Kein Leben auf großem Fuß

Ein besonders barbarisches Schönheitsideal wurde über viele Jahrhunderte in China praktiziert; der sogenannte Lotosfuß galt dort als Inbegriff weiblicher Schönheit. Das Ideal war der „Goldene Lotos” mit einer Fußlänge von circa zehn Zentimetern. Eine Länge, die etwa der europäischen Schuhgröße 17 entspricht, also der Größe des Fußes eines etwa zwei bis drei Monate alten Kindes. Ein Ideal, das jedoch kaum eine Frau erreichte; im Schnitt betrug die Größe eines Frauenfußes etwa 13 bis 14 Zentimeter.

Rund 15 Jahre dauerte die grausame Prozedur, mit der bei einem Mädchen ungefähr im Alter von drei bis fünf Jahren (die Zahlen schwanken) begonnen wurde. Dabei wurden die vier kleineren Zehen gebrochen, nach hinten unter die Fußsohle gebogen und anschließend mit festen Bandagen umwickelt, die jeden Tag enger gezogen wurden. Nicht selten fingen die Zehen unter den Stoffwickeln an zu faulen und starben schließlich ganz ab.

Doch die Schmerzen und lebenslangen Beeinträchtigungen der Töchter nahm man in Kauf, denn die Lotosfüße waren Garant für Ansehen und eine gute Heirat. Normal gehen oder größere Wege zurücklegen konnten die Frauen ohne Hilfe mit diesen Füßen kaum noch. Verschont wurden nur die Töchter armer Bauern, denn die winzigen Füße waren für die Feldarbeit unbrauchbar.

Ein Schönheitsideal mit fast 1000 Jahren Tradition

Zurückgeführt wird dieser schmerzhafte Brauch auf das Jahr 975. Demnach schenkte damals der Kaisers Li Yu seiner Geliebten, einer Tänzerin, eine als Lotosblüte geformte Bühne aus Gold. Um auf deren winzigen Fläche tanzen zu können, bandagierte sich die Tänzerin die Füße – angeblich der Beginn dieses grausamen Schönheitsideals.

Am Anfang wurden die Füße jedoch lediglich fest bandagiert, die schmerzhaften Verstümmlungen kamen erst später dazu. Das Binden der Füße wurde noch bis ins 20. Jahrhundert fortgeführt. Zwar wurde es 1911 durch die Republik China verboten, allerdings eher mit mäßigem Erfolg. Erst 1949, nach der Gründung der Volksrepublik China, gelang es Mao Zedong diesen Brauch endgültig zu unterbinden. Vor gut 22 Jahren schloss schließlich die letzte Fabrik, die Spezialschuhe für die Lotosfüße herstellte, ihre Pforten.

Quellen:

  • Coulmas, F.: Die Kultur Japans: Tradition und Moderne. Beck, München 2005
  • Weihe, R.: Die Paradoxie der Maske: Geschichte einer Form. Fink, München 2003
  • Regal, W. & Nanut, M.: Perverses Schönheitsideal. Ärzte Woche 9/2008. Springer, Wien
  • Maier, E. & Killmann, M.: Kinderfuß und Kinderschuh: Entwicklung der kindlichen Beine und Füße und ihre Anforderungen an fußgerechte Schuhe. Merkur, München 2003
  • Keshishian, J.M.: Anatomy of a Burmese Beauty Secret. In: National Geographic Magazine, Juni 1979, Seite 798 ff.
  • Prior, C.: Urvölker: Vom Überleben einzigartiger Kulturen. NATIONAL GEOGRAPHIC 2003

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Kommentare (4)

  1. #1 Andrea Thum
    Oktober 3, 2010

    Gruselig. Die Liste ließe sich ewig weiterführen.
    Kann es sein, dass diese Arten von “Verschönerungen” vorzugsweise nur bei Frauen angewandt wurden?

  2. #2 kommentarabo
    Oktober 3, 2010

  3. #3 N
    Oktober 3, 2010

    @Andrea Thum
    Sowohl bei den Maori (Gesichtstattoos/Schmucknarben) als auch bei diversen Völkern Afrikas (Schmucknarben, tw. am ganzen Körper) oder in Papua-Neuginea gibt oder gab es die Praxis der Narbenzufügung aus rituellen oder ästhetischen Gründen. Speziell bei den indigenen Völkern Australiens und umliegender Territorien gab es diverse Initiationsriten wie die Subinzision; auf den Pazifischen Inseln wurde oder wird Superinzision praktiziert.

  4. #4 Liane Vorwerk-Gundermann
    Oktober 4, 2010

    @Andrea Thum
    Die Lippenteller gibt es bei anderen Völkern auch bei den Männern, bei den Botokuden in Brasilien zum Beispiel. Bei den Zoé-Indianer im Norden Brasielens tragen beide Geschlechter bis zu 15 cm lange Lippenpflöcke. Ein Schönheitsideal für Mann und Frau sind bei den Surma in Äthiopien zum Beispiel auch Ziernarben, die in verschiedenen Mustern in die Haut geritzt werden. Die qualvollen Lotosfüße in China mussten allerdings nur die Frauen ertragen …