Um es gleich aus dem Weg zu räumen: Das “Ziegenproblem” in der Überschrift hat nichts mit irgendwelchen zum Lustobjekt degradierten Huftieren in politisch und juristisch brisant gewordenen Schmähgedichten zu tun (Ihr wisst schon, worauf sich das bezieht – wenn nicht: Wie wohnt sich’s denn so auf einem anderen Planeten?), und auch nichts mit dem üblichen Gemecker über und in der Politik. Das Ziegenproblem kam in die Überschrift, weil ich in dessen Zusammenhang zum ersten Mal vom Konzept der Neuen Erwartungstheorie (Fachleute bevorzugen den englischen Begriff: Prospect Theory) gehört habe. Um es vereinfacht auszudrücken, geht es in dieser Nobelpreis-gekrönten Theorie, die 1979 von Daniel Kahneman und Amos Tversky in ihrem Aufsatz Prospect Theory: An Analysis of Decision Under Risk erstmals präsentiert wurde, um die Erkenntnis, dass Menschen Verluste anders bewerten als korrespondierende Gewinne.

Falls jemand mit dem Ziegenproblem nicht vertraut ist: Es beruht auf einer US-Fernsehspielshow, moderiert von einem Mann namens Monty Hall (darum nennt man es manchmal auch “Monty-Hall-Problem”), in der die Mitspielerin oder der Mitspieler aus drei Türen eine auswählen mussten, denn hinter einer verbarg sich ein neues Auto – hinter den beiden anderen jedoch eine Ziege, also eine Niete. Das alleine wäre noch nicht allzu spannend – mit einer Wahrscheinlichkeit von 33,3 Prozent (1/3, um ganz genau zu sein) errät der Kandidat oder die Kandidatin bei dieser Konstellation die richtige Tür. Doch der Dreh lag darin, dass der Spielleiter Monty Hall dann eine der beiden verbliebenen Türen öffnet, und zwar immer eine, hinter der sich eine Ziege verbarg; die SpielerInnen haben dann die Möglichkeit, bei ihrer ersten Wahl zu bleiben – oder sich umzuentscheiden und die verschlossene Tür zu nehmen, die Hall übriggelassen hat. Rein rechnerisch wäre die Entscheidung leicht: die Chance, mit der ersten Wahl richtig gelegen zu haben, liegt bei 1/3 – die Chance, dass hinter der verbleibenden Tür ein Auto wartet, liegt hingegen bei 2/3 (wer’s nicht glaubt, kann sich dieses Video anschauen. Mit anderen Worten: Der Wechsel verdoppelt die Gewinnchancen. Trotzdem tun wir uns intuitiv mit dieser Lösung schwer.

Und hier hilft die Prospect Theory. Nach der wird, simpel ausgedrückt, ein Verlust als doppelt so schwer wie ein Gewinn empfunden. Denn nicht irgend ein neutraler Zustand wird dabei als Ausgangsbasis betrachtet, sondern der Status Quo. Und der ist, im Fall des Ziegenproblems, dass sich der Spieler oder die Spielerin für eine bestimmte Tür entschieden hat. Was immer hinter der Tür wartet, ist also ihr oder sein “Status quo”, der beim Wechsel auf dem Spiel steht. Ich versuch’s mal mit extrem vereinfachten Zahlenspielereien, die hier nicht mathematisch, sondern nur symbolisch zu verstehen sind: Angenommen, es war tatsächlich das Auto, dann hatte sich für den Spieler oder die Spielerin der Status quo sozusagen von Null (= kein Auto) auf +1 (= ein Auto) verbessert. Wenn er oder sie nun wechselt, dann geht der Status quo nicht einfach wieder auf Null, sondern auf “ein Auto verloren”, was dann konsequenter Weise mit -1 bewertet werden könnte. Anders ausgedrückt: Es ist nicht das Gleiche, nie ein Auto besessen zu haben, wie ein Autobesitzer (wenn auch nur für kurze Zeit und mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3) gewesen zu sein und dieses dann verloren zu haben. Gefühlsmäßig wird aus der scheinbar klaren Situation ein Dilemma, verursacht durch ein Verhalten, das sich am passendsten als Verlustaversion (loss aversion) beschreiben lässt. Die ist es, die den sprichwörtlichen Spatz in der Hand nützlicher erscheinen lässt als die analoge Taube auf dem Dach.

Wichtig ist dabei, dass es bei diesem Verhalten nicht um die Vermeidung von Risiken geht – Risikoaversion und Verlustaversion klingen zwar ähnlich und können auch durchaus kongruent sein. Aber laut den Erkenntnissen der Prospect-Theorie sind Menschen durchaus bereit, von zwei Risiken das größere zu wählen – dann nämlich, wenn sie bereits in die Verlustzone geraten sind und nun wieder versuchen, ihren Ausgangszustand, den Status quo des Habens, zurückzugewinnen. So wie Zocker, die gerade verloren haben, ihren Einsatz verdoppeln…

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Kommentare (14)

  1. #1 Joseph Kuhn
    3. Juni 2016

    Man könnte auch sagen: Anxiety sells.

  2. #2 rolak
    3. Juni 2016

    ein Huhn in jedem Topf

    Ist ja eklig – können die nicht wie früher im Stall gehalten werden?

    die Dürre .. bewältigen

    Er scheint beides zu beherrschen: Das Versprechen von Unhaltbarem – und das Ignorieren von Ungewolltem. Selbst wenn es in beiden Fällen um dasselbe Thema geht…

  3. #3 Hobbes
    3. Juni 2016

    Interessant. Das erklärt zum Teil auch warum Griechenland sich so sehr in einer Opferrolle sieht. Das Land ist nicht Ärmer als vor dem Euroeintritt. Sicherlich sind die Vermögen jetzt anders und ungerechter verteilt. Aber rein rational betrachtet müssten die Griechen dies dann ja als innenpolitisches Problem begreifen und den Sündenbock bei den eigenen Politikern suchen. Da aber nicht mit der Zeit von vor der Eurozone verglichen wird sondern der durch die Eurozone ermöglichte Wohlstand späterer Jahre sucht man den Feind im Euro. Natürlich ist das Problem sehr komplex und viele sind hier in der Verantwortung aber die Nachsichtigkeit mit den eigenen Politikern in Griechenland gehört für mich zur größten Überraschung in der Krise. Vielleicht ist das aber auch eine zu deutsche Sicht bei der man für jedes Elend in der Welt die eigenen Politiker verantwortlich macht. (Es sei denn man hasst Amerika dann waren die es)

  4. #4 rolak
    3. Juni 2016

    als vor dem Euroeintritt

    Der war ’81, Hobbes, und erzeugte keine Probleme. Die entstammen der Sozialisierung der Verluste ’08ff, deren Ausgleich den Zockern wg der schon privatisierten Gewinne wohl nicht zumutbar war.

  5. #5 Joseph Kuhn
    3. Juni 2016

    @ Hobbes:

    “Da aber nicht mit der Zeit von vor der Eurozone verglichen wird”

    Irgendwie wollen wir uns auch nicht mehr mit dem Wohlstand der Wirtschaftswunderzeit begnügen, obwohl es doch die “gute alte Zeit” war.

    “Nachsichtigkeit mit den eigenen Politikern in Griechenland”

    Das verstehe ich nicht. Die Griechen haben doch ihre Altparteien abgewählt, gewissermaßen ihre parteipolitische Verlustaversion überwunden. Was hätten sie noch machen sollen? Ihre Politiker in Olivenöl ertränken und eine Räterepublik errichten? Mehrheitlich Chrysi Avgi statt Syriza wählen? Oder mit dem Fuß aufstampfen, damit sich der Reichtum durch die dadurch ausgelöste Erschütterung des griechischen Bodens umverteilt?

  6. #6 Hobbes
    3. Juni 2016

    @rolak:
    Ich meinte schon konkret den Eintritt in die Eurozone und nicht den in die EU.
    @Joseph Kuhn:
    Natürlich wurden die Altparteien abgewählt aber mir geht es eher um die allgemeine Stimmung. Die meisten Griechen halten eben nicht die alten Politiker für die Hauptverantwortlichen. Die Politik wurde eben nicht abgewählt weil man den ewigen Klüngel weg haben wollte sondern weil man sich gegen das “Spardiktat” auflehnen wollte. ProEU Parteien die den alten Filz aufbrechen wollten haben sehr wenig Stimmen bekommen. Die Linkssozialisten sind ja nicht Grundlos mit den Rechtsnationalisten in einer Koalition. Es gab einfach die größte Schnittmenge.
    Die Verlustängste erklären ja auch ganz gut warum es selbst einer Partei die mit sehr radikalen Forderungen auftrat so schwer fällt die Wahlgeschenke der Vorgänger zurück zu nehmen.

  7. #7 rolak
    4. Juni 2016

    Ich meinte schon konkret

    Na, wenn Du meinst, Hobbes, dann ganz konkret die ausführliche Variante:

    als vor dem Euroeintritt

    jibbet sich zwei meechliche Antworten:
    1) GR ist nie in die €Zone eingetreten, also nie zu einem Länderclub gestoßen, der seinerseits schon den € bargeldig verwendete
    2) Der war ’81, Hobbes, damals stieß GR zu dem Länderclub, der seinerseits seit ’79 den ECU verwendete, im nachhinein als Proto€ bekannt. Sie haben buchungstechnisch nur etwas etwas länger zur RealisierungsZulassung gebraucht als der Rest der Truppe, denn Statistiken frisieren geht halt nicht über Nacht.

  8. #8 Anderer Michael
    4. Juni 2016

    Danke Herr Schönstein
    endlich habe ich es begriffen. Der Link zur Erklärung war Gold wert. Aber nur mal nebenbei gefragt.Gibt es auch neben dem “Wutbürger” auch den “Wutblogger”?Also den alten weißen Mann, dem ein ungerecht empfundenes “Knöllchen” in systemumstürzlerische Rage bringt.

  9. #9 Anderer Michael
    5. Juni 2016

    Ich glaube, gestern war ich zu überheblich. Die Mathematik hatte ich endlich begriffen, dank Ihres Links. Aber es steckt mehr dahinter. Speziell bei der Prospecttheorie. Sehr erstaunlich und erhellend. Bitte weiter so!

  10. #10 Rene Grothmann
    6. Juni 2016

    Ich würde die Tür auch nicht wechseln. Weiß ich, ob der Moderator jedes mal eine leere Tür zeigt, oder nur dieses mal, um mich von meiner richtigen Wahl abzubringen? Genau, wie Trump seine Sprüche nur klopft, um gewählt zu werden. Sagt er ja selber. Wir sollten misstrauischer werden. Mehr Wohlstand durch Lohnzurückhaltung? Geht das?

  11. #11 Anderer Michael
    6. Juni 2016

    Rene Grothmann,
    bis zu dem Blogbeitrag hätte ich wahrscheinlich wie Sie gehandelt. Übrigens auch der Rest meiner fünfköpfigen Familie. Aber in zwei von drei Fällen ergibt ein Wechsel ein Auto, nur in einem Fall eine Ziege. Und wie ich es verstanden habe, zeigt der Moderator grundsätzlich immer eine Tür mit Ziege auf, wäre ansonsten sinnlos. In dem Link findet man auch eine nette verständliche Erklärung für das Zählen bei Blackjack (17+4) oder die Fibonacchizahlen.

  12. #12 Laie
    8. Juni 2016

    Im Einzelfall ist auch bei einer geringeren Wahrscheinlichkeit die falsche Tür zu öffnen (durch Wechsel) und trotzdem die falsche aufgemacht zu haben – Pech! 🙂

    Was Trump betrifft: Geld und Idiotie wirken wahrscheinlich mehr als multiplikativ schädlich (auf den Rest) aus. Wie soll das begrenzt werden? Umgekehrt: Machtlose mündige Bürger?

  13. #13 Jürgen Schönstein
    8. Juni 2016

    Das ist ja der Haken beim “echten” Ziegen-Spiel: Die MitspielerInnen haben nur eine Chance, doch der statistische Vorteil des Wechselns zeigt sich nur auf lange Sicht (also über viele einzelne solcher Spiele hinweg) und ist für diesen Einzelfall eben weit von einem “sicheren” Treffer entfernt. Aus diesem Grund ist es ja so entscheidend, dass sich der (rein rechnerische) Vorteil und das (als doppelt schwer empfundene) Risiko des Wechselns neutralisieren: Es gibt wirklich keine “richtige” Antwort – es gibt ebenso gute Gründe für wie gegen das Wechseln.

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