Seit den 80er-Jahren besteht die wichtigste Aufgabe der forensischen DNA-Analyse darin, zu klären, von welcher Person ein bestimmtes biologisches Material oder eine Spur, das im Zusammenhang mit einer Straftat gesichert wurde, stammt. Das wird auch als Individualisierung, also die Zuordnung einer Spur zu einem bestimmten Individuum bezeichnet. In der Interpretationshierarchie biologischer Evidenz rangiert man damit auf der Sub-Quellenebene.

In einem bekannten Lehrbuch der Rechtsmedizin steht jedoch, daß biologische Spuren

sehr kleine Antragungen von Blut, Sekreten oder Gewebeteilen an Personen oder Sachen [sind], die einen Rückschluss auf die handelnden Personen (z.B. Täter oder Opfer) oder auf einen Handlungshergang (z.B. Straftat) gestatten.“ („Praxis Rechtsmedizin“, B. Madea)

In dieser Definition ist also neben dem Rückschluß auf die handelnde Person auch die Handlungsebene, also die Möglichkeit der Kontextualisierung, als Einordnung einer Spur in ihren Entstehenskontext bereits inbegriffen. (Übrigens: In diesem Artikel und wie immer, wenn es um forensische Genetik/Molekularbiologie geht, meine ich „biologische Spur“, wenn ich von Spur spreche.)

Obwohl der Aspekt der Individualisierung natürlich sehr wichtig ist – wie soll man eine Straftat aufklären, wenn man nicht weiß, wer daran beteiligt war? – bemerke(n viele Kollegen, mit denen ich darüber gesprochen habe und) ich seit Längerem schon eine „Perspektivverschiebung“ sowohl in der forensisch-molekularbiologischen wissenschaftlichen Community und Literatur als auch bei der Diskussion von forensisch-molekularbiologischen Beweismitteln bei Gericht fest.

Das hat damit zu tun, daß es mit immer sensitiveren und robusteren Methoden (Direct-PCR, verbesserte Multiplex-STR-PCR-Kits, neue Low-Template(LT)-DNA-Kniffe bis hin zur Einzelzellanalyse) und besseren Datenanalyse-Tools (Einbeziehung von Allelausfällen (drop-outs), bessere Schätzung der Mitverursacheranzahl bei Mischspuren und natürlich die mächtigen vollkontinuierlichen, probabilistischen Softwares zur Berechnung von Likelihood-Ratios (LR), die die gesamte Information eines EPGs einbeziehen können) in immer mehr Fällen gelingt, eine Spur zu individualisieren bzw. eine Person als Mitverursacher einer Spur festzustellen. Klingt erstmal gut, aber genau das reicht häufig nicht mehr. Denn ironischerweise versetzen uns die gerade aufgezählten Verbesserungen unserer Werkzeuge auch und überhaupt erst in die Lage, biologisches Material von Personen nachzuweisen, das lediglich durch indirekten Kontakt mit 2 oder sogar mehr Zwischenstationen und eben ohne Tatbezug an z.B. einen tatrelevanten Gegenstand gelangt ist (s. DNA-Transfer). Und während so die bloße Zuordnung eines DNA-Profils zu einer Person, ich will nicht sagen: nahezu trivial ist aber doch immer häufiger gelingt und dann auch so gut wie nie erfolgreich bestritten wird (wegen der extrem geringen und genau berechenbaren Irrtumswahrscheinlichkeiten der Methode), tritt die Frage, wie denn das zur Person X passende Material dorthin gelangt ist, von wo man es gesichert hat, immer mehr in den Vordergrund. Mit anderen Worten die Frage, ob die (auch von einem Verteidiger nicht bestrittene) Tatsache, daß am Tatort oder tatrelevanten Gegenstand oder sogar an/in einer geschädigten Person gesichertes Material von Person/Mandant X stammt, bereits ausreicht, um Person/Mandant X in einen kausalen Kontext mit der Begehung der Tat zu bringen oder ob es für diese Tatsache alternative Erklärungsmöglichkeiten gibt, für die dann häufig DNA-Transfer angenommen werden muß.

Wenn es also früher in der Regel noch ausgereicht hat, zu zeigen, daß eine tatrelevante Spur sicher von einer bestimmten Person stammt, um diese Person in Zusammenhang mit einer Tat zu bringen, so ist die Individualisierung einer Spur zwar auch heute noch sehr wichtig, aber eben keineswegs mehr in allen Fällen alleine hinreichend, um diesen Zusammenhang zu belegen. Dazu, wie man mit der Einbeziehung von DNA-Transfer bei der Erklärung und Bewertung möglicher alternativer Szenarien bei der Entstehung von Spuren an tatrelevanten Elementen umgehen kann, sowie zum heutigen Wissensstand und zur Optimierung künftiger Forschung, habe ich schon einiges aufgeschrieben.

Über diese überaus wichtige und immer wichtiger werdende und häufiger gestellte Frage hinaus, wie eine bestimmte Spur an einen Tatort /-gegenstand gelangt ist, lassen sich jedoch noch eine ganze Reihe weitere kontextuelle Details durch forensisch-molekularbiologische Analysen aufdecken. Theoretisch zumindest, denn viele dieser Ansätze sind – trotz vielversprechender Forschungsergebnisse – noch nicht routinetauglich. Diese Details umfassen z.B. Zeitpunkt und Ursache des Todes einer Person, den Zustand tatbeteiligter Personen und ihr Aussehen und Alter, die Tatzeit, den Ort, an dem und die Art und Weise, wie eine Tat verübt wurde, bzw. was während der Tatzeit getan wurde. All diese wichtigen Informationen sind auf die ein oder andere Weise in biologischen Strukturen, deren Mustern, Verteilungen, Zuständen und Zusammensetzungen kodiert und in unserer Forschung streben wir an, diese Information auslesen zu lernen. Natürlich können auch andere forensische, z.B. rechtsmedizinische, toxikologische, mikrobiologische, biochemische u.a. Untersuchungsformen solche und andere wichtige kontextrelevante Informationen liefern, woraus wieder die erhebliche Bedeutung transdisziplinärer forensisch-wissenschaftlicher Analysen zur evidenzgestützten Tatrekonstruktion erhellt.

flattr this!

1 / 2 / 3 / 4 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (9)

  1. #1 zimtspinne
    19/02/2020

    @ Cornelius

    Ich bin jetzt noch am Anfang deines fiktiven Falles, habe dazu aber schon mal zwei Fragen, bevor die wieder in der Versenkung des Vergessens verschwinden:

    Kapitalverbrechen (also Mord- und Totschlag, Vergewaltigung, Folter, Ritualmord* etc) sind ja sehr oft Beziehungstaten.
    Täter und Opfer kennen sich und haben einen Bezug zueinander; haben vielleicht gemeinsame Umfelder – macht das eine DNA Verkruschelei nicht allgemein sehr wahrscheinlich bei genau diesen Straftaten (mehr als bei anderen Delikten, wo Täter und Opfer nicht so oft einen engen Bezug zueinander haben oder sich überhaupt kennen)?
    Also da fielen mir als Strafverteidigen dann gleich viele Möglichkeiten ein, wie Spuren des Tatverdächtigen an den Tatort oder das Opfer gelangt sein könnten.
    Das muss ja dann alles puzzleartig zusammengesetzt werden, bis es wirklich überzeugend ist, dass Spuren X, Y, Z nur in Zusammenhang mit genau dieser Tat an den Tatort/Opfer gelangt sein können und nicht anderweitig.

    Zu deinem Fall:
    ähm äh, Vergewaltigung im Wald und erschossen……

    Von “Lustmord” gehe ich da mal nicht aus, sehr unwahrscheinlich zumindest,
    eher schon Vertuschungsmord, wäre die Leiche dann nicht aber gut versteckt worden und nicht einfach nur erschossen und liegengelassen?

    Am ehesten würde ich noch darauf schließen, dass der Täter Waffenbesitzer und Schütze ist (das grenzt die Tätersuche ein) und es für ihn die einfachste Art der Tötung war, da geübt und Waffe dabei.
    Die Vergewaltigung war eher eine Gelegenheitstat, weil, sonst passt das alles nicht so gut zusammen.
    Besitzt jemand illegal eine Schusswaffe (wir sind hier doch in Deutschland oder?) und plant eine Vergewaltigung, würde er sich dafür einen sichereren Ort suchen; Wald und unversteckte Leiche sprechen doch eher für eine Tat im Affekt?
    Jaja, ich weiß schon, dass du jetzt nicht so sehr auf die Aspekte des Motives und Tathintergrundes hinauswolltest, sondern mehr auf den Tathergang und Täterüberführung….. aber ich konnte jetzt einfach nicht anders 😀

    * gibt es Ritualmorde in der Praxis überhaupt, hattest du schon mal so etwas in deiner Laufbahn?

  2. #2 zimtspinne
    19/02/2020

    Korrektur: das Mord- und Totschlag war jetzt falsch, entweder Mord oder Totschlag.

  3. #3 libertador
    20/02/2020

    Es wird hier schön aufgezeigt, dass man bei solchen Schlüssen immer den Kontext berücksichtigen muss. Aber im Beispielfall passt das ja alles wunderbar zusammen. Schwieriger wird es sicher bei uneindeutiger Spurenlage.

    Daneben fand ich einen anderen Punkt ganz interessant:

    Die forensischen Genetiker erstellen zunächst ein DNA-Profil des Opfers. In einer Vermißtendatenbank wird man fündig, da die Eltern des Opfers, die es als vermißt gemeldet haben, bereits ihre DNA-Profile dort eingestellt haben

    Den Punkt finde ich aus Sicht des Datenschutzes bei freiwilliger Abgabe interessant. Sollte die Einwilligung der probengebenden Person ausreichen, wenn dadurch auch die Identifizierung von Angehörigen möglich ist? Wann darf man solche Daten verknüpfen?

    Bei der Identifizierung eines Opfers erscheint es unproblematisch. Wenn aber Zeugen identifiziert werden sollen, dann kann es durchaus heikel werden.

    Wie ist denn der Zugriff auf solche Datenbanken geregelt?

  4. #4 Andinski
    20/02/2020

    Super interessanter Artikel und spannender Fall, der echt plausibel klingt. Etwas stutzig bin ich bei diesem Satz geworden:

    In der Zukunft gibt es forensisch-mikrobiomische Datenbanken, in denen viele Tausende Mikrobiom-Sequenzdaten zusammen mit ihren Fundorten gespeichert sind. So kann man das Mikrobiom aus einer Spur einem bestimmten Ort zuordnen.

    Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich, weil das Mikrobiom viel zu variabel und vor allem zu dynamisch ist. Ich würde schätzen, dass die wechselnden Faktoren, wie Wetter und Jahreszeit, mindestens genauso wichtig wie der Ort sind. Das bedeutet man müsste ständig Proben sammeln um nicht nur eine räumliche Zuordnung sondern auch eine zeitliche Zuordnung treffen zu können…
    Die Aussage “die Erde an den Schuhen des Opfers stammt nicht vom Fundort” ist kein Problem, aber die Identifikation der Stadt, aus der die Erde stammt wird in meinen Augen nicht möglich sein.

  5. #5 zimtspinne
    20/02/2020

    @ Adinski

    über diesen Abschnitt war ich auch gestolpert.
    Zur schnellen Identifizierung und Zuordnung des Opfers sinnvoll, aber rechtfertigt das die Datenbank?
    Wird sie auch für die Ermittlung -> Tätersuche verwendet bzw wie kann sie dabei nützlich sein?

    Ich bin ja eigentlich kein Datenschutzparanoiker, hätte aber schon leichtes Bauchgrummeln, im Falle der Vermissung einer nahestenden Person umgehend mein DNA-Profil erfassen und speichern zu lassen.
    Auch stellt sich dann die Frage, wie nahestehend darfs denn sein, gilt das nur für Verwandte 1. Grades oder könnten auch DNA Profile anderer weiter entferterer Angehörigen eingespeist werden, falls sich die Eltern/Kinder/Geschwister des Opfers beispielsweise weigern oder gerade im Ausland sind etc?
    uff, und da wäre dann auch das Problem, dass bei so einer Datenerfassung alle möglichen lang gehüteten Familiengeheimnisse ans Tageslicht finden – angenommener Vater ist gar nicht biologischer Vater, Kind wurde adoptiert, weiß aber bis zum gewaltsamen Tod eines Elternteils nichts davon und und und….

  6. #6 zimtspinne
    20/02/2020

    Nachtrag – GEschwister sind natürlich Verwandstschaftsgrad 2, hatte ich missverständlich mit zu den 1. Grades dazugepackt.

  7. #7 Andinski
    20/02/2020

    zimtspinne:
    Zur schnellen Identifizierung und Zuordnung des Opfers sinnvoll, aber rechtfertigt das die Datenbank?

    Meine Zweifel bezogen sich auf eine Mikrobiom-Orts-Datenbank, nicht auf eine Personen-DNA-Datenbank. Die wäre deutlich einfacher aber wird so schnell in einem Land wie Deutschland nicht kommen, keine Sorge!

  8. #8 Cornelius Courts
    21/02/2020

    @libertador: “Wie ist denn der Zugriff auf solche Datenbanken geregelt?”

    Das ist die große Frage und gilt natürlich für alle Datenbanken, in die man aus irgendwelchen Gründen genetische Daten einstellt. Ich glaube z.B. nicht, daß die Leute, die ihre Daten in diese genealogische Datenbank eingestellt haben, wußten, daß die Polizei sie nutzen wird, um nach Jahrzehnten einen Mörder zu fassen: https://www.theverge.com/2019/12/10/21005443/golden-state-killer-genetic-database-identity-company-acquisition-crime-scene-dna-data

    Bei Vermisstendatenbanken kommt es halt drauf an, wer sie betreibt und was so in den AGBs drinsteht – kann dann ja jeder mündige Bürger selbst entscheiden, ob er’s macht. S. z.B. die Datenbank von Interpol: https://www.interpol.int/How-we-work/Forensics/DNA

    Fakt ist, daß Datenbanken, v.a. die privaten, kommerziellen, inzwischen von großem Interesse für Ermittler geworden sind. Einige werben sogar damit, daß man durch das Einstellen seiner DNA nicht nur die gewünschte Information zur genetischen Abstammung bekommt , sondern auch der Polizei hilft.
    https://gcn.com/articles/2020/02/20/police-dna-databases.aspx

    ___

    @Andinski: “Die Aussage “die Erde an den Schuhen des Opfers stammt nicht vom Fundort” ist kein Problem, aber die Identifikation der Stadt, aus der die Erde stammt wird in meinen Augen nicht möglich sein.”

    Das scheinen Habtom et al. anders zu sehen. https://www.fsigenetics.com/article/S1872-4973(18)30581-7/fulltext
    Und wie gesagt: mein Fall spielt in einer hypothetischen Zukunft, in der sehr viel mehr Forschung betrieben wird und daher auch genug Daten für eine solche Datenbank vorliegen

  9. #9 zimtspinne
    21/02/2020

    @ Andinski
    Hab dich verwechselt, sorry.

    Vereinfachenderweise könnte man einfach bei Geburt ein DNA Profil erstellen und in die Datenbanken der Polizei einspeisen (und was sich sonst noch anbietet, Krankenkassen, Jugendamt, …).

    Die meisten wirklich schweren Straftaten werden davon aber weiterhin bei der Aufklärung und überhaupt erstmal Kenntnisnahme nicht profitieren.
    Morde – nur schätzungsweise jeder zweite wird aufgeklärt. Ganz miese Statistik.
    Internetkriminalität – DNA-Spuren?
    Der ganze rieisige Bereich sexueller Kindesmissbrauch, insbesondere die häufigste Form innerhalb der Familie – Tabuthema, nahezu kaum jemals überhaupt Anklage.
    Ich weiß nicht mal, ob bei vielen “leichteren” Delikten solche Methoden überhaupt zum Einsatz kommen. Bei schwerer Körperverletzung evtl, bei leichter nicht, weiß ich aus eigener Erfahrung aus dem Bekanntenkreis.