Vor 40 Jahren endete der sogenannte Vietnamkrieg, dem Millionen Vietnamesen zum Opfer gefallen sind und immer noch findet man in Vietnam die sterblichen Überreste, meist Knochen solcher Kriegstoter zum Beispiel bei Ausgrabungen oder bei der Reisernte. Denn während die US-Amerikaner die Überreste der meisten ihrer gefallenen Soldaten geborgen, identifiziert und zurück in die USA überführt haben, ist die Identität von gerade einmal einigen Hundert der gefallenen Vietnamesen bekannt und gelten noch immer 500.000 oder mehr als vermißt.

Viele Vietnamesen, die Verwandte und/oder Vorfahren in diesem Krieg verloren haben, können und wollen sich damit nicht abfinden und suchen weiter nach den sterblichen Überresten ihrer Angehörigen.

Vor einigen Jahren hatte die vietnamesische Regierung ein Einsehen und beauftragte die Advanced International Joint Stock Company (AIC) in Hanoi damit, eine Lösung zu finden. Das AIC kontaktierte die Firma Bioglobe in meiner neuen Nachbarstadt Hamburg und verhandelte mit ihnen, wie man vietnamesische Labore und Wissenschaftler ausstatten und ausbilden müßte, um die gewaltige Aufgabe zu bewältigen. Die Identifikation von Toten nach massenhaftem Versterben wie bei Kriegen oder Naturkatastrophen obliegt, wie ich schon einmal erwähnte, der forensischen Spezialdisziplin „disaster victim identification“ (DVI):

Häufig sind die Verstorbenen nicht mehr visuell und manchmal nicht einmal mehr als menschlich zu erkennen, wenn eine erhebliche Zerstörungskraft freigesetzt wurde. Es werden dann abgetrennte Extremitäten, Gewebestücke, Teile innerer Organe, Knochen etc. gefunden, die, je nach Wetterlage und Art des Unglücks, bereits faulig oder verwest, insektenbesiedelt, skelettiert und/oder verbrannt oder verkohlt sind. Den DVI-Experten bieten sich regelmäßig wahrhaft alptraumhafte Szenarien. Aufgabe der DVIler ist es dann, alle zur Verfügung stehenden Methoden zur forensischen Identifizierung (Fingerabdrücke, Zahnstatus und natürlich DNA) einzusetzen, um nicht nur DNA-Profile der Verstorbenen zu erheben, sondern auch Leichenteile einander zuzuordnen, sowie die Abnahme und Bearbeitung von Vergleichsproben möglicher Angehöriger oder von diesen zur Verfügung gestellter persönlicher Gegenstände der Verstorbenen zu organisieren und koordinieren.  Je nach Größe der Katastrophe und Anzahl der Opfer, die ja auch unterschiedlicher Nationalität sein können, ist eine enorme logistische und organisatorische Leistung erforderlich: Bergungs- und Rettungsarbeiten müssen abgeschlossen werden, es müssen nicht nur die Familien der Opfer benachrichtigt und deren Versorgung/Unterstützung gewährleistet, auch die DVI-Experten, die häufig aus mehreren Ländern herbeigeholt werden, müssen untergebracht, versorgt und die nötigen Arbeitsplätze und -materialien bereitgestellt werden. Dabei müssen internationale Standards und Vorschriften eingehalten und forensische Qualitätsansprüche erfüllt werden. Ein mögliche Sprachbarrieren überwindender Informationsaustausch muß ermöglicht und ggf. Unterstützung für das Land, in dem die Opfer gestorben sind organisiert werden, wenn dieses nicht über ausreichende Infrastruktur verfügt.

(aus Forensik FAQ, Antwort 15)

Die Identifikation der Vietnamtoten stellt die größte systematische Identifikationsbemühung dar, die bisher unternommen wurde, selbst nach dem Krieg in Bosnien-Herzegovina wurden „nur“ um die 20.000 Tote identifiziert. Die vietnamesische Regierung wird dafür 500 Milliarden Dong (> 20 Mio. €) aufwenden wovon unter anderem die drei bereits existierenden nationale DNA-Zentren aufgerüstet werden. Das ist auch nötig, denn die Herausforderung ist enorm, da von den allermeisten Toten nur Knochen übrig sind, die noch dazu jahrzehntelang in einem Land mit feuchtheißem Klima in flachen Gräbern liegen oder lagen, was zu einer erheblichen Degradierung (= Fragmentierung) der DNA in den Knochenzellen geführt haben und eine DNA-basierte Identifikation deutlich erschweren wird. (Langjährige LeserInnen erinnern sich vielleicht noch an den Aufwand, den wir mit dem Knochen aus der Tiefe treiben mußten.) Weitere Schwierigkeiten bestehen in der Kontamination der Knochen mit großen Mengen von Mikrorganismen aus dem Erdreich und um effizient zu arbeiten und nicht mehrere Knochen desselben Skeletts zu untersuchen, ist zudem eine kundige und rigorose Sortierarbeit erforderlich, die gute anatomische und anthropolgische Kenntnisse verlangt.

Um die technischen Hürden zu überwinden, werden STR-Kits und Extraktionsroboter der jedem Biowissenschaftler bekannten deutschen Firma aus Hilden verwendet. Die DNA-Extraktionsprozedur wird automatisch und im großen Maßstab von Maschinen durchgeführt werden. Sie kann besonders effizient Inhibitoren entfernen und dabei möglichst schonend zur ohnehin stark angegriffenen DNA sein. Die STR-Kits werden deutlich mehr als die üblichen 16 oder 17 STR-Systeme umfassen und für degradierte DNA optimiert sein. Durch den Einsatz von Kapillarelektrophoresegeräten, die mit bis zu 96 Kapillaren parallel arbeiten, kann so ein hoher Durchsatz erzeugt werden. In den Fällen, in denen die automatisierte DNA-Extraktion nicht alle Inhibitoren entfernen kann, wird man auf noch effizientere aber nur manuell durchführbare und von der International Commission on Missing Persons (ICMP) in Sarajevo entwickelte Methoden ausweichen.

Um sich die nötigen und in Vietnam nicht ohne Weiteres zu erlangenden Kenntnisse und Fertigkeiten für die Durchführung der Arbeiten anzueignen, werden sechs vietnamesische Wissenschaftler nächsten Monat nach Hamburg reisen und dort einige Monate lang bei Bioglobe die Anwendung der DNA-Methoden zu lernen. Zwischendurch sollen sie einen Abstecher nach Sarajevo machen, um beim ICMP eine zusätzliche Ausbildung zum Umgang mit Knochen, deren sachgerechter Untersuchung, Bergung, Sortierung etc. zu erhalten. Daß die Wissenschaftler beim ICMP etwas von DVI verstehen, sieht man daran, daß sie aus 80% der Knochen der Opfer des Genozids von Srebrenica auswertbare DNA gewinnen konnten. Die vietnamesischen Knochen werden zwar deutlich älter und in einem schlechteren Zustand sein doch haben sich die Methoden in den letzten 20 Jahren so stark verbessert, daß die Aussichten dennoch nicht schlecht sind.

Ein weiteres Problem ist natürlich, daß für eine DNA-basierte Identifikation einer verstorbenen Person grundsätzlich immer zwei DNA-Profile verglichen werden müssen. Das des oder der Toten mit entweder der DNA von einem Asservat, wie z.B. einem persönlichen Gegenstand (Rasierer, Kamm etc.), dessen Besitzer eindeutig feststeht (was bei der großen Mehrheit der Vietnamtoten nicht verfügbar sein dürfte) oder aber dem DNA-Profil einer mit dem/der Toten verwandten Person. Bei direkter Verwandtschaft (Kinder oder Eltern) ist das einfach, je geringer jedoch der Verwandtschaftsgrad (Onkel, Cousin), desto schwieriger und indirekter wird der Nachweis der Identität. Da viele der Kriegstoten in Vietnam zu jung waren, um schon Kinder zu haben aber schon zu lange tot sind, als daß ihre Eltern noch lebten, wird man sehr häufig nur auf entferntere Verwandte zurückgreifen können, die man auch erst einmal ausfindig machen muß. Zu diesem Zweck soll ein öffentlicher Aufruf gestartet werden, in dem die vietnamesische Öffentlichkeit aufgefordert wird, Speichelproben abzugeben, damit eine Datenbank mit Referenz-DNA-Profilen angelegt werden kann.

Etwa 2017 sollen die DNA-Zentren auf den neuesten Stand gebracht sein und dann können die Arbeiten beginnen. Die Aufgabe, die vor den vietnamesischen Wissenschaftlern liegt, ist gewaltig! Die Zentren werden zusammen vielleicht 10.000 Individuen pro Jahr identifizieren können. Der Krieg und seine Toten wird das Land also noch eine ganze Weile beschäftigen.

 

Ich wünsche dieser Anstrengung allen erdenklichen Erfolg denn ich weiß inzwischen aus eigener Erfahrung, wie wichtig vielen Menschen die Gewißheit um das Schicksal auch lange verstorbener Angehöriger ist. Ich hoffe also, daß irgendwann ein Großteil der vermißten Toten aus diesem schrecklichen Krieg identifiziert sein wird und daß die vietnamesische Wissenschaftslandschaft von den bis zu diesem Tag zu unternehmenden Anstrengungen profitiert und daran wächst. Und wer weiß, vielleicht fahre ich in 20 Jahren ja mal zu einem Kongreß in Hai Phong oder Hanoi, weil dann dort die besten DVI-Experten der Welt sitzen…

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Nachtrag am 14.06.16: Wer an mehr Details interessiert ist und gerne auch einmal die vietnamesischen Wissenschaftler sehen möchte, kann hier nachlesen (auf Englisch).

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Kommentare (9)

  1. #1 Alisier
    29/01/2016

    Sehr interessanter und guter Post, aus meiner Sicht, auch weil er dazu beiträgt, das immer noch weit verbreitete Vorurteil zu widerlegen, Menschen in anderen Teilen der Welt seien die Toten nicht so wichtig.
    Und Vietnam ist definitiv eine Reise wert, nicht nur wenn dort die DVI-Experten gerade tagen. Wenn du mal in dem Rahmen hinkommst, dann sieh zu, dass du irgendwie Familienanschluss bekommst. So hast du eine Chance, das Land wirklich kennenzulernen.

  2. #2 Cornelius Courts
    29/01/2016

    @Alisier: Nächstes Jahr ist eine wichtige Tagung in Seoul. Von da aus wollte ich auch nach Thailand. Vielleicht bleibt da ja ein bißchen Zeit für einen Abstecher nach Vietnam ….

  3. #3 Simon
    Aachen
    29/01/2016

    Richtig schön,nur mal so zum Info

  4. #4 rolak
    29/01/2016

    Boah, was haben die für eine (irgendwie ja doch) gruselige und unglaublich umfangreiche Arbeit vor sich^^ Respekt!

    Und eine schöne Kipling-Reverenz (oder?), merci.

    btw: bei DVI bin ich alter TeXie immer ziemlich abgelenkt

  5. #5 Cornelius Courts
    31/01/2016

    @rolak: “Kipling-Reverenz”

    der alte Rudyard? Wo hast Du die ausgemacht?

    “ziemlich abgelenkt…”

    Nerd 😉

  6. #6 rolak
    31/01/2016

    Wo hast Du die ausgemacht?

    In der Ähnlichkeit des absoluten postAnfangs und des relativen StrophenEndes, aber auch nur weil letztens über letzteres gesprochen wurde, bin nicht so der GedichteAuswendigLerner…

  7. #7 rolak
    31/01/2016

    (vergessen..)

    Nerd

    Ach das ist doch wechselseitig, Cornelius, falls ich mal von -äh- meinem DVI akronymisch erzählen sollte, wirst Du auch ein wenig irritiert sein. Zumindest eine Zeit lang – funktioniert hier ja sogar trotz Deiner eindeutigen Einführung…

  8. #8 Anderer Michael
    31/01/2016

    Alisier
    “auch weil er dazu beiträgt, das immer noch weit verbreitete Vorurteil zu widerlegen, Menschen in anderen Teilen der Welt seien die Toten nicht so wichtig.”

    Sicherlich richtig. Beispiel Irian: Dort äußerten die Indigen noch in den 60-70 Jahren größtes Unverständnis über die Beerdigungsriten der Europäer, und fanden diese seien respektlos gegenüber ihren Toten.
    Der Versuch des Habsburgers Joseph II die pompösen Wiener Beerdigungsriten einzudämmen (anonyme Vierergräber, kein Sarg) scheiterte am Widerstand der Wiener.

  9. #9 Cornelius Courts
    14/06/2016

    hier gibt es noch mehr Details und kurze Clips, die die vietn. Wissenschaftler zeigen: https://www.qiagen.com/de/about-us/newsportal/stories/2016/06/20160613-project150/