In einem meiner letzten Beiträge habe ich euch bereits erzählt, wie verschiedene Fortschritte in der Mikrobiologie einen völlig neuen Einblick in die Welt der Viren ermöglichen. Metagenomik und hochmoderne Sequenziertechnologien werden in vielen Forschungsbereichen vermehrt eingesetzt, von der Ökologie bishin zur Ernährungswissenschaft. Die Idee dahinter: man nehme eine Probe (Wasser, Käse, Kot, Blut, Gewebe, …) und sequenziert daraus direkt das gesamte genetische Material. Auch in die Krankenhäuser hält die Metagenomik Einzug und verändert die Art und Weise, wie Ärzte Infektionskrankheiten diagnostizieren und behandeln. Denn die Metagenomik bietet zwei entscheidende Vorteile gegenüber gängigen Diagnosetests: (1) Mit einem einzigen Test kann das gesamte Spektrum an Krankheitserregern in nahezu jeder klinischen Probe untersucht werden und (2) man braucht keine Anfangsvermutung, um welchen Erreger es sich handelt — somit können auch unerwartete oder sogar unbekannte Krankheitserreger erkannt werden.

Eine Krankheit — 100 verschiedene Ursachen

Ein Fallbeispiel: Ein 14-jähriger Junge, der an einer angeborenen schweren Störung des Immunsystems leidet, kommt dreimal innerhalb von vier Monaten in die Klinik und klagt über Fieber und Kopfschmerzen. Die Flüssigkeitsräume des Gehirns sind krankhaft erweitert und es kommt zu einem andauernden epileptischen Anfall. Der Junge muss ins Koma versetzt werden. Alle diagnostischen Test, inklusive einer Hirnbiopsie (Gewebeentnahme aus dem Gehirn), helfen nicht weiter. Mehr als 100 verschiedene Infektionserreger können solch eine Hirnentzündung auslösen. Meist wird sie durch Vireninfektionen ausgelöst (wie zum Beispiel die von Zecken übertragene Frühsommer-Meningoenzephalitis), aber auch bakterielle Infektionen können die Ursache sein. Eine Diagnose mit den herkömmlichen Testmethoden für einzelne Erreger ist enorm aufwendig. Mehr als die Hälfte der Hirnentzündungen werden nicht diagnostiziert. Im Falle des Jungen entschließt man sich zu einem Schritt in die Moderne: die Hirnflüssigkeit wird mittels eines metagenomischen Ansatzes komplett “durchsequenziert”. Dabei entdeckt man tatsächlich die Ursache der Entzündungen: eine Infektion des Gehirns durch Bakterien der Gattung Leptospira. Die erfolgreiche Diagnose der Ursache, ermöglicht eine gezielte Behandlung der Krankheit mit Antibiotika. Bei einer viralen Infektion, wäre diese wirkungslos gewesen. Einen Monat später kann der Junge aus der Klinik entlassen werden.

MRT Aufnahme einer Hirnentzündung bei einem 6-jährigen mit Norovirus (CC BY-SA 3.0 by Hellerhoff)

Diagnose von Infektionskrankheiten

Die traditionelle klinische Vorgehensweise für die Diagnose von Infektionskrankheiten bei Patienten wird seit mehr als einem Jahrhundert angewandt und läuft im Prinzip immer gleich ab: Die Ärztin/der Arzt formuliert eine Differentialdiagnose, das heißt, sie/er zählt alle möglichen Erklärungen auf, die für die Symptome des Patienten in Betracht kommen. Für viele Krankheitsbilder, zum Beispiel Hirn(haut-)entzündungen, Atemwegssyndrome oder fieberhafte Erkrankungen, ist die Differentialdiagnose sehr breit und der Arzt/die Ärztin muss eine Reihe von Tests anordnen, um den Erreger zu identifizieren. Solche Tests sind in der Regel kostengünstig und schnell (weniger als zwei Stunden). Die meisten herkömmlichen mikrobiologischen Tests sind jedoch sehr spezifisch, das heißt sie erkennen nur eine begrenzte Anzahl von Krankheitserregern (häufig genau einen Erreger). Meist wird mit dem wahrscheinlichsten Krankheitserreger begonnen und sich dann weiter vorgetestet. Dieser Ansatz ist zeitaufwändig und in Summe mit erheblichen Kosten verbunden. Im schlimmsten Fall vergehen Wochen bis ein Endergebnis erzielt wird, wenn überhaupt. Metagenomische Sequenzierung hingegen dauert länger als ein einzelner dieser mikrobiologischen Tests (etwa einen Tag) und ist teurer, aber fast alle Krankheitserreger, einschließlich Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten, können mit einem einzigen Test identifiziert werden. Die metagenomische Sequenzierung von klinischen Proben ist damit vielleicht der vielversprechendste Ansatz für die umfassende Diagnose von Infektionen.

Metagenomik bedeutet, dass die Gesamtheit der in der Probe befindlichen DNA (Genom) und/oder RNA (Transkriptom) sequenziert wird. Jede Körperflüssigkeit und jedes Gewebe kann einer solchen metagenomischen Untersuchung unterzogen werden. Wichtig ist, dass genügend Nukleinsäure (also DNA oder RNA) in der Probe enthalten ist. Denn mehr als 99% der enthaltenen Sequenzen ist menschlich (wobei Gewebe mehr menschliche Sequenzen enthält als Körperflüssigkeiten), und von den verbleibenden Sequenzen stammt nur eine Bruchteil von potenziellen Krankheitserregern. In manchen Fällen muss die menschliche DNA vorher sogar entfernt werden, um ein ausreichend starkes Signal des Erregers zu erhalten.

Die Metagenom-Sequenzierung bietet noch weitere Vorteile: Im Falle von bakteriellen Infektionen zum Beispiel, kann nicht nur der Erreger identifiziert werden, sondern auch Antibiotikaresistenzgene im Erreger direkt nachgewiesen werden. Das verhindert den Einsatz des falschen Antibiotikums von vornherein. Überhaupt können die Sequenzdaten potenziell für zusätzliche Analysen genutzt werden. Zum Beispiel kann man anhand der menschlichen (Transkriptom-)Sequenzen auch die Reaktion des menschlichen Körpers auf den Erreger untersuchen.

Klinik vs Forschung: Kosten und Know-How

Trotz des Potenzials und der jüngsten Erfolge der Metagenomik in der Forschung hinken die Anwendungen in der klinischen Diagnostik hinterher. Klar ist, dass metagenomische Untersuchungen in klinischen Labors schwieriger umzusetzen sind. Während sich in der Forschungsumgebung die Vorverarbeitung, die Sequenziermethoden, und die bioinformatische Auswertung ständig verändern, muss ein Test für die Klinik standardisiert sein. Jede Änderung, die an einem solchen Testverfahren vorgenommen wird, muss vor der Anwendung am Patienten geprüft werden. Die Komplexität der metagenomischen Untersuchung erfordert hochqualifiziertes Personal, das in molekularbiologischen Verfahren bestens ausgebildet ist, und äußerste Sorgfalt im Umgang mit den Proben, um Fehler und Kontaminationen zu vermeiden. Selbst die kleinste Menge an DNA oder RNA von außen könnte ein falsches Signal liefern.

Zudem gibt es bisher keine wirklich benutzerfreundliche Bioinformatik-Software zur Auswertung metagenomischer Sequenzdaten. Auch hier ist hochqualifiziertes Personal erforderlich, um eine entsprechende Software für den klinischen Einsatz zu entwickeln, zu validieren und zu warten. Auch die benötigte Rechenpower und der Speicherbedarf stellen ein Problem dar, insbesondere im Hinblick auf den Schutz vertraulicher Patientendaten.

Nicht zuletzt spielen natürlichen die Kosten eine entscheidende Rolle. Auch wenn die Sequenzierverfahren an sich immer kostengünstiger werden, darf man Faktoren wie Personalkosten nicht unter den Tisch fallen lassen. Die metagenomische Untersuchung einer Probe kostet mehrere hundert bis tausend Euro und ist damit wesentlich teurer als viele andere klinische Tests. Preislich lohnt sich eine solche Untersuchung also nur, wenn dadurch eine Vielzahl anderer Tests vermieden werden kann.

Nanoporen: Der Sequenzierer in der Hosentasche

Sequenzierungstechnologien und ihre Anwendungen entwickeln sich ständig weiter. Next-Generation-Sequenzierung hat das Lesen von Sequenzen um ein vielfaches vereinfacht und beschleunigt (Zeit für die Sequenzierung eines Menschengenoms von 13 Jahren auf 2 Tage verringert) und das Feld der Metagenomik überhaupt erst in Gang gebracht. Mittlerweile sind wir im dritten Zeitalter der Sequenzierung angekommen. Mittels sogenannter Nanoporen (Sequenzierer im Hosentaschenformat) kann man heute in Echtzeit sequenzieren — ein enormer Vorteil bei der Behandlung von Patienten mit akuten Infektionskrankheiten. Nanoporen-Sequenzierung ermöglicht die Erkennung von Erregern in weniger als 6 Stunden. Für die Zukunft bedeutet das, dass metagenomische Untersuchungen direkt am Patientenbett oder in der Notaufnahme stattfinden könnten. Das ist auch attraktiv für die Fernüberwachung von Virenepidemien oder im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre der Patienten, da die menschlichen Sequenzdaten nicht gespeichert werden.

Auf jeden Fall werden metagenomische Untersuchungen in den kommenden Jahren auch im Krankenhaus immer attraktiver werden. Die Gesamtkosten und die Durchlaufzeiten werden weiter sinken, und die gewonnen Zusatzinformationen (zum Beispiel in Bezug auf die Immunantwort des Patienten) werden sich als nützlich erweisen. Auch die Software für die bioinformatische Auswertung wird sich weiterentwickeln, und viele der Abläufe im Labor werden automatisiert stattfinden. Und in einer Welt mit ständig neuen Krankheitserregern werden solche unvoreingenommenen Tests eine zentrale Rolle für die Erkennung und auch für die Überwachung von Infektionsausbrüchen spielen. Dank Nanoporen-Sequenzierung wird es möglich sein, Infektionsausbrüche viel früher zu erkennen und einzudämmen, und damit Leben zu retten und Kosten zu senken.

Kommentare (6)

  1. #1 Felix
    25. September 2019

    “Während sich in der Forschungsumgebung die Vorverarbeitung, die Sequenziermethoden, und die bioinformatische Auswertung ständig verändern, muss ein Test für die Klinik standardisiert sein.”

    Hier sehe ich auch ein recht großes Problem. Solche Metagenom-Analysen haben viele Abhängigkeiten. Angefangen beim Alignieren der Reads, über die benutzten Referenzgenome, bis hin zur Statistiksoftware. Da einen wirklich standardisierten Test zu entwickeln halten ich für sehr schwierig. Vor allem weil gefühlt monatlich neue Programmversionen veröffentlicht werden. Die meisten Anwendungen werden ja auch von Forschern für Forscher geschrieben und gar nicht dafür ausgelegt in standardisierten Pipelines (im Sinne von ‘für die klinische Anwendung standardisiert’) verwendet zu werden.

    • #2 Franziska Hufsky
      25. September 2019

      Ja, ich denke hier muss man die Forschungsanwendung klar von der klinischen Anwendung trennen. Soll heißen, es muss eine Analyse Pipeline speziell für die Klinik entwickelt werden. Die kann natürlich nicht immer auf dem aktuellen Stand der Forschung sein, aber solch eine Pipeline ist trotzdem denkbar (und das auch in nicht all zu ferner Zukunft).

  2. #3 JW
    27. September 2019

    Ja, die Diskussion Methoden in der Grundlagenforschung und im medizinischen Labor ist unendlich und wurde ja auch schon bei nucular angerisse.
    Aber bei der Analytik in der Mikrobiologie fehlt mir die Analytik des Proteoms mittles MALDI-TOF. Die gibt es jetzt auch schon einige Jahre und ist ein schöner Zwischenschritt zwischen den klassischen Verfahren mit Ausstrich und Kultur und Metagenomanalyse. Siehe auch https://www.bruker.com/applications/microbiology/clinical.html

  3. #4 M
    Bolivien
    28. September 2019

    @JW #3
    Interessant. Wie hoch sind denn die Erkennungsraten so ungefähr? Wieviel kostet das Gerät? Wieviel die Vergleichsdatenbanken? Wieviel die Analyse ohne Personalkosten?
    Wäre ja möglich, dass du es ausm Kopp weißt 🙂

  4. #5 JW
    30. September 2019

    @M Tut mir leid, da habe ich leider keine Infos zu. Ich treibe mich in anderen Abteilungen in den Labors rum. Von der Methode habe ich nur durch den Plausch mit einem Laborleiter erfahren.

  5. #6 M
    Bolivien
    30. September 2019

    @JW
    Trotzdem danke!

    @FH
    “Während sich in der Forschungsumgebung die Vorverarbeitung, die Sequenziermethoden, und die bioinformatische Auswertung ständig verändern, muss ein Test für die Klinik standardisiert sein.”

    Wenn ein Test nicht direkt zu einer Auswahl des Behandlungsverfahrens führt, sondern erstmal zur Auswahl eines standardisierten Testes zur Absicherung, muss man da eigentlich nicht ganz so große Anforderungen stellen. Auch wenn man natürlich aufpassen muss, dass der nicht standardisierte Test einen nicht in eine ungünstige Richtung treibt.