss nimmt, sagt der gesunde Menschenverstand. Nur weil Naturwissenschaften länger brauchen, um einen Beweis für etwas aufzuschreiben, heisst es ja nicht, dass sie dem Holismus Oppositionelle sind. Im Gegenteil, das allgegenwärtige, rationale Leben braucht auch seine Sprecher. Beispiel mit dem Schmerzempfinden beim Feuer – es gibt doch ein Gendefekt, bei dem der Schmerz- und Temperatursinn gestört sind. Biologische Prozesse allein erklären es nicht, aber sie bewahren vor Mystik, denn diese ist nur “Ausgewählten” zugänglich, und Biologie macht so etwas wie Gott für jeden zugänglich.

    Warum Entzaubernd? Enttäuschend? Wer den Zauber sucht, sieht vielleicht den Gott vor lauter (mystischen) Bäumen nicht mehr. Es ist doch nur die Frage der Perspektive.

  4. #4 Hermes
    27. September 2015

    Danke für den guten Text. Ich denke, zwei wichtige Argumente der “Anti-Reduktionisten”, wie Du sie nennst, bleiben erstmal noch weiter bestehen:
    Die Frage nach dem Sinn (Warum das alles?) kann m.E. die Naturwissenschaft nicht abschließend klären, und der freie Wille des Menschen.
    Leider sind beides zwei große Fragen, die einen großen Raum im Bewusstsein des Menschen einnehmen. Sprich: auch wenn es nur wenige Fragen sind, mit denen der Redukationismus Schwierigkeiten hat (bei der Sinnfrage vielleicht noch mehr als beim freien Willen), so liegt sind sie eben sehr gewichtig.

  5. #5 Withold Ch.
    27. September 2015

    Interessanter Artikel, ausgezeichneter Stil, verständlich, übersichtlich, versöhnlich sogar, … und bei seiner Lektüre an diesem Sonntagmorgen stört es mich nicht, wenn gleichzeitig nebenan in der Quartierkirche die Kirchenglocken läuten …

    Also, der Rosenquarz, der neben dem Bildschirm des PCs vor sich hin verstaubt, darf bleiben, und Rutengänger auf weiter Flur erhalten eine weitere Schonfrist zugestanden.

    Ob dieser Aufruf zu Deeskalation und friedlicher Koexistenz, zu einer sowohl-als auch-Einstellung, auf beiden Seiten noch gehört wird, bezweifle ich manchmal, – oder ob es letzten Endes doch ausreichend ist, eine gewisse Erleichterung weiterhin aus dem Gefühl einer anhaltenden Absurdität zu beziehen.

    Interessant auch der Hinweis auf die Mahayana-buddhistischen Lehren, die in den letzten Jahrzehnten von vielen Menschen im Westen dankbar aufgegriffen worden sind und als der Weg aus einer existenziellen Ratlosigkeit gewählt werden.

  6. #6 brian
    27. September 2015

    @Hermes: Fortschritt in wissenschaftlichen/erkenntnistheoretischen/philosophischen Fragen wurde oft auf zweierlei Art und Weise erzielt. Eine Möglichkeit, die zufriedenstellendere, besteht darin, eine Fragestellung zu klären, wenigstens teilweise. Das ist das, was man naiverweise erwartet; wenn sich das einstellt, ist man hocherfreut. Dann wissen “wir” etwas, was wir vorher nicht wussten (sofern wir es glauben bzw. die Argumente gelten lässen). Die andere Möglichkeit besteht darin, eine Frage als sinnlos bzw. falsch gestellt zu erkennen. Dazu, meine ich, gehört die Sinnfrage selbst. Das klingt vielleicht paradox, ist es aber nicht. Es wird nur paradox, wenn man als “Antireduktionist” die Lösung nicht als solche akzeptiert, wenn man zum Beispiel argumentiert: “Gut, die Sinnfrage hat keinen Sinn, aber warum nicht? Welchen Sinn hat die Sinnlosigkeit?” Nur, weil der “Sinn” so gewichtig erscheint, dass es einen geben muss, heisst das noch lange nicht, dass diese Prämisse stimmt.

  7. #7 bikerdet
    27. September 2015

    @ Hermes in #4 :

    Die Naturwissenschaften lösen die Frage nach dem Sinn deshalb nicht, weil sie einen Sinn = geplantes Erschaffen / Verhalten ablehnen. Dies würde ja einen ‘Planer’, ‘Erschaffer’ und ‘Erhalter’ voraussetzen. Gleichzeitig würde sich dann die Frage nach der Herkunft der genannten ‘Wesen’ stellen. Wer hat den Planer unseres Universums geplant / erschaffen? Sehr schnell endet das entweder in der Unendlichkeit bzw. bei Gott. Beides ist aber keine wissenschaftliche Lösung, sondern Glauben.

    Auch der ‘freie Wille’ ist nicht einmal eindeutig definiert, geschweige denn widerspruchsfrei zu erklären. Wo beginnt / endet er, ist er nur auf Menschen begrenzt, können Tiere / Roboter ebenfalls einen freien Willen haben. Der freie Wille ist Teil der Philosopie und im laufe der Jahrtausende auch dort immer wieder neu erfunden / definiert worden.

    Genaugenommen verlangst Du von der Wissenschaft zu beweisen, das KEIN unsichtbarer lila Drache in meiner Garage wohnt. Etwas, was es nicht gibt, kann man weder wissenschaftlich erfassen noch erklären / widerlegen / bestätigen.

  8. #8 Dampier
    27. September 2015

    @Lars Jaeger, danke für einen guten Artikel mit einigen Denkanstößen!

    @Hermes

    Die Frage nach dem Sinn (Warum das alles?) kann m.E. die Naturwissenschaft nicht abschließend klären

    Das muss sie auch nicht. Naturwissenschaften funktionieren auch ohne die Annahme eines Sinns (= Teleologie). Sinn oder Zweck des Ganzen sind – genau wie Gott – für die Wissenschaft irrelevant.

  9. #9 rolak
    27. September 2015

    KEIN unsichtbarer lila Drache in meiner Garage

    Kann ich beweisen, bikerdet: der sitzt nämlich neben mir, wie jeden letzten Sopnntag im Monat, wenn er seine Verlobte besucht – das unsichtbare pinke Einhorn, das bei mir im Wintergarten wohnt.

    Leicht zu lesender, ruhiger Text.

    Auf einer noch höheren (..) kaum naturwissenschaftlich beschreiben

    Das ist auch auf den tieferen Ebenen wie schlichtes Wahrnehmen von Sinneseindrücken zwingend so – denn unter Annahme des Bewußtseins als emergentem Geschehen folgt logisch, daß egal welche egal wie weit abstrahierenden Effekte des Bewußtseins (aka erlebte Um/Innenwelt) mindestens ebenso ‘von unten unerklärlich’ sind, völlig losgelöst von den unteren Reduktionsketten..

  10. #10 brian
    27. September 2015

    @rolak: Das wäre nur ein Beweis, wenn es sicher wäre, dass es nur einen einzigen Drachen mit diesen Attributen gibt. Ich würde den Beweis eher auf der logischen Schiene versuchen: unsichtbar und lila geht nicht gleichzeitig. Wobei, welche Farbe hätte ein unsichtbarer Drache, wenn keiner hinschaut?

  11. #11 rolak
    27. September 2015

    nur ein Beweis, wenn es sicher wäre

    Er sagt es, brian.

    unsichtbar und lila geht nicht gleichzeitig

    Unsichtbar ist er, nicht unhörbar. Und er sagt, er sei lila.

    wenn keiner hinschaut?

    Dieselbe wie sonst auch, sagt er.

    Alles klassische BeweisFormen aus der nichtrationalen Seite des Lebens.

  12. #12 Kyllyeti
    27. September 2015

    @brian

    unsichtbar und lila geht nicht gleichzeitig

    Doch, die sind nur einfach ultraviolett.

  13. #13 lindita
    27. September 2015

    @Hermes
    “…Die Frage nach dem Sinn (Warum das alles?) kann m.E. die Naturwissenschaft nicht abschließend klären…”

    Wer oder was kann es denn schon, und vor allem “klären”? Religion? Esoterik? Philosophie?

  14. #14 Joseph Kuhn
    27. September 2015

    “zwischen Naturwissenschaftlern und denjenigen, die der Nüchternheit und Stringenz der wissenschaftlichem Methode weniger Vertrauen entgegenbringen”

    Ist diese Entgegensetzung zwischen den Naturwissenschaftlern und dem dumpfen Rest nach 22 Uhr abends auf einer Cocktail-Party entstanden? Und hat nicht wenigstens ein Mathematiker unter den Nichtnaturwissenschaftlern protestiert?

    “Im öffentlichen Diskurs (…) ist er in polemischer Absicht stark negativ konnotiert und wird von seinen Gegnern mit ebenso negativen Begriffen wie „Materialismus“ (alle Phänomene der Welt lassen sich auf Materie und deren Gesetzmässigkeiten reduzieren) (…) gleichgesetzt.”

    Warum ist das negativ und war das nicht die Definition, mit der der Reduktionsbegriff oben mit Weinberg eingeführt wurde?

    “Epigenetische Wirkungsmechanismen zeigen auf, was Psychologen, Pädagogen und Soziologen schon lange behaupten: Lebewesen sind weit mehr als das Ergebnisse ihrer Gene, sondern erhalten ihre Eigenschaften, Fähigkeiten und Möglichkeiten immer auch durch Wechselwirkung mit der Umgebung, in der sie leben.”

    Auch die “alte Genetik” hat schon immer die Bedeutung der Wechselwirkung von Genen und Umwelt für die Herausbildung des Phänotyps betont. Das kennzeichnet nicht die Spezifik der Epigenetik.

    “Wenn man seine Hand in heisses Wasser hält, so laufen nicht nur bestimmte biologische Prozesse ab, sondern es tut schlicht auch weh.”

    Und warum soll das eine nicht das andere vollständig erklären? Ob das subjektive Schmerzempfinden Qualia-Eigenschaften hat, darüber kann man diskutieren, aber man sollte es nicht vorschnell postulieren, schon gar nicht, um damit zu belegen, dass Biologie und Schmerzempfinden zwei paar Stiefel sind. Das ist eine klassische petitio principii.

    “Es lohnt sich (…) durchaus, die für eine sorgfältigere Differenzierung notwendigen Mühen auf sich zu nehmen.”

    Durchaus. Gerade für Naturwissenschaftler, die der Nüchternheit und Stringenz der wissenschaftlichen Methode viel Vertrauen entgegenbringen. 😉

  15. #15 Realistischer
    28. September 2015

    Die Diskussion um den freien Willen ist ein gutes Beispiel für Reduktionismus. An sich würde jeder verstehen was der Unterschied ist zwischen, etwas aus freiem Willen oder aus Zwang zu tun. Aber weil die Reduktionisten, welche nur das Gehirn ansehen, diesen Kontext nicht beachten, können sie auch nicht verstehen worum es geht. Ich würde sagen, Reduktionismus ist wenn man den Fokus falsch gewählt hat. Und Holismus ist wenn man den Fokus ganz verwirft…

  16. #16 lindita
    29. September 2015

    Ich finde dieses Thema spannend..

    @Realistischer “…An sich würde jeder verstehen was der Unterschied ist zwischen, etwas aus freiem Willen oder aus Zwang zu tun. Aber weil die Reduktionisten, welche nur das Gehirn ansehen, diesen Kontext nicht beachten, können sie auch nicht verstehen worum es geht…”

    Verstehe ich nicht. Ich kann doch nur frei in bestimmtem Rahmen wollen. Ich kann denken, dass ich aus Fakten eine Entscheidung treffe, aber auch ein Faktor des Nichtwissens zwingt mich eine Entscheidung zu treffen, die ich womöglich später bereuen kann. “denn sie wissen nicht, was tun”.

    Alzheimer und Bewusstsein?

    Manche Entscheidungen treffe ich deshalb so und nicht anders, weil ich anatomisch nicht fliegen kann.

    Wie gesagt, habe vor Kurzem ein Buch gelesen ” Schnelles Denken, langsames Denken” von D. Kahneman. Es ist aberwitzig sich selbst zu beobachten, Was man für ein Fehlbild von sich und seinen geistigen Möglichkeiten hat…

    Habe auch ein Interview mit Wolf Singer gelesen. Ich meine, die Gegner können es ebenfalls nicht verstehen worum es geht, weil sie anscheinend in Schwarz oder Weiss denken, gleichzeitig sehr an der Oberfläche. Singer aber argumentiert in einem Konzept,

    “…Und Holismus ist wenn man den Fokus ganz verwirft…”

    Ja, und vertraut auf seine Intuition, und was sie bedeutet kann man beim obengenannten Buch nachlesen. Da hat sich einer Mühe gemacht und sich drauf fokussiert.

  17. #17 Realistischer
    30. September 2015

    @lindita
    Ich kann doch nur frei in bestimmtem Rahmen wollen… ja, aber wer ist es der diesen Rahmen bestimmt? Wenn ein Bankräuber mit einer Pistole auf einen Angestellten zielt und dieser Geld aushändigt, dann ist nicht der Angestellte für den der Bank entstehenden Verlust verantwortlich zu machen.
    Das mit dem freien Willen kommt aus der moralischen Analyse: nur wer aus freiem Willen handelt kann auch die Verantwortung für seine Taten übernehmen. Mit einem Reduktionismus auf z.B. neuronale Aktivitäten schafft man es aber, sämtlichen relevanten Kontext auszublenden und nur noch sinnlose Ergebnisse zu bekommen ohne es zu merken.

  18. #18 lindita
    30. September 2015

    @ Realistischer
    “… Wenn ein Bankräuber mit einer Pistole auf einen Angestellten zielt und dieser Geld aushändigt, dann ist nicht der Angestellte für den der Bank entstehenden Verlust verantwortlich zu machen…”

    So wie ich es verstanden habe, sind es Prozesse im Gehirn, die den Angestellten zum lebenserhaltenden Verhalten zwingen. Und unsere ganze Ethik und Moral sind nur dadurch entstanden, weil alles drauf aus ist lebenserhaltend zu handeln.

    (Ich sage jetzt so, wie ich es verstanden habe)
    Erziehung in die Zukunft gerichtet ist eine evolutionäre Entwicklung. Sie dient dazu, damit unsere Kinder sich nicht in Lebensgefahr begeben und miteinander gut leben können. Verantwortung wird anerzogen. Ein Räuber, auch wenn er ein Produkt von lebenslangen Einwirkungen ist, muss zur Verantwortung gezogen werden, denn es ist weniger eine Bestrafung, mehr eine Art Erziehung, ein wichtiges Instrument zur Lebenserhaltung

    Und falls einer nach einem Sinn des Lebens sucht, für mich ist er klar – das Leben selbst. Handle jeder wie er wolle (ein reiner Mensch ohne Gene, Hirn und Erziehung), wäre kein Leben möglich.

    Wir nehmen die Prozesse im Hirn nicht wahr, weil wir fühlende Wesen sind, und Freihet ist ein gutes Gefühl. Gutes Gefühl erhält Leben.

    Wenn der Sinn des Lebens das Leben selbst ist, dann lebe ich halt, mit allem was dazu gehört. Hölle oder Paradies, wir stellen uns diese Dinge doch nur vor, weil wir sie schon hier kennengelernt haben. Also biete, wofür nach einem Leben nach dem Tod streben? Leben nach dem Tod ist doch wieder nur ein Streben nach Leben

    Leben, Leben und noch mal Leben… wenn nicht materialistisch, dann im Geiste, alles strebt danach. Es ist ein Zwang, selbst der Tod ist nur da, damit das Leben weiter bestehen bleibt. Tod ist ein Zwang. Wo ist denn hier der Frei Wille?

    Wie gesagt, wenn es einen Gott gibt, dann im Lebensprozess selbst. Und für mich ist diese Vorstellung völlig ausreichend. Auch wenn ich nicht frei bin, alles ist so intelligent entwickelt, dass ich das nicht merke und es mir dann auch egal ist, weil es nicht das Wesentliche ist.

  19. #19 bikerdet
    1. Oktober 2015

    @ lindita :
    Und unsere ganze Ethik und Moral sind nur dadurch entstanden, weil alles drauf aus ist lebenserhaltend zu handeln.
    Das liest sich erst einmal toll. Ist es aber nicht. Genau mit dem Argument ‘lebenserhaltend’ lässt sich nämlich alles entschuldigen. Von Kannibalismus, Völkermord, Terrorismus bis zur Vernichtung von Tieren und Pflanzen auf diesem Planeten.
    Moral und Ethik sind in jedem Volk / Kulturkreis anders besetzt. Es gibt keine allgemeingültige Moral oder Ethik. Kant hat, vereinfacht ausgedrückt, gefordert das
    ‘Jeder sein handeln so ausrichtet, das dieses handeln auch als Gestz für alle Menschen gelten könne’.
    Auch dies ist nicht möglich. Ein Beispiel : Bei den Inuit ist es den Frauen gestattet, mit jedem Besucher Sex zu haben. Ablehnen gilt als Beleidigung und hat vielen Missionaren das Leben gekostet. Den Inuit dient dieses völlig moralische ( weil gesellschaftlich erwünschte) Verhalten der Verringerung / Vermeidung von Inzucht. Könnte man dieses Verhalten aber als ‘Gesetz für alle Menschen’ verlangen ? Wie würde das in Saudi-Arabien aussehen. Sollte das dortige ‘moralische’ Verhalten ‘Weltgesetz’ sein ? Das der Kanadier (Robbenschlachten), das der Japaner (Delfinschlachten), das der Jemeniten (Sklaverei im eigenen Land) , das der …

    Jeder Mensch lebt nach den ethischen und moralischen Vorgaben SEINER Gesellschaft. Auch die Kannibalen sind der festen Überzeugung das das essen der Feinde einen ‘Überlebensvorteil’ bringt. Man übernimmt die Kraft und Fähigkeiten des Gegessenen …

    Wenn wir aber durch anerzogene Verhaltensmuster geleitet werden, wo bleibt da der freie Wille ? Was unterscheidet einen Menschen von einem Schimpansen ? Beide haben ein Ich-Bewusstsein, ebenso wie viele Rabenvögel. Haben diese Tiere auch einen freien Willen ? Wie sieht es mit Robotern aus ? Kennst Du den Film ‘Ex machina’ ? Da geht es um künstliche Intelligenz und ab wann die nicht mehr zu erkennen ist (Turing-Test). Kann ein programmiertes ‘Wesen’ jemals einen freien Willen haben ? Wie sieht es mit unserer ‘Programmierung’ durch Instinkte, Erziehung, Gesetze aus ? Gibt es überhaupt einen freien Willen ?

    Einen ‘Sinn des Lebens’ lehne ich ebenfalls ab. Es ist das bestreben des Lebens neues Leben zu schaffen. Einen SInn kann nur eine geplante Aktion haben. Es macht Sinn eine Brücke zu bauen, die Brücke hat den Sinn das die Menschen nicht durch einen Fluss / Schlucht müssen. Eine Brücke, die über einen geplante aber niemals gebaute Autobahn führen sollte, steht nun sinnlos in der Gegend herum. Auch sinnvolles / sinnloses Verhalten sind bewußte Aktionen. Niemand käme ernsthaft auf die Idee der Bewegung von Photonen durchs All einen Sinn anheften zu wollen. Ebenso wird niemand auf die Idee kommen, das die Verbindung von einem C und zwei O Atomen den ‘Sinn’ hat Wasser zu erzeugen. Warum sollte also in einer komplexeren chemischen Verbindung ein ‘Sinn’ stecken ? Es drängt sich ja sofort die Frage auf : Wer hat den Sinn da reingesteckt und warum ? Und wer hat den ‘Sinnstifter’ erschaffen und warum ? Eine endlos Schleife, die autmatisch zu einem ‘Gott’ führen muss. Alle anderen sinnstiftenden Erklärungen (z.B. Aliens) sind nur Zwischenschritte.

  20. #20 Captain E.
    1. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn:

    Ist diese Entgegensetzung zwischen den Naturwissenschaftlern und dem dumpfen Rest nach 22 Uhr abends auf einer Cocktail-Party entstanden? Und hat nicht wenigstens ein Mathematiker unter den Nichtnaturwissenschaftlern protestiert?

    Das könnte allein schon deshalb schwer werden, weil sich viele Mathematiker zu den Naturwissenschaftlern zählen. Das hängt im Grunde von der Universität ab, an der man Mathematik studiert hat – an der einen ist eine Naturwissenschaft, an der anderen eine Geisteswissenschaft.

  21. #21 lindita
    1. Oktober 2015

    “…Moral und Ethik sind in jedem Volk / Kulturkreis anders besetzt. Es gibt keine allgemeingültige Moral oder Ethik…”

    Genau, sogar diese entwickeln sich ständig. Jede Familie ist ein Minivolk. Wenn Erziehung “fehlschlägt” wird ein Mechanismus, wie das Gesetz, einen eventuell ins Gefängnis bringen. Fehlschlag kann aber auch immer eine Chanse sein. Evolution. Gesetze können sich ändern, und an den ursprünglichen Fehlschlag angepasst werden.

    Nehmen wir die Religionen. Christentum (in Europa) hat eine Entwicklung durchlaufen, zum Islam sagen wir, dass er diese nötig hat. Buddhismus, Tantrismus usw.. so wie sie im Westen gelebt werden, haben wenig mit ihrem Ursprung zu tun. Alles entwickelt sich, passt sich an und lässt sich verdrängen.

    “… Kant hat, vereinfacht ausgedrückt, gefordert das ‘Jeder sein handeln so ausrichtet, das dieses handeln auch als Gestz für alle Menschen gelten könne’.Auch dies ist nicht möglich. Ein Beispiel : Bei den Inuit ist es den Frauen gestattet, mit jedem Besucher Sex zu haben. Ablehnen gilt als Beleidigung…”

    Handeln ausrichten nach einem gültigen Gesetz für alle bedeutet doch erstall eine ständige Suche nach so einem gültigen Gesetz für alle. Nur weil mir etwas gut tut, muss es nicht für alle gelten. Wie man so schön sagt: des einen Freud ist des anderen Leid. Deshalb kann man nicht von dem primitiven “Ich” ausgehen. Anpassung und Verdrängung. Evolution auch in Ethik und Moral. Nur das Lebensfähige überlebt.

    Und einen Sinn des Lebens, wie “wozu das alles?”, den brauche ich auch nicht. Was gestern noch sinnvoll war, ist es heute nicht mehr. Es gibt keinen Plan. Und freier Wille muss doch für etwas sinnvoll sein. Aber wenn es den Plan nicht gibt, dann ist ein freier Wille gar nicht notwendig, weil alles evolutioniert nach einer zufälligen Notwendigkeit.

    P.S. es ist ein Erklärungsversuch meinerseits, was heute für mich plausibel erscheint, muss es morgen nicht mehr. Eigentlich sollte man sich alles offen lassen, alles andere wird zu Dogma.

  22. #22 Realistischer
    1. Oktober 2015

    @lindita
    “So wie ich es verstanden habe, sind es Prozesse im Gehirn, die den Angestellten zum lebenserhaltenden Verhalten zwingen.”
    Eine sehr ernst gemeinte Frage: woher weis das Gehirn, welches Verhalten lebenserhaltend ist?

  23. #23 meregalli
    1. Oktober 2015

    @bikerdet
    “Ebenso wird niemand auf die Idee kommen, das die Verbindung von einem C und zwei O Atomen den ‘Sinn’ hat Wasser zu erzeugen”
    Schlampigkeitsfehler, eh klar. Wäre aber eine feine Lösung des Emissionsproblems.

  24. #24 Spritkopf
    1. Oktober 2015

    @Realistischer

    Eine sehr ernst gemeinte Frage: woher weis das Gehirn, welches Verhalten lebenserhaltend ist?

    Ganz einfach zu beantworten: Steigen Sie bei Ihrem nächsten Safariurlaub aus dem Auto, gehen zum nächsten Löwenmännchen und treten Sie es kräftig in den Hintern. Und dann beobachten Sie sich selbst, insbesondere den Stress und die Angst, die Sie vermutlich verspüren werden.

    Falls Sie das Ganze überleben, können Sie ja anschließend mal im Internet recherchieren, welche Hormone der Körper ausschüttet, um solche Emotionen zu erzeugen.

  25. #25 Realistischer
    1. Oktober 2015

    @Spritkopf
    Das beantwortet leider die Frage zu 0 %. Denn, woher weis der Körper welche Hormone er wann ausschütten soll? Und woher weis das Gehirn, was die bedeuten?

  26. #26 rolak
    1. Oktober 2015

    woher

    Schon mal was von ‘Evolution’ gehört, Realistischer? Nur so für die Anfangsgründe…

  27. #27 Joseph Kuhn
    1. Oktober 2015

    @ Captain E: Hm. Dass es von der Universität abhängen soll, ob die Mathematik eine Naturwissenschaft ist oder nicht, das nenne ich mal eine pragmatische Lösung der Frage nach der Natur mathematischer Entitäten.

  28. #28 gaius
    2. Oktober 2015

    @Realistischer: “Denn, woher weis der Körper welche Hormone er wann ausschütten soll? Und woher weis das Gehirn, was die bedeuten?”

    Die Fragen sind (wie üblich, wenn es um Evolution geht) falschrum gestellt.

    Die Dinge passieren einfach. Ziele gibt es nicht. Der Körper hat im Laufe der Jahrmillionen alle möglichen Hormone ausgeschüttet. Einige davon haben in gewissen Situationen (brüllende Löwenmännchen) den starken Drang ausgelöst, wegzulaufen. Die Individuen, die das in der richtigen Dosierung getan haben, haben etwas länger gelebt als andere (diejenigen, die zuviel von diesen Hormonen hatten, galten zum Beispiel als Feiglinge und konnten sich seltener paaren 🙂 ).

    Das wars. Mit Wissen hat das nichts zu tun. Dass wir diesen starken Drang “Angst” nennen, ist ein viel spätere Entwicklung und für den Effekt nicht relevant.

  29. #29 Franz
    2. Oktober 2015

    Die Antworten auf die sogenannten großen Fragen habe ich für mich gefunden:

    1) Sinn des Lebens
    Das Leben ist sinnlos, wir können ihm aber selbst einen Sinn geben und das lass ich mir von niemand, auch keinem Gott, wegnehmen.

    2) Freier Wille
    Es gibt keinen, denn wo ist die Grenze zwischen Entscheidung des Gehirns und einem übergeordneten Willen ? Zu diesem Zweck müsste ich eine Art ‘Seele’ definieren, aber da ich alle Vorgänge auch mit Elektronik und Chemie erklären kann, wozu eine weitere ‘Entität’ einführen ? Außerdem ist es auch eine Definitionsfrage. Für mich ist freier Wille, wenn mein Gehirn die Entscheidung treffen kann und sie mir nicht von einem anderen Gehirn aufgezwungen wird.

    Guter Artikel übrigens, ganz ohne Prügelargumente.

  30. #30 Joseph Kuhn
    2. Oktober 2015

    @ Franz:

    “Das Leben ist sinnlos, wir können ihm aber selbst einen Sinn geben”

    Erstens: Woher wissen Sie, dass das Leben sinnlos ist? Zweitens: Warum können Sie ihm selbst einen Sinn geben? Ist dieser Sinn dann ganz beliebig, willkürlich, also eigentlich “sinnlos”? Oder nur ein anderes Wort für “das gefällt mir”? Oder gehen in Ihre Sinnsuche doch Begründungen ein, die nicht nur von Ihnen individuell “gemacht” sind?

    “da ich alle Vorgänge auch mit Elektronik und Chemie erklären kann”

    Das glaube ich nicht. Oben habe ich schon das Beispiel Mathematik angesprochen: mathematische Wahrheiten lassen sich (wahrscheinlich) nicht auf physikalische Gegebenheiten reduzieren, 2 + 2 ist nicht 4, weil es die Elektronik und die Chemie so wollen. Aber selbst bei naturwissenschaftlichen Fragestellungen stimmt Ihr Satz nicht. Um ein Standardbeispiel zu bemühen: Erklären Sie doch einmal Ihren subjektiven Eindruck der Farbe “rot” mit Elektronik und Chemie – und zwar im Sinne einer wohldefinierten Erklärung, z.B. nach dem Hempel-Oppenheim-Schema. Ob es je eine solche Erklärung dafür geben wird? Noch schlimmer: Nicht einmal die Wirkung von Lithium bei Depressionen können wir bisher mit Elektronik und Chemie erklären, auch wenn man hier hoffen darf, dass einmal eine solche Erklärung gefunden wird.

    @ gaius:

    Dass wir ein Gefühl “Angst” nennen, hat sicher keine Bedeutung für den Effekt, schließlich funktioniert die Sache auch bei den Engländern mit “fear”. Aber oft ist Angst nicht ein biologisch festgelegter Reflex, nicht festverdrahtet, sondern eine Situationsbewertung, in die unsere individuellen Erfahrungen eingehen, unsere Sicht der Dinge (nicht jeder hat vor den gleichen Dingen Angst), und sie ist vor allem von Bewusstsein begleitet. Wir reagieren meist nicht reflexhaft auf angstmachende Ereignisse, sondern erleben Angst bewusst. Was aber ist das Bewusstsein der Angst? Nur ein Epiphänomen, also ohne Bedeutung für den Effekt? Kann es so etwas überhaupt geben? Warum sollte die Evolution so etwas hervorgebracht haben? So ein Epiphänomen würde auch Energie kosten und, wenn es nichts nützt, durch die Ökonomie der Evolution ausselektiert werden.

  31. #31 gaius
    2. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn: “Was aber ist das Bewusstsein der Angst? Nur ein Epiphänomen, also ohne Bedeutung für den Effekt? ”

    Bei Angst gehe ich tatsächlich davon aus, dass sie das Bewusstsein nicht braucht für ihre Wirkung.

    Natürlich hat das Bewusstsein massive positive Effekte auf die Überlebensfähigkeit der menschlichen Art gehabt, z.B. ist es die Grundlage der Kultur, die eine deutlich schnellere und flexiblere Entwicklung möglich gemacht hat.

    Alles, was schon vorher da war – wie Angst, Wut, Hunger, Sex – wird uns jetzt auch bewusst (allerdings häufig nur teilweise, siehe unbewusste Angst -> Stress). Aber dies scheint mir Nebenwirkung zu sein. Der Vorteil des Bewusstseins liegt woanders.

  32. #32 Joseph Kuhn
    2. Oktober 2015

    @ gaius:

    Menschen reagieren auf vielfältige Situationen mit Angst, nicht nur auf entwicklungsgeschichtlich alte Gefahren wie den Angriff eines Löwen. Daher ist es sinnvoll, dass Angst auch über kognitive Bahnen vermittelt wird und plastisch, veränderbar, ist. Wir haben z.B. keinen angeboren Reflex, mit Angst auf einen Menschen mit Pistole zu reagieren, sondern lernen das (und zwar sehr situationsspezifisch, bei einem Polizisten z.B. normalerweise nicht). Daher sind Ängste auch therapierbar.

  33. #33 gaius
    2. Oktober 2015

    @ Joseph Kuhn: “Wir haben z.B. keinen angeboren Reflex, mit Angst auf einen Menschen mit Pistole zu reagieren,”

    Da wirds jetzt sehr detailliert, aber ich glaube, wir liegen nicht weit auseinander. Ich stimme zu, dass die alte Angst durch neue Wahrnehmungen ausgelöst werden kann. Wie es dann weitergeht, ist aber alt, oder?

    Und um die körperinterne Verarbeitung ging es ja bei der zugrundeliegenden Frage, woher das Gehirn weiss, was die Hormone bedeuten. Das muss es meiner Meinung nach nicht lernen, weil die Hormone zuerst da waren. Das Gehirn guckt in diesem Fall nur zu.

    Die andere Frage “woher weis der Körper welche Hormone er wann ausschütten soll?” würde ich damit beantworten, dass das Erkennen solcher existentiell entscheidenden Situationen DIE Hauptaufgabe des Gehirns ist. Das sollte es können. Auch dabei muss das Bewusstsein aber nicht unbedingt beteiligt sein.

    Ich glaube, wir überschätzen das Bewusstsein permanent.

  34. #34 Joseph Kuhn
    2. Oktober 2015

    @ gaius: Die Frage, woher der Körper weiß, welche Hormone er ausschütten soll, habe ich eh nicht verstanden. Aber ob wir das Bewusstsein permanent überschätzen? Die Welt sähe jedenfalls besser aus, wenn wir uns mehr Dinge bewusst machen würden. Die Fähigkeit dazu haben wir, vielleicht unterschätzen wir sie?

  35. #35 gaius
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn

    Ich glaube, unser Bewusstsein verleitet uns standardmäßig, Entscheidungen nachträglich zu rationalisieren, die wir aufgrund von unbewussten Antrieben getroffen haben. Insofern würde es vielleicht helfen, sich dieser Kräfte bewusster zu sein, um sich selbst besser zu verstehen. Was wiederum die Basis für bessere Entscheidungen sein könnte.

    Paradoxerweise würde unser Wille freier, wenn wir akzeptieren, dass er weniger frei ist, als wir denken …

  36. #36 Spritkopf
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn

    Erstens: Woher wissen Sie, dass das Leben sinnlos ist?

    Nunja, wenn man die Frage, ob das Leben einen Sinn habe, so versteht, dass es eine äußere Instanz (etwa einen Gott) gäbe, die für die Sinnverleihung zuständig wäre, dann kann man mit hinreichender Sicherheit sagen, dass Anzeichen für eine solche Instanz bisher nicht gefunden werden konnten.

    Zweitens: Warum können Sie ihm selbst einen Sinn geben? Ist dieser Sinn dann ganz beliebig, willkürlich, also eigentlich “sinnlos”? Oder nur ein anderes Wort für “das gefällt mir”? Oder gehen in Ihre Sinnsuche doch Begründungen ein, die nicht nur von Ihnen individuell “gemacht” sind?

    Ich denke, die meisten Menschen würden “dem Leben einen Sinn geben” so übersetzen, dass man als Lebensinhalt irgendetwas tut, was anderen Menschen oder der Allgemeinheit Nutzen bringt.

  37. #37 Joseph Kuhn
    3. Oktober 2015

    @ gaius:

    “unser Bewusstsein verleitet uns standardmäßig”

    Ist der Satz sinnvoll? Kann unser Bewusstsein uns verleiten? Haben wir ein täuschendes Bewusstsein und ein getäuschtes? Und müsste man nicht ohnehin schreiben, dass unser Gehirn sich selbst verleitet, indem es manchmal seltsame Dinge tut, z.B. Beweggründe bewusst macht, die gar nicht die wahren Beweggründe sind? Das tut es aber sicher aus irgendwie biologisch bzw. psychologisch “sinnvollen” Gründen. Die Psychoanalyse war/ist ein Versuch, dem in einem bestimmten Bereich auf die Spur zu kommen.

    “Insofern würde es vielleicht helfen, sich dieser Kräfte bewusster zu sein, um sich selbst besser zu verstehen.”

    Unbedingt. Und das gilt angefangen von der Rationalisierung von unbewussten Reaktionen (da gibt es ja irre Geschichten aus der Hirnstimulation) über individuelle Verdrängungsmechanismen bis hin zu kollektiven Denkgewohnheiten, die nicht mehr hinterfragt werden, z.B. zum Sinn des Wirtschaftens oder des Lebens.

    @ Spritkopf:

    “Ich denke, die meisten Menschen würden “dem Leben einen Sinn geben” so übersetzen, dass man als Lebensinhalt irgendetwas tut, was anderen Menschen oder der Allgemeinheit Nutzen bringt.”

    Das glaube ich auch. Und wenn man versucht, das zu rechtfertigen, zu begründen, dann kommt man auf Gründe, die nicht mehr nur aus den individuellen Vorlieben eines Individuums resultieren, sondern z.B. aus allgemeinen ethischen Grundsätzen. Sofern diese wirklich allgemeine Geltung beanspruchen können, ist man bei einer anderen Version der Formulierung “das Leben hat einen Sinn”, und zwar einen, den ich mir nicht einfach gegeben habe.

  38. #38 Alderamin
    3. Oktober 2015

    @Spritkopf

    Ich denke, die meisten Menschen würden “dem Leben einen Sinn geben” so übersetzen, dass man als Lebensinhalt irgendetwas tut, was anderen Menschen oder der Allgemeinheit Nutzen bringt.

    Wobei sie dann dem inneren Altruismustrieb nachgehen, der ihnen Befriedigung verschafft, wenn sie anderen Gutes tun und dafür im Idealfall auch Anerkennung bekommen. Letztlich also auch eine Form von Handeln aus Eigennutz.

    @Joseph Kuhn

    Haben wir ein täuschendes Bewusstsein und ein getäuschtes? Und müsste man nicht ohnehin schreiben, dass unser Gehirn sich selbst verleitet, indem es manchmal seltsame Dinge tut, z.B. Beweggründe bewusst macht, die gar nicht die wahren Beweggründe sind? Das tut es aber sicher aus irgendwie biologisch bzw. psychologisch “sinnvollen” Gründen.

    Wir teilen mit den Tieren den grundsätzlichen Bauplan und die Funktionsweise des Gehirns, es wurde mit der Menschwerdung nicht neu erfunden, sondern weiterentwickelt. Deswegen werden Menschenaffen auch eine Art Bewusstsein haben, höhere Säugetiere vielleicht auch. Ich hab’ ein Buch darüber von Marc Hauser “Wilde Intelligenz”, da ist beschrieben, was Tiere z.B. über die Welt wissen. Das kann man in Experimenten ermittlen, indem man den Tieren plausible oder unplausible Vorgänge zeigt und dann die Zeit misst, wie lange sie darauf schauen (macht man auch so bei Babys). Was verwundert, wird länger betrachtet. Tenor ist jedenfalls, dass ein gewisses Bewusstsein und einfache Denkprozesse auch bei Tieren stattfinden.

    Noch zwei bestätigende Beispiele über unseren früheren Hund, einen Schäferhund: wenn er schlief, jaulte er manchmal ein bisschen und zuckte, als ob er lief. Sah’ genau so aus, als ob er träumte und sich dabei irgendetwas vorstellte. Kopfkino wie bei uns.

    Der Hund spielte gerne mit Tennisbällen. Hund war immer schneller und schnappte sich den Ball vor mir, ließ ihn dann fallen, und ich sollte versuchen, ihn ihm abzunehmen. Ich verlor meistens. Also holte ich einen zweiten Tennisball. Hund konnte nur einen aufnehmen, den anderen hatte ich. Nach ein paar Malen schnappte der Hund einen Ball, lief mit ihm ins Haus, deponierte ihn hinter’m Sofa und kam zurück. Hund hatte durch selbstständiges Denken und nicht etwa durch Konditionierung das Problem analysiert und gelöst.

    Auslöser für das Verhalten bei Tieren sind aber meistens deren Instinkte, die oft sklavische erhaltensweisen verursachen: Gans versucht weiterhin, ein herausgefallenes Ei in ihr Nest zurück zu rollen, auch wenn man es ihr zwischendrin abnimmt. Katze verscharrt Reste der Mahlzeit symbolisch auch in der Diele, wo’s keine Erde gibt. Da, wie gesagt, das menschliche Gehirn auf dem Bauplan des tierischen aufbaut, ist zu erwarten, dass auch bei uns die Handlungen aus inneren Antrieben heraus erfolgen, gesteuert durch Gefühle wie Angst, Lust, Vorlieben, Abneigungen. Das Bewusstsein ist dann eine Art Filter, diese Antriebe zu bewerten (soll ich das jetzt tun, oder hat es langfristig negative Folgen?) und umzusetzen (wie erreiche ich am besten mein Ziel), indem es Handlungen theoretisch durchspielen kann (auch der Hund hat dies beim Tennisball-Beispiel offensichtlich getan).

    Wie oben erwähnt kann man Verhalten auch konditionieren, bei Tieren wie bei Menschen. Traumatische Ereignisse tun dies zum Beispiel. Man kann auf diese Weise Ängste erzeugen, die auch bei harmlosen Situationen auftreten können. Man kann auch Verhalten erlernen, die eigentlich der (durchschnittlichen) menschlichen Natur zuwider sind, etwa Grausamkeit.

    Die Wurzeln des Antriebs unseres Verhaltens gehen also sehr viel tiefer als das Bewusstsein und sind evolutionsgeschichtlich viel älter. Das Bewusstsein ist nur eine Art “grafische Oberfläche” über dem darunter liegenden Betriebssystem (ich sag’ mal “Windows” vs. “DOS”). Es rationalisiert das aus innerem Antrieb heraus entstandene Verhalten, das irgendwie evolutionär geprägt wurde.

  39. #39 Joseph Kuhn
    3. Oktober 2015

    @ Alderamin:

    “Die Wurzeln des Antriebs unseres Verhaltens gehen also sehr viel tiefer als das Bewusstsein und sind evolutionsgeschichtlich viel älter. Das Bewusstsein ist nur …”

    Dass der Hunger evolutionsgeschichtlich älter ist als das Bewusstsein davon, dass ich Hunger habe, ist klar. Aber warum ist mir der Hunger bewusst, mein Blutzuckerspiegel (oder die Auslösung des Kniereflexes) aber nicht? Und was bedeutet der Satz, das Bewusstsein “rationalisiere” das aus innerem Antrieb heraus entstandene Verhalten? Was ist “Rationalisieren” in diesem Zusammenhang? Ein (potentiell) vernünftiger Umgang mit einem inneren Impuls? Weil wir eben evolutionär die Fähigkeit zur Vernunft erworben haben, weltoffen statt instinktgebunden handeln können? Oder meinst Du, hier wird nur im Sinne der Psychoanalyse “rationalisiert”, also ein Grund erfunden, um einen Impuls zu rechtfertigen? Aber wozu das? Wozu sollte unser Gehirn das tun, wozu sollte die Evolution solche unnützen Epiphänomene hervorbringen? Der Körper weiß auch so, dass er Hunger hat, um einen seltsamen Satz eines anderen Kommentars aufzugreifen.

  40. #40 meregalli
    3. Oktober 2015

    @Alderamin
    Schöner Exkurs in die Psychologie. Bin ganz d*accord.

    Um den letztgenannten Vergleich weiterzuspinnen:
    Der Einfluss der Medien auf die breite Masse erzeugt bei ihr ein Bewusstsein, das dem von Windows 8 entspricht.

  41. #41 Tina_HH
    3. Oktober 2015

    Interessant finde ich ja insbesondere die Momente, in denen man sich der “festen Verdrahtung” bewusst wird und mit seinem Bewusstsein willentlich nichts dagegen tun kann.

    Im Bereich der visuellen Wahrnehmung funktioniert das beispielsweise bei einigen Bildern zur optischen Täuschung so. Hat man ein bestimmtes Muster einmal erkannt, z.B. ein “Gesicht”, ist es anschließend unmöglich, dieses Gesicht nicht mehr zu sehen.

    Diese Seite zeigt einige ziemlich interessante Beispiele für optische Täuschungen:

    https://www.michaelbach.de/ot/index-de.html

  42. #42 Alderamin
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn

    Aber warum ist mir der Hunger bewusst, mein Blutzuckerspiegel (oder die Auslösung des Kniereflexes) aber nicht?

    Das Hungergefühl ist der Code, mit dem der Körper dem Bewusstsein (oder Unterbewusstsein) kommuniziert, dass der Blutzuckerspiegel zu niedrig ist. Irgendwie muss die Information ja dargestellt werden. Warum erscheint Licht von 600 nm rot? Ist halt die Darstellung im Gehirn.

    Und was bedeutet der Satz, das Bewusstsein “rationalisiere” das aus innerem Antrieb heraus entstandene Verhalten?

    Für den spontanen Willen wird halt eine zielgerichtete Handlung entwickelt – oder verworfen. Ich will den leckeren Kuchen im Laden haben, habe auch Hunger, wollte aber eigentlich abnehmen, also kaufe ich ihn nicht und statt dessen ein Sandwich. Ich würde dem Typen gegenüber am liebsten eine reinhauen, aber der ist mein Chef und ich lächle. Das ist die Filterfunktion.

    Weil wir eben evolutionär die Fähigkeit zur Vernunft erworben haben, weltoffen statt instinktgebunden handeln können? Oder meinst Du, hier wird nur im Sinne der Psychoanalyse “rationalisiert”, also ein Grund erfunden, um einen Impuls zu rechtfertigen?

    Sowohl als auch. Manchmal ist auch der Wunsch der Vater des Gedanken. Wenn man z.B. dem Hang nachgibt, ein möglichst PS-starkes Auto zu erwerben, ist das nicht vernünftig, aber die Freude am Fahrgefühl kann halt manchmal stark genug sein, das Bankkonto etwas tiefer zu entleeren. Das ist die Funktion, eine zielgerichtete Handlung zu entwickeln, um einen unbewussten Drang umzusetzen.

    Aber wozu das? Wozu sollte unser Gehirn das tun, wozu sollte die Evolution solche unnützen Epiphänomene hervorbringen?

    Vielleicht weil die emotionale Ebene älter ist und eben durch die Evolution weiß (oder vielmehr: zu wissen meint) was das beste für uns ist (und es zu Steinzeiten vermutlich auch war, sonst hätte es sich nicht entwickelt). Aber da sich die Umwelt ändert, ist ein flexibler Geist von Vorteil, der eben auch berücksichtigen kann, dass man heute am Rechner sitzt und nicht in einer Höhle hockt. Der Geist kann sich viel schneller entwickeln und viel leichter an neue Umgebungen anpassen, als der Körper und die alten “Programme” in den tieferen Hirnschichten das können. Deswegen sind wir Menschen so viel erfolgreicher als die Tiere. Eine Revolution der Evolution, sozusagen.

    So, bin jetzt mal ein paar Stunden weg.

  43. #43 gaius
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn: ” Kann unser Bewusstsein uns verleiten?”

    Gute Frage. Irgendwie scheint es eine Instanz im Gehirn zu geben, die immer darüber nachdenkt: Was sage ich, wenn mich jemand fragt, warum ich das tue? Und sie findet häufig plausible und vor allem sozial akzeptable Gründe – die aber mit den tieferen Gründen nichts zu tun haben müssen. Sie tut das ganz unschuldig – es scheint einfach ihre Funktion zu sein.

    Insofern verleitet uns diese Instanz ständig, ihre Erklärungen zu glauben. Das scheint mir der naive Zustand des modernen Menschen zu sein – er ist überzeugt, alles, was er tut, habe rationale Gründe und er kenne die auch.

    “Das tut es aber sicher aus irgendwie biologisch bzw. psychologisch “sinnvollen” Gründen. ”

    Ja, welchen Nutzen könnte das haben? Ich nehme an, unser soziales Leben beruht darauf, dass wir gegenseitig verstehen, wie wir handeln, und uns darin bestätigen, richtig gehandelt zu haben. Eine soziale Gruppe könnte man sogar definieren als Menschen, die ähnlich handeln.

    Eine Instanz, die uns für diese gruppenbildende Kommunikation das “Material” liefert, scheint mir dann sogar notwendig. Auch, dass die Wahrheitsnähe der gefundenen Gründe nicht erste Priorität hat, ergibt sich daraus zwanglos.

  44. #44 gaius
    3. Oktober 2015

    @Spritkopf: “Ich denke, die meisten Menschen würden “dem Leben einen Sinn geben” so übersetzen, dass man als Lebensinhalt irgendetwas tut, was anderen Menschen oder der Allgemeinheit Nutzen bringt.”

    Ich könnte mir vorstellen, “dem Leben einen Sinn geben” einfach so zu übersetzen: etwas zu finden, für das es sich zu leben lohnt. Das wäre dann etwas ganz persönliches.

    Viele würden darunter etwas verstehen, was anderen hilft, aber verpflichtend wäre das dann nicht.

    Der Gesellschaft ist aber auf jeden Fall geholfen, wenn ihre Mitglieder zufriedener mit ihrem Leben sind – egal warum.

  45. #45 Dampier
    3. Oktober 2015

    Das Gewissen ist eine innere Stimme, die uns warnt, es könnte jemand zusehen.

    (Sinngemäßes Zitat aus vergessener Quelle)

    Fiel mir nur grad so ein …

    Gute Diskussion, sehr lesenswert!

  46. #46 Joseph Kuhn
    3. Oktober 2015

    @ Alderamin:

    Die Korrelation zwischen Hungergefühl und Blutzuckerspiegel ist nicht so gut, dass das erste einen einfachen “Code” für das zweite abgeben würde, mit dem Rest Deines Kommentars kann ich gut mitgehen.

    @ Gaius:

    “Insofern verleitet uns diese Instanz ständig, ihre Erklärungen zu glauben.”

    Diese Instanz verleitet uns nicht, diese Instanz sind wir selbst. Ich höre jedenfalls keine Stimmen. Aber richtig ist, dass wir für uns und andere verständlich, gerechtfertigt sein müssen, damit das (Zusammen-)Leben funktioniert. Da werden dann oft genug auch gesellschaftsfähige Gründe erfunden, bis zur schlichten Lüge. Aber hoffentlich nicht nur.

  47. #47 Joseph Kuhn
    3. Oktober 2015

    Zu früh auf Senden gedrückt, zu @ TinaHH noch ein Satz:

    “Interessant finde ich ja insbesondere die Momente, in denen man sich der “festen Verdrahtung” bewusst wird und mit seinem Bewusstsein willentlich nichts dagegen tun kann.”

    Da hätte ich sogar ein einfacheres Beispiel als die optischen Täuschungen: Auch das Gefühl der Hand auf der heißen Herdplatte ist einem bewusst, ohne dass man etwas dagegen tun kann 😉

  48. #48 Tina_HH
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn
    Stimmt. Aber das Schöne an den optischen Täuschungen ist ja, dass man weiß, dass es eine Täuschung ist und trotzdem gegen die “verdrahtete” Wahrnehmung willentlich nichts machen kann. Kann man nur auf sich wirken lassen. Und den Moment, wo einem die eigene Machtlosigkeit (des Bewusstseins gegenüber der Wahrnehmung) bewusst wird, finde ich bemerkenswert.

    Das Gefühl der Hand auf der heißen Herdplatte ist im Vergleich dazu ja recht “angemessen” (Aua!) und keine Täuschung. ;.)

  49. #49 Alderamin
    3. Oktober 2015

    @Joseph Kuhn

    Die Korrelation zwischen Hungergefühl und Blutzuckerspiegel ist nicht so gut, dass das erste einen einfachen “Code” für das zweite abgeben würde

    Es gibt mehr als eine Sorte Hunger. Hunger auf Süßes, auf Herzhaftes, auf irgendwas. Auch Tiere wissen, was ihnen fehlt. Ich find’s interessant, dass Ziegen z.B. Salz in den Bergen suchen und pur aufschlecken, obwohl das Zeugs pur ja eher ungenießbar schmeckt und furchtbar durstig macht. Die können offenbar Hunger auf Salz haben. Das sind dann eben verschiedene Codes.

  50. #50 Joseph Kuhn
    4. Oktober 2015

    @ Alderamin:

    “Das sind dann eben verschiedene Codes.”

    Ich fürchte, das ist nicht die Quintessenz der Forschung zur Psychophysiologie des Hungers. Vielleicht liest ja jemand vom Fach mit und kann dazu den aktuellen Stand der Dinge referieren, ich würde bei dem Thema mangels einschlägiger Kompetenz gerne aussteigen.

  51. #51 BreitSide
    Beim Deich
    6. Oktober 2015

    @Alderamin #38: Super Hund!

    Das erinnert mich an die Schimpansin, die eine Drohne vom Himmel geholt hatte. Die hatte zuvor auch nie was Ähnliches getan: Reines Nachdenken.

  52. #52 BreitSide
    Beim Deich
    6. Oktober 2015

    @Alderamin: Katzen zucken auch im Schlaf, mit Augen und Beinen, schmatzen und knurren. Um dann manchmal aufzuwachen und ganz verdutzt umherzugucken, wo denn der Gegner/die Beute denn geblieben ist… 😉

  53. #53 BreitSide
    Beim Deich
    6. Oktober 2015

    Ich meine, irgendwo gelesen zu haben, dass das Bewusstsein “nur” ein weiterer “Trick” der Evolution ist. Eine Art der Informationsverarbeitung, die zwar langsam ist (Tiere sind fast immer schneller als wir beim Reagieren), aber dafür ganz andere Dimensionen ausloten kann.

    Und “dazwischen” sollen die Gefühle/Emotionen stecken, die die Signale zu einem Gebräu von Motivationen zusammen”rechnen”. Die wir aber auch wieder mit dem “übergeordneten” Bewusstsein “überstimmen” können.

    Oder auch nicht. Der “Kampf” geht immer mal so oder so aus, siehe optische (akustische…) Täuschungen. Dem “Bauchgefühl” kann ich nachgeben oder auch nicht.

  54. #54 ergo platzhalter
    19. Oktober 2015

    Danke für den aufklärenden Artikel, das mit den Argument mit den Ameisen kann ich nicht wirklich nachvollziehen (es ähnelt sehr dem Verhalten eines Pendels, das Verhalten eines Pendels kann man ziemlich genau vorhersagen, hängt man da noch eines dran usw. wird es immer schwieriger), d. h. das Verhalten einer Ameisenkollonie wäre einer Pendelkette ähnlich, ergo (zugegeben sehr komplex, aber) deterministisch.
    Sieht sehr nach einem dynamischen System aus, wenn man jetzt noch einen draufsetzt, könnte man doch glatt behaupten, dass die Existenz des Lebens auch nur dynamisch verläuft (sensitiv abhängig von den Anfangsbedingungen).
    Ich persönlich bin durchauch begeistert vom Prinzip der Logik und der Kausalität, und stelle mir persönlich die Frage: ” Was hatte zuerst Einfluss auf meine Persönlichkeit?”
    Da die ersten menschlichen kongnitiven Verbindungen nicht erst mit dem Zeitpunkt seiner Entbindung enstehen, sondern schon vorher, stellt sich mir die Frage, woher beziehen wir die dafür notwendigen Informationen? Daher lässt sich rechtens behaupten, dass wir nur ein Produkt unserer Umwelt sind.
    Und zum Schmerzempfinden und deratigen Gefühlsregungen würde ich nur gern anmerken, dass es dem menschlichen Gehirn in Schocksituationen gelingt, den Schmerz vollständig zu unterdrücken, ergo ist Schmerzempfinden subjektiv und bleibt der Auswertung im Gehirn überlassen (welche durch unsere Erfahrungen und bisherige Erlebnisse geformt wird).