Als ich am Sonntagmorgen dieses Foto auf der Titelseite der New York Times* gesehen habe, ging mir vieles durch den Kopf: der Tod der deutschen Fotografin Anja Niedenhaus, beispielsweise, die bei einer Reportage in Afghanistan von einem Polizisten erschossen wurde…

Oder die Tatsache, dass auf dem Bild nur Männer zu sehen sind (was nicht bedeutet, dass Frauen von der Wahl ausgeschlossen waren, sondern “nur” ausdrückt, wie es in Afghanistan um Gleichberechtigung der Geschlechter bestellt ist). Aber dann auch an diese Diskussion, die mich lange beschäftigt hat; diese Erinnerung und Diskussion um die (vermeintliche) Irrationailtät der Wahlbeteiligung keimte auch während des vergangenen Semesters immer wieder mal in mir auf, weil ein Doktorand dieses “Wahlparadoxon” immer als ein Beispiel in einer Klasse zur Einführung in die Methoden der Politikwissenschaft herangezogen hatte – aber nicht, um es zu diskutieren, sondern eben als Beispiel für irrationales Verhalten.

Und in diesem Fall gestehe ich sogar ganz freimütig ein: Ich hätte wahrscheinlich nicht den Mut gehabt, den ersten Schätzungen nach 75 Prozent aller in Afghanistan Wahlberechtigten gezeigt haben: den Mut, trotz Dutzender tödlicher Anschläge und unverhohlener Drohungen seitens der Taliban, trotz lausigen Wetters, langer Schlangen und wer-weiß-noch-welchen Widrigkeiten zur Wahl zu gehen. Ich hätte mir lieber eine Ausrede wie “nützt ja sowieso nix, meine Stimme macht eh’ keinen Unterschied” zurechtgebastelt – und dann stolz darauf verwiesen, dass ich ja damit eigentlich nur vermieden hätte, irrational zu handeln.

Natürlich könnte mir das eigentlich Wurscht sein. Was soll’s, denn letztlich ist – um ein berühmtes Zitat von Richard Feynman abzuwandeln – Politikwissenschaft für Politiker etwa so nützlich wie Ornithologie für Vögel. Der Haken ist halt nur, dass auch die Ornithologie für die Vögel alles andere als irrelevant ist, und wenn es zum Beispiel um Schutz von Arten oder Lebensraum geht, ist sie sogar unter Umständen fundamental relevant. Und auch die Politikwissenschaft – und, quasi als ihre kommerziell interessierte Schwester, die Volkswirtschaftslehre – ist zwar nicht unbedingt notwendig, um Politiker zu werden, ist aber von fundamentalem Interesse, wenn es darum geht, Politik zu verstehen. Und deswegen habe ich ein prinzipielles Problem damit, wie sie sich damit zufrieden geben könnte, eine der grundlegendsten Aktivitäten des politischen Handelns in unserer Gesellschaft nicht erklären zu können.

An dieser Stelle schiebe ich mal ein, dass ich gar nicht wirklich glaube, dass politische Partizipation mit den vorhandenen theoretischen Ansätzen nicht erklär- und analysierbar wäre. Im Gegenteil. Aber da dieses Paradox immer wieder zitiert und dann hartnäckig verteidigt wird, muss es irgendwelche anderen Gründe geben; ich vermute mal, es liegt ein gewisser Spaß darin, unbedarfte ZuhörerInnen aufs logische Glatteis zu führen – ebenso, wie es Zenon von Elea mit seinem Paradoxon von Achilles und der Schildkröte vielleicht beabsichtigt hatte, indem er zu “beweisen” schien, dass Fortbewegung unmöglich ist.

Jeder hat halt sein Steckenpferd, und meines ist die politische Beteiligung. Darüber – genauer gesagt, über die Beteiligung an lokalen Raumplanungsprozessen – habe ich sogr meine Diplomarbeit geschrieben, auch wenn das nun schon wieder bald drei Jahrzehnte zurück liegt. Und politische Beteiligung nicht auf einen Taschenspielertrick reduziert zu sehen, der sie “verschwinden” lässt wie die Taube unter dem Taschentuch, ist mir ein Bedürfnis. Denn politische Teilhabe – und dazu gehören Wahlen, zumindest in der Staatsform, die wir gemeinhin als Demokratie bezeichnen – ist ein Gut. Eines, für das Milliardäre riesige Summen auszugeben bereit sind, und zwar nicht nur, um Politiker direkt zu beeinflussen, sondern auch, um jene Stimmen zu kaufen, die laut dem Wahlparadoxon doch nur einen Nutzen von Null haben können. Die Frauen und Männer in Afghanistan (und nicht nur hier, übrigens) sind sogar bereit, für diese politische Beteiligung mit ihrem Leben zu bezahlen. Und darum ist es (ein) Gut, dass sie wählen gegangen sind.

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Kommentare (3)

  1. #1 IchGeheImmerWaehlen
    7. April 2014

    Nomen est omen – ich wähle immer! Warum? Ganz einfach – es gab mal eine Zeit, da durfte man nicht wählen oder später sah ich bei den Verwandten (DDR) wie “wählen” auch geht – das war mir als Kind (BJ. 1957) eine Lehre. Tragisch empfinde ich es, das die “Generation Youtube” das Argument “meine Stimme bewirkt nichts” absichtlich oder aus Unkenntnis so falsch interpretieren. Es geht doch nicht um MEINE Stimme – sondern darum, das ich die Option habe, eventuell die eine Stimme zu sein – und mit vielen anderen kann auch meine Stimme etwas bewirken. Anders gesagt, für vielee Jugendliche heute fehlt einfach das wissen über “es war mal anders” – und so können sie auch nicht beurteilen, was sie da leichtfertig verspielen. Schlimmer noch – subjektiv wird der Nationalismus allerorten immer mehr verstärkt (Ungarn, Russland, Türkei) und das auch noch mit der Legitimation der breiten Mehrheit. DAS macht mir noch mehr angst – denn wenn auch der letzte Wähler kapiert hat, was er da abgewählt hat – dann ist es zu spät und es folgt wieder die Generation “ICH habe die nie gewählt – und gewusst schon gar nichts…” – Traurig…

  2. #2 DH
    7. April 2014

    Mit Wahlen ist es halt wie mit vielem Anderen, kann klappen , muß aber nicht , und kann auch mal richtig unappetitlich werden.
    Ohnehin sind Wahlen eher ein Symptom für den inneren Willen einer Gesellschaft , die Dinge auf eine bestimmte Art zu regeln , ist dieser nicht vorhanden , werden auch Wahlen ihre Selbstabschaffung nicht verhindern können , zumindest längerfristig.
    Es ist auch nicht jeder Wähler automatisch ein “mündiger Bürger” , im Gegenteil , der nicht mitdenkende Immer-Wähler ist deutlich gefährlicher als der bewußte Nichtwähler , der seine Entscheidung aus guten Gründen trifft , und nicht nur , weils im Kollegenkreis garede en vogue ist , auf “die Politik” zu schimpfen oder weils Wetter am Sonntag so schön war.

    Eine niedrige Wahlbeteiligung geht bei uns einher mit einer wieder deutlich politischer gewordenen Gesellschaft , sie muß also nicht , sie kann aber Ausdruck der ehrlichen Ansicht sein ,nichts , oder sehr viel häufiger , zu wenig mit der eigenen Stimme bewirken zu können.
    Insbesondere dürfte es sich sehr negativ auswirken , daß es halt wenig bringt , wenn ich formale Freiheitsrechte habe , mich aber in der Arbeitswelt für mindestens acht Stunden am Tag benehmen soll wie ein Knecht.

  3. #3 A_Steroid
    9. April 2014

    daher bin ich kein Freund von Volksabstimmungen… zum einen zu viel “Stammtisch” und schlimmer noch – zu viel Unwissen. Gut zu beobachten bei Dingen die für “mich” unangenehm sind. Der neue Knast soll wegen mir überall stehen – weil wir ja sowas brauchen… bloss nicht in meiner Stadt. Und nebenan schon gar nicht. Analog: Windräder, Autobahn, Stadtumfahrung, Gleise….