Ich muss gestehen, dass ich den Begriff des “Gelehrten” gar nicht mehr im aktiven deutschen Wortschatz verortet hätte – aber der Gastbeitrag des Passauer Kulturwissenschaftsprofessors Klaus P. Hansen auf Spiegel Online über den Niedergang der Gelehrten in der akademischen Realität hat mich gleich mal eines Besseren be- (oder vielleicht sollte ich sagen “ge-“)lehrt. Er schreibt dort:

Gelehrte zeichnen sich durch immenses Wissen aus. Sie überblicken ihr Fach in seiner Gänze, und auf diesem Fundament schaffen sie sich Bereiche herausragender Expertise. Dort kennen sie jedes Detail sowohl der Quellen als auch der Sekundärliteratur. Ihre Tätigkeit ist oft einsam und besteht im bloßen Lesen von Büchern und Aufsätzen. Von Lärm und Störung abgeschirmt, sitzen sie in Archiven, Bibliotheken oder in stickigen, mit Papieren jeder Form vollgestopften Studierstuben.

Um ganz ehrlich zu sein, hatte ich nach diesem Absatz erst mal gedacht, dass dies noch ein residualer Beitrag zum 1. April sei. Auch seine These “Wissenschaftlicher Fortschritt vollzieht sich nur durch Bücherlesen und Bücherschreiben” wäre mir da als einschlägiger Hinweis vorgekommen.

Aber ich nehme an, dass der Beitrag ernst gemeint war. Und sofern er die Frage aufwerfen will, ob sich Universitäten heute zu viel darauf konzentrieren, Studenten für Karrieren außerhalb von Academia auszubilden (was zwangsläufig eine Bevorzugung der angewandten Forschungsaspekte mit sich bringt) – die kann man natürlich stellen. Und dass Akademiker zu viel Zeit damit verbringen müssen, Forschungsmittel aufzutreiben (die meist eh’ nur für angewandte oder anwendbare Projekte fließen) und ihre Arbeit an sich gegenüber nach Haushaltskürzungen süchtigen Kulturpolitikern zu rechtfertigen, dem wird zumindest in Wissenschaftskreisen kaum jemand heftig widersprechen. Aber brauchen wir deshalb (wieder?) die “Gelehrten”, wie Hansen sie in obig zitierten blumigen Worten beschrieben hat?

Ich finde schon mal den Begriff an sich wenig attraktiv: Gelehrt ist das Partizip Perfekt von lehren. Und als solches kann es sowohl aktiv (“er hat Mathematik gelehrt”) als auch passiv verwendet werden (“Mathematik wird hier als Hauptfach gelehrt”). Doch der substantvierte “Gelehrte” klingt – Sprachwissenschaftler mögen mich eines Besseren belehren, ich argumentiere hier allein vom Sprachgefühl des Sprachpraktikers aus – absolut passiv. Um Personen zu bezeichnen, die die Tätigkeit des Lehrens ausüben, benutzen wir hingegen das (aktive) Partizip Präsens: Lehrende. Rein sprachgefühlsmäßig ist ein Gelehrter also eher jemand, dem etwas beigebracht wurde, als jemand, der anderen etwas beibringt, oder der – im weiteren Sinne – selbst irgendwo irgend etwas beiträgt.

Aber abgesehen davon, dass sich natürlich immer ein anderes Wort finden ließe (“Akademiker” hülfe da ja schon ein wenig weiter, beispielsweise) – stimmt es überhaupt, dass es noch solche “Gelehrten” gibt, die alles über ein Fach wissen? Die ihre Zeit ausschließlich dafür widmen können, Wissen anzuhäufen? Das allein würde ich schon mal bezweifeln. In der Renaissance mag es noch echte Universalgelehrte gegeben haben (Leonardo und Leibnitz Leibniz müssen hier als Musterknaben herhalten, und nicht zufällig nennt man solche Allgebildeten im Englischen “Renaissance Men”), und selbst zu Goethes Zeiten mag es noch vorstellbar gewesen sein, dass einzelne Personen mit der gesamten Literatur eines speziellen Faches oder gar vieler Fächer (“Habe nun ach!, Philosophie, Juristerei und Medizin …”) vertraut waren.

Aber wir reden ja hier von den Unis des 20. und 21. Jahrhunderts. Wer kann da schon alles über ein einzelnes Fachgebiet wissen? Nehmen wir mal die Materialwissenschaften (weil ich jeden morgen an den Räumen von Professor Donald Sadoway vorbei gehe, der immerhin vom Magazin TIME im Jahr 2012 zu einer der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt gezählt wurde) – eine schnelle Internetsuche verrät mir, dass es mindestens 800+ materialwissenschaftliche Journale gibt; Papiere, die für Konferenzen und Symposien produziert wurden, sind da gar nicht mit gezählt.

Wer könnte all diese Journale und Papers lesen – und mehr noch: Wer wollte sich all das im Kopf behalten, was dort geschrieben ist? Und warum überhaupt? Haben die “Gelehrten” nicht mitbekommen, dass es so etwas wie Bibliotheken gibt? Und nein, mit der Bibliothek, wie ich sie noch aus meiner Studienzeit kenne, mit Räumen voller Karteikästen, mit rosa, weißen oder blauen Bestellscheinen (je nachdem, of für die Präsenzbibliothek, die Heimentleihung oder für Vorbestellungen), mit Stichwortkatalogen allein für Querverweise auf den Titelkatalog und gelegentlich stundenlangen Wartezeiten, bis Bücher endlich verfügbar sind – nein, mit solchen Buchlagern haben moderne Bibliotheken allenfalls den Namen gemeinsam. Ich bin jedesmal aufs Neue fasziniert, was unsere MIT-BibliothekarInnen an Ressourcen allein für die Studenten bereitstellen können.

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Kommentare (10)

  1. #1 enbeh
    4. April 2013

    …aber sicher ist, dass Wissenschaft nicht darin besteht, Wissen zu haben, sondern Wissen zu mehren.

    Bin ganz d’accord, würde aber hinzufügen, dass Wissenschaft außerdem in der Verfügbarmachung des Wissens besteht; mit anderen Worten im Publizieren. Dem Hansenschen Gelehrten scheint auch das eher eine Nebensächlichkeit zu sein, solange es keine Dissertation oder Habilitation ist.

    … findet der Nachwuchs kaum Zeit für das Eigentliche, die Dissertation oder Habilitation, also für richtige Bücher.

    Vielleicht liegt es ja an Hansens Fach, aber in meinem Fach (Psychologie, Hirnforschung) interessiert sich kein Mensch für solche Schriften, und das meines Erachtens zu Recht. Das “Eigentliche” ist für den modernen Akademiker eine international erhältliche Publikation, auf Englisch verfasst und peer-reviewed, und das ist auch gut so.

  2. #2 DH
    4. April 2013

    “es sind die miserablen und prekären Arbeitsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, die zum Verlust der wissenschaftlichen Kreativität führen werden.”

    Fürchte schon , daß dieser Umstand politisch gewollt ist.

    Wo Geld fehlt , kann die Wirtschaft als Retter auftreten und ökonomisierenden Einfluß auf die Wissenschaft nehmen.

    Was das Wissen über das eigene Fach angeht , sehe ich auch kein Problem darin , wenn jemand “nur” weiß , wo Wissen verfügbar ist und nicht versucht , alles in sich hinein zu stopfen.

    Viel wichtiger ist die Fähigkeit – und vor allem der Wille – über den eigenen Tellerrand zu blicken , eine Eigenschaft , die in vielen Bereichen fehlt , von der Politik über die Wissenschaft bis hin zum selbstbezogenen Kleingärtner von nebenan.

  3. #3 threepoints...
    4. April 2013

    Habe ich nicht erst vor ein paar Tagen gelesenm, dass es viele Promotionen in Deutschland gibt (im Kontext des Beitrages: zu viele…)…? In der Zeit oder Faz.

    Davon abgesehen entwickelt es sich dahin, dass tendenziel mehr Hochschüler absolvieren, was auch mehr Andrang an den Kapazitäten bedeutet.
    Es wird also Ausgebildet, obwohl derzeit keine Kapazitäten (Strukturen und Geld für Forschung) vorhanden ist.

    Diese steigende Tendenz ist zudem rein theorétisch in seiner Entwicklung selbst potenzierend und die richtigen Probleme erst noch kommen werden.

    Beim Thema “Gelehrten” droht immer auch eine Vision von herarchischer Struktur (und wenns auch nur das “Besserwissen” sei). Solcherart Strukturen sind aber wohl heute nicht mehr vorhanden.

    Trotzdem ist es natürlich nicht nachteilig, wenn tatsächlich vollumfänglich “Wissen” vorhanden sei.
    Es ist aber nicht nötig, in jeder Disziplin gleich bis ins letzte Detail alles zu wissen (das geht nicht mehr), sondern eine gescheite Orientierung dabei herraus zu erlangen und zur rechten Zeit zum rechten Thema aufmerksam zu sein. Es geht also mehr darum, den Geist frei zu halten, damit er Aufmerksam sein kann, wenns ihm danach ist (Freiheit in der Forschung…). Da ist zwanghaftes “fressen” von “Wissen” nicht unbedingt hilfreich.
    Um eine solche Forschaktivität dann effektiv zu gestalten bedarf es aber mehr Kommunikationsmöglichkeiten. Mehre Beteiligte könne hier auch mehr Informationstransfer gewährleisten (wenn die Strukturen dafür optimal sind). Nur eine Bibliothek allein wird nicht reichen.

  4. #4 Jan
    5. April 2013

    Dass Hansen ausgerechnet die Diplomkulturwissenschaften als Negativbeispiel anführt hat mich auch sehr erstaunt. Es wirkt bizarr, wie er sich scheinbar selbst öffentlich kritisiert.

    Abgesehen vom im Text mitschwingenden Kulturpessimismus und dem radikal geisteswissenschaftlichen Blickwinkel des Autors hat er im Kern nicht unrecht mit seiner Kritik. Hochschulen bilden heute hauptsächlich für den Arbeitsmarkt aus, nicht mehr für akademische Laufbahnen. Es gibt wenig Perspektiven für Nachwuchswissenschaftler, die Freiräume für ungestörte Forschung werden kleiner und die Forschenden verbringen einen immer grösseren Teil ihrer Zeit damit Bürokratie zu bewältigen (Anträge schreiben etc.). Bibliometrie und Wettbewerb in der Wissenschaft führen dazu, dass die Quantität von Publikationen immer wichtiger wird, was letztlich zu Lasten der Qualität geht. In den Geisteswissenschaften ist es wohl die von Hansen beklagte Tendenz, eher Festschriften und Aufsätze als Bücher zu verfassen, in den Naturwissenschaften schreibt man lieber fünf seichte Paper mit geringem wissenschaftlichen Mehrwert als ein wirklich tiefgehendes. Und die Zeit, sich regelmässig hinzusetzen und zu lesen was so alles publiziert wird nehmen sich heute auch nur noch die wenigsten.

    Die Universitäten verändern sich, weg von einer Gemeinschaft von streng an der Wissenschaft interessierten Individuen, hin zu Berufsakademien mit angeschlossenen R&D-Abteilungen.

  5. #5 Geleerter
    5. April 2013

    Die Klagen über die suboptimalen Arbeitsbedingungen im Wissenschaftsbetrieb mögen durchaus zutreffen, meines Wissens nach lag die Welt in der Vergangenheit allerdings mitnichten den Wissenschaftlern zu Füßen – und damit ist nicht die alte Leier von der kirchlichen Bekämpfung des wissenschaftlichen Fortschritts gemeint, sondern dass in ferner Vergangenheit auch ehrwürdige Professoren Privatunterricht leisten mussten, um über die Runden zu kommen oder sich des Doktorschmauses bedient hatten, um sich durchzufüttern. Das hat sie dennoch nicht daran gehindert, geistige Spitzenleistungen abzuliefen (was selbstverständlich eine Pauschalisierung ist).

    Zumindest meinem subjektiven Eindruck nach wird die immer rarer werdende intrinsische Hingabe des Wissenschaftlers zu seinem Forschungsgebiet auch zum Problem, der aber weitaus seltener angesprochen wird. Der unermüdlich einen beträchtlichen Anteil der Freizeit ins Studium der Fachliteratur investierende Gelehrte wird belächelt (bzw. würde belächelt werden, wenn es solche Individuen heute gäbe) und als unmoderner Sonderling ohne Sozialleben abgestempelt – man will sich ja nicht einschränken, das Leben will schließlich genossen werden! Science – f*ck yeah, aber bitte nur 9 to 5!

    Bitte um Verzeihung für die Überzeichnung, es ist mir durchaus bewusst, dass die Arbeitszeiten den oben genannten Rahmen sicherlich sprengen. Nun, natürlich kann ich diese Einstellung nachvollziehen und würde es eigentlich auch nicht ändern wollen. Das Problem sehe ich vielmehr in der mangelnden Anerkennung und Förderung “echten” Forschungsgeistes um des Wissens willen, einhergehend mit der Bereitschaft, auch mal das Vergnügen kürzer treten zu lassen bzw. die Freude in der Wissenschaft selbst zu sehen.

    Um Missverständnissen vorzubeugen – solches Verhalten kann und sollte nicht generell erwartet werden. Sollten aber einzelne diese Eigenschaften vorweisen, wäre es m.E. angemessen, sie darin zu unterstützen, anstatt sie zu belächeln und aus dem modernen Wissenschaftsbetrieb aufgrund “veralteten” Stils auszuschließen bzw. ihnen moderne Arbeitsmethoden aufzuerzwingen.

    Herrn Schönsteins Ausführungen lässt sich die Attitüde entnehmen, dass “sture Wissensanhäufung” in der modernen Welt sinnlos sei – häufig hört man Ähnliches von heutigen Schülern, die Lernen für Klausuren als überflüssig erachten, da doch die Antworten auf alle Fragen nur ein paar Fingerwischbewegungen auf dem Smartphone entfernt sind. Ich habe es allerdings bereits vielfach erlebt, dass sich der potenzielle Nutzen des Internets nur bei denjenigen entfaltet, die bereits gebildet sind und über umfangreiches Wissen verfügen. Kann man nicht auf dieses Wissensnetzwerk zurückgreifen, nutzen einem die besten Online-Datenbanken wenig.

    Analog zum obigen Argument würde ich bei Gelehrten argumentieren – die Wissensansammlung behindert nicht den Wissenszuwachs, im Gegenteil – auf lange Sicht unterstützt es diesen! In diesem Zusammenhang finde ich es ebenfalls anmaßend, schlicht zu unterstellen, Gelehrte wären zur Schaffung neuen Wissens unfähig, aber im gleichen Atemzug den eigentlich unzureichend über seinen Fachgebiet informierten Forscher zum edlen Kämpfer für die Wissensschaffung zu stilisieren. Da schwingt doch eine nicht faktenbasierte Ideologie mit – wie bei mir natürlich auch! Im besten Fall würde man daher bei der Wissenschaft auf die Meta-Ebene gehen und untersuchen, ob “Gelehrte” (wie auch immer man sie heute definieren mag) durch den besseren Überblick über das Forschungsgebiet qualitativ hochwertigere Publikationen vorweisen können oder gar in der Lage seien, unsaubere Methodologie o.ä. ihrer Kollegen zu erkennen – damit wäre schon viel erreicht.

    Ok, Rant-Modus aus, ich will nicht den Kommentarbereich mit meinen unzeitgemäßen Ergüssen vollstopfen…

  6. #6 threepoints...
    6. April 2013

    War das hier Anstoß zum Beitrag?

    https://www.youtube.com/watch?v=b2M-SeKey4o

    … the obsolete know-it-all .

    Tedtalks

  7. #7 Gerald Fix
    6. April 2013

    Leibniz. Soviel Gelehrsamkeit darf sein.

  8. #8 Jürgen Schönstein
    6. April 2013

    Jawohl! Und langsam müsste ich mir’s doch mal merken … danke für den Hinweis.

  9. #9 Eso-Policier
    www.esopolice.wordpress.com
    7. April 2013

    Man muss einen Mittelweg gehen. Es ist wichtig, dass es einige Gelehrte gibt. Aber es muss auch Naturforscher, Esoteriker und Freireligiöse geben.

  10. #10 miesepeter3
    7. April 2013

    Zu wenig Geld für die Wissenschaft? Tja, die Aldisierung hat auch auf diesem Gebiet zugeschlagen. Wenn der Pfeffersack darüber bestimmt, wer was erforschen, wie teuer es sein und wie lange es dauern darf, wird auch nur mittelmäßige Ergebnisse bekommen.
    Der “Gelehrte” war und ist immer eine Figur, die aus sich selbst heraus Wissen ansammelt. meist mit keiner oder genau so kümmerlicher Unterstützung.
    Auch wenn es anscheinend nicht mehr zeitgemäß sein sollte, ich sage Hut ab vor solchen Leuten. Und manchmal hört man sogar von Erfolgen aus dem Mehrwisserbereich.