Die menschliche Darmflora ist ein eigenes Ökosystem. Ein einziges Gramm Darminhalt beherbergt mehr Lebewesen als die Erde Menschen. Die Darmflora hat das Image der Bakterien gerettet. Dabei handelt es sich um mehr als einen Haufen Bakterien, den wir für unsere Verdauung brauchen. Die Darmflora spielt eine entscheidende Rolle für die menschliche Gesundheit und damit natürlich auch für Krankheiten. Die Bezeichnung „Flora“ — also eigentlich Pflanzenwelt — ist dabei ein wenig irreführend und genau genommen ein Relikt aus Zeiten, in denen Bakterien noch dem Pflanzenreich zugeordnet wurden. Heute sprechen wir lieber vom Darmmikrobiom.

Wird über das Darmmikrobiom berichtet, meint man in erster Linie die Bakterien im Darm. Der bakteriellen Komponente des Darms hat man bereits viel Aufmerksamkeit geschenkt. Erst gestern habe ich den aktuellen “Spiegel” in der Hand gehalten, mit einer Titelstory über das Superorgan Darm: “Die Bakterien in unserem Darm entgiften, trainieren die Immunabwehr, regeln die Verdauung.” Ihre nützliche Funktion bei gesunden Personen ist bekannt und viele Faktoren, die die Zusammensetzung beeinflussen — Ernährung, Alter, Krankheiten, Medikamente — sind bereits gut verstanden. Auch wurde in den letzten Jahren intensive Forschungen betrieben, um dessen Rolle bei Krankheiten zu entschlüsseln. Die bakterielle Komponente des Darms wird mit einer Vielzahl von Krankheiten in Verbindung gebracht, von Magen-Darm- und Autoimmunerkrankungen über Lebererkrankungen bis hin zu Erkrankungen des Zentralnervensystems.

Darmviren: ein Imageproblem

Als Darmmikrobiom bezeichnet man aber eigentlich nicht nur Bakterien, sondern die Gesamtheit der Mikroorganismen, die den Darm von Menschen und Tieren besiedeln. Dazu zählen auch sogenannte Archaeen (ebenfalls einzellige Lebewesen ohne Zellkern) aber auch Eukaryoten (Lebewesen mit Zellkern; hier vor allem Pilze). Die virale Komponente des Mikrobioms (kurz “Darmvirom”) hat bisher fast gar keine Beachtung erhalten. Über die Viren im Darm weiß man kaum etwas und ihre Relevanz für Gesundheit und Krankheit muss erst noch untersucht werden. Im deutschsprachigen Wikipedia-Artikel über die Darmflora werden Viren nicht einmal erwähnt. Googelt man nach Darmviren, so stößt man auf die gängigen bekannten Krankheitserreger, die uns mit Durchfall und Erbrechen plagen. Dabei wissen wir eigentlich, dass die meisten Viren (und Mikroorganismen im Allgemeinen) weder für Menschen noch für Pflanzen oder Tiere krankheitserregend sind. Es wird also Zeit, das Image der Darmviren zu retten.

Exkurs: Metagenomik

Dass man den Viren (im Darm) bisher nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt hat, hatte vor allem technische Gründe. Für die klassische mikrobiologische Forschung mussten die Mikroorganismen zuerst kultiviert werden, um sie danach mittels Sequenzierung identifizieren zu können. Blöderweise lassen sich die meisten Mikroorganismen (Schätzungen liegen bei über 99%) aber gar nicht kultivieren (oder sagen wir besser, es hat noch niemand einen Weg gefunden, wie sie sich kultivieren lassen). Abhilfe schafft die Metagenomik, die erst dank technologischer Fortschritte in der Molekulargenetik möglich ist. Die Idee dahinter: man nehme eine Umweltprobe (Boden, Meerwasser, Windschutzscheibe oder eben Kot) und extrahiere daraus direkt das gesamte genetische Material.

Die Metagenomik brachte auch einen Umschwung in der Virologie mit sich. Interessierte man sich vorher eher sehr spezifisch für die Viren, die einen Krankheitszustand innerhalb eines Organismus auslösten, begibt man sich dank der Metagenomik mit Hochdurchsatzsequenzierung auf Expeditionen in die Virusökologie. Das erste Virusmetagenom wurde 2002 aus einer Ozeanprobe sequenziert. Seitdem hat die Metagenomik eine enorme mikrobielle Artenvielfalt in vielen unterschiedlichen Umgebungen ans Licht gebracht. In Kliniken setzt man Metagenomik zunehmend für schwer diagnostizierbare Fälle ein. Man muss aber auch sagen, dass die experimentellen und bioinformatischen Methoden für die Virusmetagenomik noch keinen Konsens erreicht haben. Selbst Metagenomik-Experten sprechen von „Dunkler Materie“, wenn sie die viralen Sequenzen beschreiben, die sie in Metagenomen finden.

Zurück in den Darm

Die erste Veröffentlichung überhaupt, in der das Darmvirom erwähnt wurde, erschien 2003. Im selben Jahr noch wurden die ersten Bakteriophagen aus menschlichem Kot sequenziert (übrigens von der gleichen Arbeitsgruppe, die auch das erste Virusmetagenom aus der Ozeanprobe sequenziert hat). Bakteriophagen sind Viren, die Bakterien und Archaeen befallen. Sie sind die am häufigsten vorkommenden Bewohner des Darms. Das Darmvirom enthält aber auch eukaryotische Viren, deren Wirte zum Beispiel die Pilze im Darm sind, oder der Mensch selbst. Selbst Viren, die im Rahmen unserer Ernährung den Magen-Darm-Trakt passieren (z.B. Pflanzenviren) zählen zum Darmvirom. Die krankheitserregende Wirkung von eukaryotischen Darmviren ist gut bekannt (Magen-Darm-Grippe durch Noroviren oder Rotaviren). Da Darmviren bei allen (acuh gesunden) Menschen vorhanden sind, wird vermutet, dass auch sie eine wichtige Rolle für das Gleichgewicht des Körpers spielen; nur gibt es bisher dafür kaum Belege.

CrAssphage: Kein Computervirus, aber nach einer Software benannt

Das erste Darmvirus, das 2014 neuentdeckt wurde und vorher völlig unbekannt war, schlug hohe Wellen. Der so getaufte CrAssphage ist ein Bakteriophage, der Bakterien des Stammes Bacteroidetes befällt, die wiederum im Darm vieler Tiere, einschließlich des Menschen, häufig vorkommen. Bacteriodetes leben im Endbereich des Verdauungstraktes und stehen im Verdacht, eine Rolle bei krankhaftem Übergewicht und anderen Darmkrankheiten zu spielen. Das Virus wurde cooler Weise nach der Bioinformatik Software crAss (Cross-Assembly of Metagenomes) benannt, mittels derer es entdeckt wurde und ist damit möglicherweise der erste Organismus, der nach einem Computerprogramm benannt wurde. Bei der bioinformatischen Untersuchung von Metagenom-Datensätzen aus Stuhlproben, die öffentlich in Datenbanken zugänglich sind (die Datensätze, nicht die Stuhlproben), wurde dieses neue Virus entdeckt und in mehr als der Hälfte der verfügbaren menschlichen fäkalen Virome nachgewiesen. Da das Virus so weit verbreitet ist, ist es höchstwahrscheinlich bereits sehr alt. In den frühen Entwicklungsstufen des Fötus im Mutterleib und bei Säuglingen ist der CrAssphage noch nicht vorhanden. Sehr wahrscheinlich wird das Virus also in der frühen Kindheit aufgenommen. Bisher gibt es noch keine Hinweise darauf, inwiefern der CrAssphage Einfluss auf die menschliche Gesundheit hat.

Während der CrAssphage zum Zeitpunkt seiner Entdeckung im Jahr 2014 keine bekannten Verwandten hatte, wurden im Jahr 2017 eine ganze Reihe verwandter Viren entdeckt und eine neue Familie von CrAss-ähnlichen Phagen beschrieben.

Alle gleich oder doch jeder einzigartig?

Wenn der CrAssphage in einem so großen Teil der Bevölkerung vorkommt, stellt sich natürlich die Frage, ob es eine Art Kernvirom im Darm gibt, das allen Menschen gemein ist. Die Frage ist bisher ungeklärt, aber Fakt ist, dass noch weitere Viren im Darm vieler Menschen zu finden sind, darunter weitere Vertreter der CrAss-ähnlichen Phagen. Bei der vergleichenden Untersuchung des Darmviroms von Erwachsenen hat man jedoch auch entdeckt, dass dessen Zusammensetzung bei jedem Individuum einzigartig ist. Man kennt bereits mehrere Faktoren, die unsere Viromzusammentzung im Darm beeinflussen: Verwandtschaft, Ernährung, Geburtsmodus und natürlich auch Krankheiten. Der Geburtsmodus (das heißt natürlich versus Kaiserschnitt) scheint die Virenzusammensetzung im Darm sogar stärker zu beeinflussen als die Bakterienzusammensetzung.

An die Frage, wie sich das Darmvirom zusammensetzt, schließt sich direkt die Frage über dessen Einfluss auf die Gesundheit eines Menschen an. Die Rolle des Darmviroms bei Krankheiten ist bei weitem noch nicht hinreichend untersucht. Man kennt jedoch schon Zusammenhänge mit einigen Krankheiten, unter anderem chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Typ-I-Diabetes und Darmkrebs. Auch Mangelernährung lässt sich am Darmvirom erkennen, es bleibt jedoch noch unklar, ob die veränderte Zusammensetzung Ursache oder Folge der Krankheit ist.

Vom Babydarm zum Erwachsenendarm: Stabilität über die Zeit

Ob der Darm von Neugeborenen völlig steril ist oder nicht, ist immer noch umstritten. Unmittelbar nach der Geburt ist er einer enormen Anzahl von Mikroorganismus ausgesetzt und wird von diesen besiedelt. In den folgenden Wochen und Monaten bildet sich eine stabile Gemeinschaft dieser Organismen. Das Virom verändert sich in den ersten Lebenswochen drastisch: mehr als die Hälfte der Viren aus Stuhlproben in der ersten Lebenswoche, sind in der zweiten schon nicht mehr nachweisbar. Bakteriophagen dominieren die frühe Besiedlung des Darms nach der Geburt und stammen eher aus der Umwelt als von der Mutter oder der Nahrung. Interessanterweise wird die größte Menge und Vielfalt an Phagen in den ersten Lebensmonaten beobachtet und nimmt im Laufe der Zeit signifikant ab. Die bakterielle Komponente des Darmmikrobioms entwickelt sich genau anders herum.

Auch eukaryotische Viren wurden in Stuhlproben von Säuglingen nachgewiesen, auch ohne, dass diese Säuglinge ein Krankheitsbild zeigten. Ihr Reichtum nimmt wiederum mit zunehmendem Alter zu, vermutlich, weil wir diese Viren aus der Umwelt aufnehmen.

Im Gegensatz zu den drastischen Veränderungen im Virom des Säuglingsdarms scheint das gesunde Darmvirom eines Erwachsenen über die Zeit ziemlich stabil zu sein. Trotzdem mutieren die Viren natürlich auch in unserem Darm. So kann es schon vorkommen, dass sie sich innerhalb von zwei Jahren so sehr verändern, dass sie sich zu einer neuen Art entwickeln. Das könnt auch ein Grund für die zwischenmenschlichen Unterschiede im Darmvirom sein.

Bakterien vs Phagen

Wie kommen die Bakterien und die Bakteriophagen in unserem Darm nun eigentlich miteinander klar und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Die mikroskopische Untersuchung von Stuhlproben ergab, dass etwa 108 bis 109 Viren und 109 Bakterienzellen pro Gramm Stuhl zu finden sind. Also etwa ein Verhältnis von 1:1 oder 0,1:1. Die verhältnismäßige Anzahl an Viren ist viel geringer als beispielsweise in Meeresproben. Auch findet sich im Darm kein klassischer “Räuber-Beute” Zyklus: viele Bakterien > viele Phagen, die die Bakterien infizieren > dadurch Reduzierung der Bakterien > weniger Phagen (“Räuber-Beute” ist in diesem Zusammenhang nicht ganz richtig, aber ihr wisst, was ich meine). Nur im Säuglingsdarm trifft man anfangs einmal auf diesen Zyklus (wie oben schon angesprochen). Die Bakteriophagen in unserem Darm sind also nicht besonders aggressiv, sondern führen einen eher “gemäßigten Lebensstil” (wenn ich das so sagen darf, für etwas, was man nicht mal als Lebewesen betrachtet). Daher sind Phagen im Darm mehr als nur “Raubtiere”. In einigen Fällen helfen sie sogar ihrem bakteriellen Wirt, sich in dem Ökosystem, in dem sie sich befinden (also in diesem Fall im Darm), einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Das bedeutet aber auch, dass die Wechselwirkungen zwischen Bakterien und Bakteriophagen im Darm für die bisher bekannten Modelle, die die Dynamik von Phagen und Bakterien in anderen ökologischen Umgebungen beschreiben, zu komplex sind. Hier sind neue Modelle erforderlich, insbesondere um diese Dynamik im Hinblick auf Krankheiten zu untersuchen.

Warum sollte man ein mehrdimensionales Ökosystem untersuchen, indem man sich nur auf eine Dimension konzentriert?

Bleibt zu sagen, dass wir noch fast nichts wissen über unser Darmvirom. Was wir brauchen, sind größere Längsstudien, die sich sowohl auf die bakterielle als auch auf die virale Komponente des Darmmikrobioms konzentrieren. Und wir brauchen bessere viren-bioinformatische Analysen. Die meisten Virussequenzen in Metagenomstudien bleiben noch immer unidentifiziert (“Dunkle Marterie”). Dementsprechend sind auch die Auswertungen nicht vollständig und es kommt immer wieder zu Widersprüchen in den Forschungsergebnissen. Wichtig für die Zukunft ist, dass wir nicht nur weiter die Bakterien im Darm untersuchen, sondern vor allem auch die Rolle der Phagen im Blick behalten: Wie verändern Bakteriophagen die Zusammensetzung und Funktion der bakteriellen Komponente des Darms und welchen Einfluss haben sie dadurch auf unsere Gesundheit?

What is (not) known about the dynamics of the human gut virome in health and disease.
Beller L, Matthijnssens J.
Curr Opin Virol. 2019;37:52-57.

Kommentare (7)

  1. #1 Joseph Kuhn
    5. Juli 2019

    Danke, sehr interessant.

    Hoffentlich stellt sich nicht eines Tages heraus, wir evolutionär nach unserer Funktionalität als Nährboden des Mikrobioms ausgelesen wurden 😉

  2. #2 rolak
    6. Juli 2019

    Angenehmer Überblick auf den Stand der Dinge…

    eukaryotische Viren

    Das klingt nach einer unmöglichen Eigenschaft – sind damit Viren gemeint, die eukariotische Zellen (statt Bakterien) befallen?

    • #3 Franziska Hufsky
      6. Juli 2019

      Genau! Im Englischen sagt man das tatsächlich so. Ich bin mir aber ehrlich gesagt auch nicht ganz sicher, ob man das im Deutschen auch einfach so übersetzt…

  3. #4 Joseph Kuhn
    6. Juli 2019

    … die eukaryotischen Viren haben jedenfalls ein “dass” in meinem Kommentar gefressen.

  4. #5 rolak
    7. Juli 2019

    Im Englischen

    Ach daher, Franziska – es scheint ‘dort’ allerdings genauso unentschlossen gehandhabt zu werden wie hier; allerdings ist zugegebenermaßen das alternative “viruses of eukaryotesetwas holperiger.

    jedenfalls “dass” gefressen

    Nicht jeden-, sondern keinesfalls, Joseph, denn sonst wären es ja lexikalische Viren. Oder grammatische? Diese Frage rsp ihre Beantwortung bedarf wohl eines inspirierten Geistes, ich wähle – wähle Marillengeist.
    Angenehmes Restwochenende allerseits!

  5. #6 Uli Schoppe
    7. Juli 2019

    Ich meld mich mal damit man sieht das man nicht für nix was schreibt. Ich lese hier jeden Beitrag, macht mich schlauer als vorher 🙂

    • #7 Franziska Hufsky
      7. Juli 2019

      Das höre/lese ich wirklich gerne und es motiviert ungemein, dran zu bleiben!