Das sag’ ich in Gedanken oft zu meinem Sohn, dessen Kindheit mir viel zu schnell vorbei zu gehen scheint. Je länger die Kindheit, so scheint mir, desto besser. Dass dies ein Ur-Instinkt menschlicher Eltern sein könnte, will ich zwar nicht behaupten – aber mit ein bisschen Anstrengung könnte ich die Aussagen des Paper über Dental evidence for ontogenetic differences between modern humans and Neanderthals, auf das die Harvard-Pressestelle gerade hinweist und das in den aktuellen Proceedings of the National Academy of Science erschien, schon so hinbiegen. Die Harvard-Humanbiologin Tanya Smith hatte die “Jahresringe” von fossilen Kinderzähnen sowohl des Neandertalers als auch des modernen Menschen verglichen und dabei festgestellt, dass die Kindheit und Jugend unseres urzeitlichen Vetters deutlich kürzer gewesen sein muss als die des modernen Homo sapiens.


Zähne, so erfahre ich aus dem Paper, enthalten erstaunlich gute Zeit-Markierungen; in den Schichten von Zahnstein und Zahnschmelz findet sich beispielsweise eine Linie , die klar den Moment der Geburt markiert. Wer sich für die Details interessiert, wird das Paper selbst durchlesen müssen; ich will mich hier darauf beschränken, dass Tanya Smith und Kollegen insgesamt 90 fossile Zähne von 28 Neandertalern und 39 Zähne von neun fossilen H. sapiens mit 464 Zähnen von über 300 modernen Individuen via Micro-Computertomografie verglichen haben und anhand der Wachstumsmarker feststellen konnten, dass die Kindheit unserer direkten Vorfahren durchaus mit unserer heutigen Entwicklung vergleichbar war, aber dass die Neandertaler-Kinder um etwa ein Viertell schneller “alterten” (so war beispielsweise ein Individuum, das bisher auf 12 bis 20 Jahre geschätzt wurde, bestenfalls elfeinhalb bis zwölf Jahre alt).

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Der Vorteil einer längeren Kindheit war ja bereits bekannt: Unsere kognitiven und sozialen Fähigkeiten lassen sich nun mal nicht in ein paar Monaten erwerben. Interessant ist, dass sich diese Spezifizierung, die uns ja stark von unseren nächsten lebenden Verwandten wie Schimpansen und Gorillas unterscheidet, auch in den vergangenen 100.000 Jahren oder so fortgesetzt hatte.

Natürlich ist mir klar, dass es auch Grenzen der Kindheit geben muss. Wir westlichen Eltern neigen eh’ schon stark dazu, die Verkindlichung unseres Nachwuchses zu überdehnen; in Entwicklungsländern sind bis heute Kindheiten weitaus kürzer und härter als alles, was wir uns vorstellen können. Und wenn jemand noch in den Dreißigern bei den Eltern lebt, dann ist dies biologisch eher ein Rückschritt. Trotzdem wünsche ich mir immer noch, dass sich mein Sohn mit dem Erwachsenwerden noch ein bisschen Zeit lässt – weil ich sein jetziges Alter (er ist Zehn) einfach zu sehr genieße …

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Kommentare (8)

  1. #1 KommentarAbo
    19. November 2010

  2. #2 miesepeter3
    19. November 2010

    @Jürgen Schönstein

    “Trotzdem wünsche ich mir immer noch, dass sich mein Sohn mit dem Erwachsenwerden noch ein bisschen Zeit lässt – weil ich sein jetziges Alter (er ist Zehn) einfach zu sehr genieße …”

    Diese Einstellung finde ich toll. Ich hoffe, Dein Sohn hat genug Zeit, seine Kindheit/Jugend auch zu geniessen und wird nicht wie ein Manager von Termin zu Termin gehetzt, um ja jede Chance auf vorzeitigen sozialen Aufstieg warnehmen zu können. Der kommt für glückliche und zufrieden Menschen ganz von selbst. Und die Grundlage zum Glücklichsein wird nun mal in der Kindheit gelegt.

  3. #3 noch'n Flo
    19. November 2010

    @ Jürgen:

    Wir westlichen Eltern neigen eh’ schon stark dazu, die Verkindlichung unseres Nachwuchses zu überdehnen

    Erzähl das bitte mal der immer stärker zunehmenden Zahl überehrgeiziger Eltern, die ihre Kinder in Elite-Kindergärten schicken, um ja keine Zeit im Leben zu verpassen, in denen sich der eigene Nachwuchs einen Vorteil gegenüber anderen Kindern für die Zukunft verschaffen kann. Oder denjenigen, die den Tagesablauf der Kinder minutiös mit Aktivitäten durchplanen, um die spätere Karriere zu fördern. Oder denjenigen, die (als Kompensation für das eigene Versagen” die Kinder zum Leistungssport schleifen, auf Schönheitskonkurrenzen schicken usw.

    Und das alles unter dem Deckmäntelchen von “Mein Kind soll es später einmal besser haben, als ich” oder “Man kann heutzutage nicht früh genug anfangen, die Weichen für später zu stellen” oder “Eines Tages wird mir mein Kind noch dankbar sein”.

  4. #4 noch'n Flo
    19. November 2010

    @ miesepeter3:

    So unglaublich das klingen mag, aber wie es scheint, sind wir beide in dieser Angelegenheit einmal 100% derselben Meinung.

  5. #5 miesepeter3
    19. November 2010

    @noch`n Flo

    ich finde es nicht unanständig, der gleichen Meinung mit anderen zu sein. Ich habe da auch keine Angst vor. Und die Statistik schließt nicht aus, dass gleiche Meinungen bei denkenden Menschen auch mal übereinstimmen können.

  6. #6 noch'n Flo
    19. November 2010

    @ miesepeter3:

    Ich hab ja auch gar kein Problem damit – finde es sogar ganz erfrischend, dass wir mal auf derselben Seite stehen. Das Problem ist: bisher vertritt niemand eine gegenteilige Meinung…

    Wo sind die Trolle, wenn man sie mal braucht?!? 😉

  7. #7 miesepeter3
    19. November 2010

    @noch`n Flo

    … reiz mich nich!

  8. #8 threepoints...
    22. November 2010

    Die aufgeschobene (verspätete) Adoleszenz ist einer der einflußreichsten Faktoren auf die Zivilisation und dessen Kulturen.

    Nur scheint das nicht so recht bekannt zu sein – im Alltag jedenfalls nicht so recht in einigen dafür sichtbaren Beispielen des stereotypen “Schichtenzugehörigen” … Man muß denen aber auch nicht davon berichten, .. oder?