Seitdem ich in Cambridge lebe, bin ich mit meiner Lieblingslektüre – dem Magazin The New Yorker – leider etwas hinterher: Ich erhalte das Heft nun nicht mehr am montäglichen Erscheinungstag, sondern immer erst am Donnerstag (ärgerlich!), und kam daher erst jetzt zum Lesen. Den Artikel über The Truth Wears Off, der im Untertitel fragt Is there something wrong with the scientific method? habe ich mir, aus nachvollziehbaren Gründen, als erstes vorgenommen – aber ich muss zugeben, dass ich nicht ganz verstehe, worauf der Autor Jonah Lehrer dabei hinaus will. Und der Abstract, der Nicht-Abonnenten zugänglich ist, wirkt leider noch verwirrender. Es geht offenbar darum, dass immer mehr wissenschaftlich publizierte Resultate, “von Psychologie bis Ökologie”, nicht reproduzierbar sind (Lehrer verweist zum Beispiel auf das verbal overshadowing – dass es schwerer ist, ein Gesicht wiederzuerkennen, das man vorher gesehen mit Worten beschrieben hatte, als ein Gesicht, das man nur ansah). Warum dies ein Problem für die wissenschaftliche Methode darstellt, die ja offenbar diese Mängel (vielleicht später als wünschenswert, aber immerhin) erst aufgedeckt und Lehrer damit den Anlass zur Story gegeben hat, leuchtet mir noch nicht ganz ein – ich sähe darin bestenfalls ein Problem für die wissenschaftliche Publikation. Muss ich wohl noch einmal durch- und nachlesen …

Definitv lesenswert hingegen fand ich den Artikel Enter the Dragon von John Cassidy, der eigentlich eine Rezension mehrerer Bücher über Freihandel und speziell im Hinblick auf Chinas Aufstieg ist, darunter The End of the Free Market: Who Wins the War Between States and Corporations? von Ian Bremmer und The Beijing Consensus: How China’s Authoritarian Model Will Dominate the Twenty-first Century von Stefan Halper. Und wie der Untertitel des Artikels, Why “state capitalism” is China’s biggest knockoff, schon verrät, kam Cassidy in seiner Rezension zum Schluss, dass dieser Kapitalismus “made in China” – wie die meisten Produkte, die es heute exportiert – seine Vorbilder im staatlichen Wirtschaftshandeln des Westens gefunden hat (allein die einleitenden Absätze darüber, wie Großbritannien im 18 Jahrhundert den internationalen Opiumhandel “erfunden” hatte, um die Tee-Großmacht China in die Knie zu zwingen, ist die Lektüre wert).

Und wie (fast?) alles, was China heute herstellt, wird auch seine Form des staatsgelenkten Kapitalismus – dies ist jedenfalls der Tenor des New-Yorker-Artikels – zum Exporthit:

In promoting the development of a dynamic, competitive economy within the confines of a one-party state, the descendants of Chairman Mao seem to have arrived at a new social contract that says to the governed: Go and engage with the global economy, set up businesses, invest, make as much money as you can, but leave the politics to us. Russia, Cambodia, and other rapidly developing countries, too, have shifted in an authoritarian direction.

Und das bedeutet, dass die westliche Doktrin, dass wirtschaftlicher Erfolg geradezu zwangsläufig zu einer offenen, demokratischen Gesellschaft führen muss, in Frage steht, wie Halper fürchtet:

Given a choice between market democracy and its freedoms and market authoritarianism and its high growth, stability, improved living standards, and limits on expression — a majority in the developing world and in many middle-sized, non-Western powers prefer the authoritarian model.

Wenn ich mich hier in den USA so umschaue, wo einige Wenige vom “neuen” Aufschwung profitieren, während die Mittelklasse immer weiter schrumpft, wo Arbeitsplätze und politische Beteiligung stets weniger zu werden scheinen – ich wäre mir nicht mehr absolut sicher, wie sehr sich die Einschränkung auf “non-Western” bald noch von einem frommen Wunsch unterscheiden wird …

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Kommentare (5)

  1. #1 Tim
    11. Dezember 2010

    Man darf bei allen Erfolgen in den Küstenregionen nicht vergessen, daß der Lebensstandard in China insgesamt etwa auf dem Niveau von Rumänien liegt. Wie sich die Ansprüche der Menschen auf politische Teilhabe bei zunehmendem Wohlstand entwickeln, konnte man in den letzten 20-30 Jahren doch sehr gut in Südkorea und Taiwan beobachten. In komplexen Wirtschaftsfragen ist es glaube ich keine gute Idee, sich auf die Expertise des “New Yorkes” zu verlassen. 😉

  2. #2 Ulrich Berger
    11. Dezember 2010
  3. #3 KommentarAbo
    11. Dezember 2010

  4. #4 S.S.T.
    12. Dezember 2010

    1987 habe ich Peking besucht, via Ostberlin und Moskau. Die Unterschiede waren bereits damals kaum noch glaublich. Während beim Start und bei der Zwischenlandung die Passkontrollen heutigen Standards entsprachen, war in Peking die Reaktion auf den schleppenden Abgleich der Visa die Reaktion nach drei Versuchen: “Alle rein, alle rein”.

    Einer der wichtigsten Tipps vor der Reise war “Kreditkarte”, in der DDR und der UdSSR eher überflüssig. In Peking und Umgebung waren die Geschäfte und Kaufhäuser mit Waren gefüllt und nicht wie z.B. in Moskau mit Kohlköpfen dekoriert.
    Der sonntägliche Einkaufsrummel schlug jeden Weihnachsteinkauf hier.

    Selbstverständlich wurden bereits damals ‘Langnasen’ als vollwertige Geschäftspartner akzeptiert, die Grundlage für ein Geschäft ist chin. Filosofie.

    China wird einen erfolgreichen Weg gehen, Diktatur hin oder her. Solange die Diktatur für ausreichend Wohlstand sorgt und Verirrungen wie die unterirdische Kulturrev. meidet, wird die Akkzeptanz in der Bevöklkerung ungebrochen bleiben. Der Hype um einen Friedensnobelpreisträger und den verbrecherischen Angriff vom Schoßhund Nordkorea, sind Petitessen. Nein, auf gar keinen Fall menschlich gesehen, jedoch realpolitisch und geschichtlich.

    Na ja, schon damals traf der Witz zu:
    Was ist in China noch rot?

    Die Ferraries.

    P.S. Nur am Rande: die Bordverpflegung Ostberlin ging so halbwegs, die aus Moskau war nur Moskaukennern halbwegs verdaulich, die von Peking aus war die zweitbeste bei allen meinen Flügen, mit Abstand. (Die beste war bei CrossAir, ebenefalls mit sehr großem Abstand.)

  5. #5 S.S.T.
    12. Dezember 2010

    Als Ergänzung: Der Weg Chinas ist vom Pragmatismus geprägt. Solange nicht das Primat der Partei (der Herrschenden) in Frage gestellt wird, ist so ungefähr alles möglich. Wobei diesem Primat als wesentlicher Entscheidungsmodus der Konsens zugrunde liegt, augenscheinlich auch eine Lehre aus den katastrophalen Mao-Jahre. Aufgrund dieser Haltung hat auch der (Pseudo-)Sozialismus in China, im Gegensatz zur Weltmacht UdSSR, überlebt.

    Auch den Spagat zwischen Wirtschaftswachstum und Umweltschutz traue ich der chin. Führung zu.