Eigentlich wollte ich mir hier ein paar Gedanken darüber machen, welche wichtige Rolle die Wissenschaft dabei spielt, unsere Ängste vor tödlichen Krankheiten zu mildern, weil sie stetig Fortschritte mit neuen Therapien macht (siehe hier oder hier, beispielsweise). Aber dann habe ich diesen Meinungsbeitrag in der Washington Post gelesen: Children are being euthanized in Belgium, der offenbar von diesem Beitrag bei Voice of America angeregt wurde – und bin bei dem weitaus morbideren Gedanken der Sterbehilfe stecken geblieben.
Das Thema tauchte über die Jahre hinweg hier bei ScienceBlogs immer wieder auf, zum Beispiel hier im Gesundheits-Check oder auch bei BlooD’N’Acid; ich selbst habe mich vor fünf Jahren ganz konkret zu dem Thema geäußert, das in der Washington Post nun noch einmal aufgebracht wurde – und alle Beiträge zeigen, dass es praktisch unmöglich ist, sich emotionslos (!) mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Diese Emotionen schleichen sich schon in die Überschriften ein, wofür die WaPo hier ein besonders offensichtliches Beispiel ist (ich gestehe dass ist oft eine meiner Übersprungshandlungen ist, semantische Debatten anzuzetteln, wenn ich die Inhalte erst mal zu überwältigend finde): von der passiven Satzkonstruktion “Children are being euthanized“, die ihnen jegliche Rolle als Akteure in ihrem eigenen Schicksal abspricht, über den seit dem Missbrauch durch das nationalsozialistische Regime historisch belasteten Begriff der “Euthanasie”, bis hin zum generischen Plural “Children” (der eine unbestimmte und womöglich auch quantitativ unbegrenzbare Menge anzudeuten scheint), statt die konkrete Angabe “drei Kinder” (9, 11 und 17 Jahre, wobei es sich in einem Fall also eher um eine/n Jugendliche/n handelte) zu verwenden.
Wer meinen fünf Jahre alten Beitrag (hier noch einmal der Link) gelesen hat, wird sich nun wundern: Damals hatte ich klar gegen die Sterbehilfe für Kinder ausgesprochen, wie sie ab 2014 in Belgien legalisiert wurde. Warum sollte ich also dem WaPo-Meinungsbeitrag plötzlich kritisch gegenüber stehen, der doch im Prinzip die gleiche ablehnende Haltung einnimmt?
Es ist die Verschiebung der Perspektive. Meine damalige Besorgnis gilt noch heute: es ist ganz generell immer extrem schwer, den echten Willen eines von Leiden gequälten Menschen zu erkennen (dem werden alle zustimmen, die sich mal durch längere Leidensperioden – physisch wie psychisch – durchkämpfen mussten), und es ist generell sehr schwer, den echten Willen eines Kindes zu erfahren (diesen Willen noch nicht gefestigt zu haben ist geradezu die wesentliche Komponente der kindlichen Psyche). Und generell ist – nicht zuletzt der oft dramatisch schnellen Entwicklungen in der medizinischen Forschung – nicht absehbar, für welchen Zeitraum beispielsweise eine Krankheit als “unheilbar” (besser gesagt: nicht therapierbar) zu gelten hat. In aller Regel sind diese Spannen kürzen als die rein statistische Lebenserwartung eines Kindes. Und drittens war dies aus der Sicht eines Vaters geschrieben: Ich konnte mir damals und kann mir auch heute nicht vorstellen, wie ich mit einer solchen das Leben (m)eines Kindes beendenden Entscheidung weiter existieren könnte. Und ich male mir dabei aus, wie Eltern diese Qualen jedesmal neu durchleben würden, wenn es eben jenen Fortschritt in der Medizin zu melden gibt…
Aber der Unterschied in der Perspektive liegt darin, dass mein Beitrag, den ich vor knapp fünf Jahren geschrieben hatte, eine emotionale Vorschau – eine Warnung, wenn man so will – auf einen sehr schwer zu begreifenden Entscheidungskomplex sein sollte. Gewissermaßen reines Wunschdenken, also… Aber die drei Fälle in Belgien – über die nichts Näheres bekannt ist als dass der/die 17-Jährige an Duchenne-Musekldystrophie litt, das neunjährige Kind hatte einen Gehirntumor, das elfjährige Kind litt an Mukoviszidose – sind konkrete Fälle, in denen sich konkrete Eltern und ein konkretes Ärzte- und Spezialistengremium diese Entscheidung garantiert nicht leicht gemacht haben. Das Resultat der Entscheidung an sich mag humanitär vertretbar und moralisch begründbar sein, aber der Prozess der Entscheidung ist etwas, der nach meinem Verständnis zum grausamsten gehört, was man diesen Entscheidern zumuten könnte. Zu unterstellen, dass dabei Leichtfertigkeit oder gar vorauseilende Bequemlichkeit auch nur einen Moment lang eine Rolle gespielt haben könnte, ist bestenfalls überheblich und schlimmstenfalls von grausamer Bösartigkeit. Das Problem mit dieser Gesetzeslage wäre für mich (!) vor allem, dass damit überhaupt erst die Möglichkeit (und dabei letztlich auch die Notwendigkeit, wenn man sich der Verantwortung bewusst ist) geschaffen wurde, solch eine Entscheidung treffen zu müssen…
Und letzten Endes muss ich zugeben, dass ich eigentlich nur dankbar für den Luxus bin, den ich bisher hatte und hoffentlich bis ans Ende meiner bewusst erlebten Tage haben werde, nie so eine Entscheidung treffen zu müssen. Aber es ist eben nur das: ein Luxus, Resultat einer scheinbar unbeschreibbaren Reihe von bisher genossenen statistischen Glücksfällen. Und nicht ein einziger davon ist mein Verdienst, oder eine Legitimation, die Entscheidungen der weniger Glücklichen als unzulässig abzuwerten.
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