The decade of the brain ist zwar um, aber das Jahrhundert der Hirnforschung hat vielleicht gerade erst begonnen. Die „Neurosciences“, wie sie so schön heißen, sprechen in immer mehr Praxisbereichen mit. Auch in den Gesundheitswissenschaften macht sich das bemerkbar. Ein interessanter Aspekt dabei ist, was die Hirnforschung zum Thema Gesundheitsaufklärung und Verhaltensänderung beizutragen hat. Wie die Schulpädagogik steht auch die Prävention oft vor der Situation, dass die „Zielgruppen“ einfach nicht wollen, was aus fachlicher Sicht so eindeutig gut für sie zu sein scheint: Mehr Bewegung, weniger Rauchen, vorsichtiger beim Alkohol. Für all das gibt es gute Gründe, aber irgendwie haben die Leute ihren eigenen Kopf. Und da möchte man dann gerne hineinsehen.

Hirnforschung, Lernen, Motivation
Die Idee, sich bei der Hirnforschung Rat zu holen, wenn man pädagogisch nicht weiterkommt, hat seit Jahren Konjunktur. Man muss nur einmal mit den Suchwörtern „Hirnforschung, Pädogogik“, „Hirnfoschung, Erziehungswissenschaft“ oder „Hirnforschung, Lernen“ googeln. Der Ulmer Psychiater Manfred Spitzer hat sogar ein „Transferzentrum Neurowissenschaften und Lernen“ aufgebaut. Allerdings scheint mir, wie manchen anderen Leuten auch, dass der Ertrag der Hirnforschung bei praktischen Problemen des Lernens noch recht überschaubar ist: Dass man besser lernt, wenn man emotional beteiligt ist (z.B. Spaß am Lernen hat), wenn man an Vorwissen anknüpfen kann oder das Lernen lohnend erscheint – das wusste man auch ohne Hirnforschung. Und ob so viel gewonnen ist, wenn man darauf hinweist, jetzt sei man weiter, weil man das durch bildgebende Verfahren mit Abläufen im limbischen System in Verbindung bringen könne, weiß ich nicht. Dass Lernprozesse im Hirn stattfinden, war anzunehmen.

Ich frage mich, ob die Sparte der Hirnforschung, die derzeit so viel von sich reden macht, also die hirnphysiologisch orientierte Forschung, überhaupt der richtige Adressat für solche Themen ist. Diese Forschung scheint dazu zu neigen, die höheren Hirnleistungen – also die Welt wahrzunehmen, in Bedeutungen zu ordnen, Zukunftserwartungen zu bilden, Alternativen abzuwägen und dazu subjektive Handlungsgründe zu bilden – nur als Korrelate basaler biologischer bzw. physiologischer Prozesse zu behandeln. Wenn aber eigentlich diese basalen Prozesse im Focus der Forschung stehen, geraten die subjektiven Handlungsgründe, ihre Eigenart und ihre Funktion leicht aus dem Blick.

Spezifische und unspezifische Ebenen
Wenn ein Kind sich dafür interessiert, wie die Photosynthese funktioniert, dann mag sich das als erhöhte Aktivität im limbischen System abbilden. Aber diese „Aktivität“ ist unspezifisch gegenüber dem, warum sich das Kind für die Photosynthese interessiert. Ein anderes Kind interessiert sich nicht dafür. Den Grund dafür kann man aus der Aktivität des limbischen Systems oder anderer beteiligter Hirnareale (bisher) nicht ablesen. Hier kommt die Biographie des Kindes ins Spiel, seine bisherigen Erfahrungen mit Pflanzen, was es über das Thema gelesen oder von seinen Eltern gehört hat, seine Zukunftserwartungen, Wünsche etc. Man muss die Kinder fragen und je nachdem, wie verständlich ihnen ihr eigenes Handeln ist, können sie mehr oder weniger kompetent darauf Antwort geben. Man kann sich mit den Kindern auch gemeinsam auf Motivsuche begeben, falls das wichtig ist. So, wie man z.B. auch in einer Therapie versuchen kann, Handeln verständlich und im eigenen Interesse veränderbar zu machen. Dabei verlässt man eigentlich nicht die Hirnforschung: Subjektive Handlungsgründe sind nichts anderes als eine sehr spezifische Hirnleistung, und zwar spezifisch für menschliches Handeln. Menschen handeln (potentiell) als Subjekte nach subjektiv guten Gründen. Das mögen manchmal objektiv schlechte Gründe sein. Daran kann man sich dann z.B. in der Gesundheitsberatung abarbeiten. Die Sparte der Hirnforschung, die sich damit beschäftigt, nennt man traditionell Psychologie. Dass sie oft auch keine Antworten auf praktische Fragen hat, muss nicht weiter erläutert werden.

Nicht der Blutzuckerverbrauch irgendwo in einem Hirnareal ist also der für das Interesse des Kindes an der Photosynthese spezifische Zustand des Gehirns, sondern die subjektiven Handlungsgründe. Die sieht man bisher noch nicht im Hirnscan. Anders formuliert: Wenn man erklären will, wie Menschen handeln, soll man nicht die Hirnleistungen übergehen, die dafür spezifisch sind und genau dafür phylogenetisch ausdifferenziert wurden. Die Schönheit eines Dürer-Bildes erklärt man ja auch nicht mit den chemischen Eigenschaften der Farben auf der Leinwand.

Empowerment und (un-)heimliche Bemächtigung
Daran schließt sich ein weiterer Gedanke an. Wenn man in der Prävention, gestützt z.B. auf künftige Möglichkeiten psychopharmakologischer Stimulierung, gesellschaftlich erwünschte Handlungsbereitschaften erzeugen könnte, was würde das bedeuten? Würde man damit das “Lernen” unterstützen oder eher „hinter dem Rücken“ der Menschen Verhaltensänderungen bewirken, die man durch Argumentieren und Überzeugen nicht durchsetzen konnte? Und würde damit nicht das, was manche Trivialisierungen der Hirnforschung sagen, nämlich dass unsere freie Entscheidung nur eine Illusion sei, quasi erst hergestellt, in Form einer Täuschung über eine vollzogene Manipulation subjektiver Handlungsgründe? Die Ottawa-Charta der WHO hatte hier eine andere Blickrichtung. Ihre Autoren folgten einer der Aufklärung verpflichteten Idee: Prävention soll persönliche Kompetenzen entwickeln, dazu beitragen, dass die Menschen ihre gesundheitlichen Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen („Empowerment“) und mehr Selbstbestimmung über ihre Gesundheit gewinnen. Da hört man Kant sprechen. Hört man da auch die Hirnforschung sprechen?

Disclaimer: Hier wurde nicht geschrieben …
… dass der Geist vom Gehirn unabhängig ist, dass alles menschliche Verhalten bewusst oder willentlich ist, dass physiologisch orientierte Hirnforschung nutzlos oder ergebnislos ist, dass man aus der Hirnforschung nichts für die Prävention lernen kann, dass die Naturwissenschaft prinzipiell nie das Bewusstsein erklären kann, dass Psychopharmaka schlecht sind, dass krude Psychotherapien gut sind, dass die Sonne im Westen aufgeht und die Erde eine Scheibe ist.

Kommentare (54)

  1. #1 Andreas
    5. Juli 2013

    Du schreibst zum neuen und alten Thema – du und dein Gehirn. In Sachen Prävention sagen uns die Gehirnschlosser und -forscher noch nicht viel, aber sie versprechen viel. Das erinnert mich an die Versprechen der Künstlichen Intelligenz vor 25 Jahren. Das Versprechen und die Verheißung kann man aber auch als Drohung begreifen. Dann hoffe ich, dass die Hirnforschung so wenig erfolgreich ist wie die Informatiker der KI. Die KI-Forscher haben immerhin in anderen Gebieten später gute Ergebnisse produziert. So in der systematischen Verbesserung von Nutzerschnittstellen. Vielleicht bescheren uns die Hirnforscher auch Brauchbares, was heute noch nicht absehbar ist

  2. #2 Ponder
    5. Juli 2013

    Neuropädagogik heißt das Stichwort.
    Dazu gibt es allerhand Kurioses – Vorreiter für “Neues Lernen” ist wieder mal Gerald Hüther:

    https://www.nelecom.de/pdf/huether_metakompetenzen_und_ich_funktionen_in_der_kindheit.pdf

    Am meisten wundere ich mich über den WUK-Test:
    https://www.storyal.de/story2005/wuk-test.htm

  3. #3 Joseph Kuhn
    5. Juli 2013

    @ Ponder:

    Danke für den Link zu Hüthers Text. Ein schönes Beispiel dafür, was ich oben über die revolutionären neuen Erkenntnisse für die Pädagogik geschrieben habe. Da schreibt Hüther:

    “Das Gehirn, so lautet die vielleicht wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher, lernt immer, und es lernt das am besten, was einem Heranwachsenden hilft, sich in der Welt, in die er hineinwächst, zurecht zu finden und die Probleme zu lösen, die sich dort und dabei ergeben.”

    Ja Wahnsinn. Wäre das wirklich die wichtigste Erkenntnis der Hirnforscher, müsste man ihnen sofort alle Forschungsgelder streichen. Gottseidank machen die Leute auch wirklich spannende Sachen.

  4. #4 Ponder
    5. Juli 2013

    @ Joseph Kuhn:

    Das Irritierende dabei ist, dass sowohl Hüther als vermutlich auch Spitzer (obwohl der im Gegensatz zu Ersterem noch solide im akademischen Leben verortet ist), gar nicht zur Gruppe der Bildgebungs-Spezialisten gehören.
    Sie scheinen nur dann auf das Neuroimaging zurückzugreifen, wenn es ihnen weltanschaulich in den Kram passt.

    Auf Seiten der ernsthaften Forscher in diesem Bereich habe ich von solchen anmaßenden Grenzüberschreitungen noch nicht gehört.

    Eine interessante Analyse zur weltanschaulichen Vermarktung von “Hirnforschung” stammt ausgerechnet von einem katholischen Sektenbeauftragten:

    …Auch wenn mittlerweile alle Bereiche unseres Lebens mit neurowissenschaftlichen Thesen „orientiert“ werden, scheint ein besonderer Fokus auf unserem Bildungssystem zu liegen. Verwunderlich ist das nach dem PISA-Schock und den weiteren Bildungsstudien wie IGLU oder TIMSS, nach der Diskussion um die Gesamtschule und die Ganztagsschulen oder die Bologna-Reform nicht. Unzufriedene Eltern, belastete Schüler, ratlos-überforderte Lehrer und die verschiedenen Akteure im ideologisch sowieso hoch aufgeladenen Feld der Bildungspolitik nehmen scheinbar gerne die klaren Empfehlungen zur Kenntnis, nicht wenige fordern die darauf gründende radikale Umgestaltung des ganzen Systems. Manches erinnert dabei mehr an Revolution denn an Reform. Jeder Andersdenkende gerät schnell ins Abseits. Ein zentraler Akteur in diesem revolutionären Programm ist der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther, der für eine Vielzahl von Initiativen, Aktionen und Programmen (mit)verantwortlich zeichnet, dabei umtriebig durch die Lande zieht. So konnte man auf einer Roadshow der Initiative „Schule im Aufbruch“ im Januar 2013 in München einen guten Eindruck davon gewinnen, wie mit einfachen (dualistischen) Botschaften und eventmäßigen Elementen das interessierte Publikum zu begeistern ist. Mit seinen Mitstreitern im voll besetzten AudiMax der Ludwig-Maximilians-Universität forderte Hüther die Abschaffung der Schulnoten, die durch persönliche Schülergutachten ersetzt werden sollen (weil Noten prinzipiell ungerecht seien und niemals den Menschen in seiner Ganzheit erfassten) sowie die Streichung sämtlicher Rahmenlehrpläne. Stattdessen sollen die SchülerInnen selbst entscheiden, was sie lernen wollen – und schon schwände der Lernfrust und Lernlust mache sich breit. Das alte Schulsystem habe abgewirtschaftet – was wir bräuchten, sei nicht weniger als ein neues Denken und eine neue Ordnung. Schlechte Lehrer gehörten gegebenenfalls „bei vollen Bezügen nach Hause“[11] geschickt und am besten wäre es, „die Schülerinnen und Schüler als Expertinnen und Experten in eigener Sache“[12] zu Wort kommen zu lassen…

    https://www.weltanschauungsfragen.de/informationen/informationen-a-z/informationen-s/sinnstiftung/lange-version/

  5. #5 MartinB
    6. Juli 2013

    Sehr gelungener Text (und durch die kleinen Spitzen auch sehr amüsant zu lesen…)

  6. #6 threepoints...
    6. Juli 2013

    So viel Absätze hier zulesen zu bekommen, ist man gar nicht gewöhnt.

    Das muß doch was zu bedeuten haben…

    Hinterfragen wir das anhand ontologischer Wahrheiten darin. Etwa, weil das Thema so unmittelbar sein könnte, da es sich um unser Gehirn und damit Bewusstsein handelt, welches wie oben angedeutet gewisser Manipulationen ausgesetzt sein könnte?

    In diesem Falle wir alle nämlich in einer sonderbaren vergegenwärtigungsschleife hingen, in der wir versuchten zu rekonstruieren, was wäre wenn – aber darauf keine Antwort finden können, weil es nur eine Realität zur gleichen Zeit geben kann und eine Alternativrealität eben nicht existent wist – nie stattfand, also auch nicht hinreichend denkbar ist, sodass man sie zur Rechtfertigung einer solchen nehmen könnte und sich womöglich darauf berufen wollen täte.

    Wir können keine Alternativrealität reklamieren. Deswegen ist Bewusstseinsmanipulation eine so gefährliche Angelegenheit fürs Subjekt – der es absolut machtlos gegenüber gestellt ist.

  7. #7 Sven Türpe
    6. Juli 2013

    Wenn man in der Prävention, gestützt z.B. auf künftige Möglichkeiten psychopharmakologischer Stimulierung, gesellschaftlich erwünschte Handlungsbereitschaften erzeugen könnte, was würde das bedeuten?

    Dann hätten wir eine Hochrisikotechnologie gefunden, die wir — im Gegensatz etwa zur Gen- oder Kerntechnik oder aktuell der modernen Spionage — tatsächlich ächten müssten. Die damit erzielbare Verhaltensstandardisierung wäre auf lange Sicht tödlich für jede Gesellschaft, die zentrale Verhaltenssteuerung eine dramatische Komplexitäts- und deshalb Risikoerhöhung.

  8. #8 threepoints...
    6. Juli 2013

    Da der Körper und damit auch das Gehirn lebende Zellen sind, sollte man eigendlich annehmen, dass Manipulationen vorrübergehend sind. Der Gewinn aus dann Manipulation aus der Gewohnheit herraus, die in dieser Zeit konditioniert wurde, entsteht.

    @ Sven Türpe

    Genemanipulation und Ionisierende Strahlung sind einer neuronalen Manipulation durchaus Ebenbürdig als Gefahr.

    Was aber sei dir speziel in den Sinn gekommen, als du von “Risikoerhöhung” gesprochen hast?

    Für die Gesellschaft wäre das nicht ausgesprochen “schlecht”, solange man derartig nicht zu radikal umgeht. Zum Beispiel sei dieManipulation inEntwicklung befindlicher Kinder grenzwertig für Gesellschaft. Ansonsten nur das Subjekt das eigendliche Problem hat, wovon es allerdings nichts zwingend mitbekommt.

  9. #9 Joseph Kuhn
    6. Juli 2013

    @ threepoints…

    Ionisierende Strahlung kann Zellen schädigen. Nicht gut. Ein Fahrradunfall ist auch nicht gut. Beides hat aber nichts mit dem Thema hier zu tun.

    Die Frage war, was davon zu halten ist, dass manche Hirnforscher meinen, sie könnten das Lernen besser erklären (und gestalten), indem sie von der Ebene der subjektiven Handlungsgründe abstrahieren und basalere Hirnfunktionen ins Visier nehmen.

    Ich halte das nicht nur für wissenschaftlich undurchdacht – aus den oben genannten Gründen, man blendet die für die menschliche Verhaltenssteuerung spezifischen Hirnleistungen aus – sondern auch ethisch für problematisch, weil in den subjektiven Handlungsgründen unsere Interessen und unser Subjektstatus stecken. Nur deshalb lässt sich hier von “Manipulation” sprechen. Für die Hirnforschung (der angesprochenen Art) dürfte das allerdings kein Problem sein, weil sie unser Empfinden, begründet zu handeln, ohnehin als Illusion ansieht.

    In vielen Fällen umgeht übrigens auch die Natur die Ebene der subjektiven Handlungsgründe, z.B. bei allen automatisierten Prozessen, von der Verdauung bis zur Bilderkennung, weil damit das bewusste Handeln entlastet wird. Auch das kann beeinträchtigend sein.

  10. #10 threepoints...
    6. Juli 2013

    Eben eine Doku bei Phoenix über Schwärme. Was mich wieder daran erinnert, dass es bei neuronaler Manipulation auch darum geht. Die Konstruktion des Kollektivs nach Anforderungen.
    Und … wer sagt denn, das dies alles Irrsinn sei? Vielleicht heute schon Realität?

    Unser Bewusstsein ist ja “blöd” – sieht kein Verbindungskabel, also ist alles ohne Einfluß von Extern, was im Kopf abgeht.

    Das mal vorgestellt: Wir sitzen hier (und sonstwo) und denken noch so Dinge, wie Individuum, das “Ich”, von Unabhängigkeit und Sprache als einzige Kommunikationsstrategie. Dabei läuft im Hintergrund eine Fülle an Informationsaustausch ab – die wir in der Regel eher schlecht als recht interpretieren, auf jeden Fall aber meinten, es seien “unsere” eigenen Einfälle…

    Zur Erinnerung noch mal Julian Jaynes “bikamerale Psyche”, an der man dann eigentlich nur das Korrelat im Gehirn, welches die Selbstreferenz erzeugt, manipulieren (zerstören)müsste, und dann wäre der Schwarmsklave fertig – quasi Willenlos und doch einen Willen habend. Nur nicht seinen.

  11. #11 threepoints...
    6. Juli 2013

    @ Kuhn

    Aber das Subjekt existiert doch sowieso nur rudimentär in angewandter Humanmedizin und Politik/Sozialwissenschaften. Warum das also in der Forschung verändern?
    Das liegt auch an der Problematik der Statistik, in der jedes Subjekt zu einer Summe aufgerechnet und dann durch den Schnitt zum Individuum degeneriert wird.

    Bisher haben diese Neurowissenschaftler wohl noch keine besseren Möglichkeiten zu forschen, als eben simpelste Verhaltensweisen mit Gehirnaktivität in Verbindung zu bringen. Der Eindruck muß einem kommen, wenn man die Rezeption in den Medien vernimmt.

    Das Lernen erklären… das man mit Erregung auch Lerneffekte steigern kann, wird sich sicher auch in der Neuroforschung erklären lassen. Abstrahieren dabei ist nichts böses. Der Ursprung der Subjektivität sollte dabei aber nicht vollends verloren gehen – heisst: man es noch als erlebbare eigene Eigenschaft und Qualität erkennen können.

    Ansonsten sind die Hirnfunktiionen ja dahingehend relevant, wenn man zukünftige Medikamente entwickeln will oder eben zukünftige Manipulationsmethoden…entwickeln und verbessern.
    Das ist sicher: wenn man es weiß, das es geschieht – schon heute.

    Ich bin jedenfalls nicht wirklich “optimistisch” – wie auch. Jede Humanwissenschaft, die nicht das Subjekt als Ausgangspunkt hat, hat eigentlich keine Existenzberechtigung. Aber da kommt man wohl zu spät.

  12. #12 Bloody Mary
    6. Juli 2013

    @Joseph Kuhn
    Bei Dir finde ich es ganz schön interessant, wollte ich jetzt mal aussprechen.
    Ernst sind Deine Themen und heiter Deine Leser dank Deines sprühenden Witzes.

  13. #13 Joseph Kuhn
    6. Juli 2013

    @ Bloody Mary: 😉

  14. […] Mensch denkt, die Gesundheitspädagogik lenkt? Gesundheits-Check am 5. Juli […]

  15. #15 Trottelreiner
    7. Juli 2013

    Naja, der platt “neurologische” Ansatz mag die “persönlichen Antriebe” außer acht lassen, nur frage ich auch, inwiefern diese wirklich so viel besser geeignet sind; einerseits neigen Menschen dazu, ihr Verhalten durch Rationalisierungen zu erklären,

    https://de.wikipedia.org/wiki/Rationalisierung_(Psychologie)

    andererseits kann die Erinnerung an bestimmte Ereignisse eben auch durch einen veränderten Denkapparat gefärbt sein, siehe das bekannte Problem, ob spezifische Ereignisse Depressionen oder Psychosen hervorrufen, oder ob die mit Depressionen oder Psychosen einhergehenden kognitiven und das Verhalten betreffenden Veränderungen die Erinnerung an diese Ereignisse verstärken bzw. diese hervorrufen.

    Um auf das Beispiel mit der Photosynthese zurückzukommen, das Kind kann der Meinung sein, das es das Thema schätzt, weil das was mit der Grundlage unseres Lebens zu tun hat, es kann aber auch sein, das ausgerechnet in der Woche, als die Photosynthese behandelt wurde, eine besonders sympathische Lehrerin Vertretung hatte, was diese Erinnerung besonders “salient” macht. Wobei es interessant wäre zu fragen, welche Erklärung besser geeignet ist, das Kind bezüglich dieses Themas bei der Stange zu halten…

  16. #16 Trottelreiner
    7. Juli 2013

    Anderes Thema, bezüglich der pharmakologischen Beeinflussung, inwieferng besteht ein Unterschied dazwischen, ob ich die Verstärkung der Erinnerung durch einen Agonisten an diversen Noradrenalin/Dopamin-Rezeptoren bewirke oder den Noradrenalin/Dopamin-Spiegel durch Anschreien/eine attraktive Lehrperson des jeweils präferierten Geschlechts erhöhe? 😉

  17. #17 Joseph Kuhn
    7. Juli 2013

    @ Trottelreiner:

    “inwieferng besteht ein Unterschied dazwischen, ob ich die Verstärkung der Erinnerung durch einen Agonisten an diversen Noradrenalin/Dopamin-Rezeptoren bewirke oder den Noradrenalin/Dopamin-Spiegel durch Anschreien/eine attraktive Lehrperson des jeweils präferierten Geschlechts erhöhe?”

    Genau darum geht es. Sind die beiden Fälle hirnphysiologisch wirklich identisch? Ist damit, dass man im synaptischen Spalt recht unspezifische Dinge wie Dopamin, D-Rezeptoren, DAT, COMT und wer weiß was (ich bin kein Hirnforscher) beobachtet, auch die Welt, wie sie dem Menschen gegeben ist (hier das Anschreien der Lehrkraft), beobachtet? Oder fehlen da die feineren physischen Repräsentationen eben jener Situation und ihrer Vermittlung mit den Interessen und Handlungsperspektiven des Betroffenen? Und könnte es sein, dass, je mehr man diesen feineren Repräsentationen einmal in der Hirnforschung nachspüren kann, man sich immer mehr den spezifischen Äußerungen des Hirns annähert, die es dafür entwickelt hat, z.B. Bedeutungen, Begründungen etc. – statt den unspezifischen wie dem Dopaminstoffwechsel?

    Wenn man das menschliche Bewusstsein nicht in eine “geisterhafte Unwirklichkeit” verbannen will, muss es physisch realisiert sein – und zwar in all seinen Feinheiten. Das ist die wissenschaftliche Seite des Ganzen. Die ethische Seite ist die, dass in diesen Feinheiten unser Subjektstatus steckt, unser Modus, mit der Welt so umzugehen, dass es zu uns passt, nämlich vermittelt über subjektive Handlungsgründe (die biografisch und aktuell bestimmt sind durch die Wahrnehmung der Welt, in der wir leben).

    Und um nochmal auf die Prävention zurückzukommen: Nebenan bei WeiterGen wird gerade wieder über Impfgegner diskutiert. Impfgegner wollen sich nicht impfen lassen. Es gibt aber gute Gründe z.B. für die Masernimpfung. Am besten wäre doch, man könnte die Impfgegner überzeugen, so dass sie aus eigenen Gründen und Interessen impfbereit sind. Wenn das aber nicht geht: Soll man sie durch eine Impfpflicht zwingen? Das würde ihre Subjektivität unangetastet lassen, sie wüssten, dass sie etwas tun sollen, was sie nicht wollen. Oder sollte man sie etwa – z.B. pharmakologisch – so einstellen, dass sie das gar nicht mehr merken? Bei dieser Alternative habe zumindest ich ein extrem ungutes Gefühl. Man macht die Leute damit zum bewusstlosen Objekt gesellschaftlicher Interessen, gegen die sie dann nicht einmal mehr opponieren können.

  18. #18 Ponder
    7. Juli 2013

    @Trottelreiner und Joseph Kuhn:

    Das hervorragende Buch “Neuropsychotherapie” von Klaus Grawe beschäftigt sich ausführlich und gut lesbar mit den neurophysiologischen Grundlagen des menschlichen Verhaltens und erklärt Wirkmechanismen von psychotherapeutischen Interventionen (und ggfs Medikation) im Hinblick auf beteiligte neuronale Netzwerke und Neurotransmitter/Neuromodulatoren.

  19. #19 threepoints...
    7. Juli 2013

    Anschreinen als Lernhilfe…

    Angesichts durchaus vorhandener Erfolge mit antiautoriären Methoden sollte es hier Zweifel geben. Sind zu dieser Strategie aber substanzbasierte Erregungszustände notwendig, erzeugt man damit eine Aufwärtsspirale – Desensibilisierung; nicht anders, als esmit umgangsbasierter Erregung sei – mehr Schreien für mehr Effekte hat genauso seine Grenzen.

    Und je nach Erregungsart (Angst, Frust, Furcht, Libido, Freude, …) Entstehen darauf abgestimmte – dadurch erzeugte neuronale Muster. Das Lernen unter arg variablen Erregungsmustern fördert keinen konsistenten Lernerfolg im Sinne einer höchstmöglchen intellektuellen Fülle. Mutmaßlich kommt es dazu, dass je nach Erregungsart auch nur die dazu erlernten Lerninhalte abrufbar werden – was letztlich zu einem Kaos führt – wenn man die Erregungsmuster nicht beibehält, die beim Lernen aufrecht gehalten/angeregt werden.
    Das lernen per Erregungsmuster eher auch deswegen in eine falsche “Einstellung” des Lernenden führt, weil dann auch zum Abruf der Lerninhalte ein Mindesterregungszustand erforderlich sei.
    Das bedeutet, dass ich das gelernte in der Situation, in der die neue/unbekannte, aber symphatische Lehrerin anwesend war, tendenziel nur dann leicht/automatisch abrufen kann, wenn ich später in einem dem ähnlichen Mentalzustand bin, als ich zum zeitpunkt des Lernens gwesen.

    Das lässt erahnen, dass es letztlich absolut wünschenswert sei, das Lernen in tendenziel erregungsarmen Situationen zu gestalten. Ansonsten im späteren Leben die jeweilige Erregung notwendig werden könnte – was zu Problemen ganz anderer Art führt.

    Es ist auch zu bemerken, dass Erregungszustände irgendwnn nicht mehr (angemessen) gesteigert werden können (um eventuel weitere Lerneffekte zu ermöglichen). Es findet eine Desensibilisierung statt, die wahrscheinlich letztlich das nachfolgen lässt, was man heute unter Depressionen und Burnouts therapiert – den unangemessen hohen Erregungsbedarf des Subjekts, der in Alltagssituationen nicht mehr erreichbar ist oder zu unangemessenen Nebenwirkungen im Verhalten führt. Der innerte Ergungszustand über solche Konditionierungsmethoden von seinen äußeren Umgebungs-und Situationsbedingungen abgekoppelt wird, sodass eine “Angemessenheit” nicht mehr besteht.

    Zur Frage, wo nun der Unterschied speziel zwischen Anschreien oder symphatische Lehrkraft liegt…
    Mag man vielleicht annehmen, dass jede der endogenen Drogen ihre spezielle mentale Wirkung hat, die dementsprechend vom Bewusstsein mit Zuhilfenahme der restlichen Standartsinne interpretiert wird und etwa in Angst, Furcht, Liebe, Spaß, Freude …usw empfunden und repräsentiert wird. Ohne diese Repräsentationen aufgrund von Erklärungsmangel eigendlich nur Angsterregung empfunden wird.
    Man kann also grob daran systematisieren in der Neurowissenschaft, … Feinheiten in Verbindung mit dem Subjektiven ist dann eben noch immer möglich – obwohl die Frage auftaucht, ob es denn nochnotwendig sei. Weil das Subjektive eben ein virtueller Nachvollzug jeder Situation sei, die erlebt wird – wofür dann die Psychologie zuständig sei … eventuelle Traumata zu therapieren.
    Problematisch seien Interretationsleistungen ds Subjekts, die mentale Erregung nicht in einen Kontext imBewusstsein repräsentieren – aufgrund von Mangel an konsistenter Erfahrung etwa oder schon früh einsetzender übersensibilisierung/hypersensibilität, was eine Interpretation und folgend spezifische Erfahrungsdiferenzierung unmöglich macht, da die Erregungszustände das Subjekt immer geistig, wie auch körperlich lähmen. Mutmaßlich generiert man so sogenannte Psychophaten, die irgendwann diese Kulturtechnik überspringen, weil sie nicht zu bewältigen war und fortan eine Entwicklung gehen, die nahezu unabhängig von spezifischen Erregungszuständen funktioniert, sondern nur noch eine Erregung kennen und damit aggieren.

    Der Vorteil an der Agonisten-Strategie gegenüber der Anschreimethode sei, dass mit sachlichen Lerninhalten keine/wenig/unauffällige soziale Lerninhalte vermengt werden – nämlich hier: Die Erfahrung des Angeschrienwerdens und die Demutsspur im (unter)Bewusstsein. Sowas führt zu besonderen Nebenwirkungen – sozialer Rückzug oder Angriff. Neutral sei das jedenfalls nicht und erzeugt auch keine Neutralität gegenüber Mitmenschen. Andererseits hier positiv wäre, wenn wenigstens dieser negative Effekt aufträte, wenn einem Subjekt aufgrund von vollendter Desensibilisierung jegliche Motivation abhanden gekommen sei.

  20. #20 threepoints...
    7. Juli 2013

    @ Trottelreiner

    Es ist nicht relvant, ob Depressionen oder Psychosen zu Erinnerungen an Ereignisse führen, oder die Erinnerungen an ereignisse zu Depressionen und Psychosen führen. Im Zweifel funktioniert beides und im Zweifel reicht es, nur eine Bedingung in der Schleife zu unterbinden. So jedenfalls die derzeitige therapeutische Perpsektive.

    Lerninhaltskodierte Erregunszustände (Traumata) aber sind hier auf jeden Fall relevant.Und sie lassen sich über kognitive Visionen (erinnerungen) auslösen, wie auch per Substanzerregte oder Umgangserregte mentale Zustände – so sie fest genug manifestiert sind – was meist als Anzeichen einer Therapienotwendigkeit erkannt wird. In jedem Falle steht zu beobachten, wieweit das Subjekt diese Erinnerungseinflüsse gegen eine äußere Umwelt bewertet – sind die Erinnerungen überwiegend derart überpräsent, das die Umwelt keinen Einfluß mehr hat, scheint Therapienotwendigkeit zu bestehen.

    Das aber erklärt leider trotzdem noch wenig über die subjektive Wirklichkeit, denn es gibt auch zu beachten, dass man sich zum Depressivwerden auch Zeit nehmen kann/will oder verfügbar haben muß. Die Bewertung dieser Bedingungen durch dritte ist fast unmöglich.

  21. #21 Trottelreiner
    7. Juli 2013

    @Joseph Kuhn

    Genau darum geht es. Sind die beiden Fälle hirnphysiologisch wirklich identisch?

    Wenn du es molekular betrachtest, ist es den Neurotransmittern herzlich egal, weswegen sie ausgestoßen werden. Wobei die zusätzlich freigesetzten Neurotransmitter wohl durchaus auch eine Rolle spielen dürften. Die Frage wäre eben, wie sich das auf den höheren Ebenen verhält; bei Dopamin ist es z.B. so, daß es Verhaltensweisen sowohl positiv als auch negativ verstärken kann, je nachdem welcher Bereich betroffen ist:

    https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/23578393

    Zum Lerntempo wäre anzumerken, daß man zur Erregung die Leute nicht nur anschreien muß; Mozart soll ähnlich wirken. Oder ein paar Minuten Stephen King oder, Göttin bewahre, Gameboy…

    https://en.wikipedia.org/wiki/Mozart_effect#Subsequent_research_and_meta-analyses

    Das Ärgerliche an der moderne Neuropsychologie ist eigentlich, daß wir hier größtenteils nur alten Wein in neuen Schläuchen eingeschenkt bekommen, dieselbe Situation ergab sich schon einmal bei diversen Emotionstheorien, als diskutiert wurde, wie spezifische Emotionen sich zu einer allgemeinen Erregung verhielten:

    https://en.wikipedia.org/wiki/Misattribution_of_arousal

    Genaugenommen kommen wir dann aber in einen ganz anderen Bereich hinein, was z.B. das “Selbst” ist, was “natürlich” oder “künstlich” ist, was “wahre Liebe” vs. Rattigkeit ist etc. Wobei über die Sinnhaftigkeit solcher Kategorien nach dem x-ten Gespräch mit Teenagern jeder etwas zynisch wird.

    Am besten wäre doch, man könnte die Impfgegner überzeugen, so dass sie aus eigenen Gründen und Interessen impfbereit sind. Wenn das aber nicht geht: Soll man sie durch eine Impfpflicht zwingen? Das würde ihre Subjektivität unangetastet lassen, sie wüssten, dass sie etwas tun sollen, was sie nicht wollen. Oder sollte man sie etwa – z.B. pharmakologisch – so einstellen, dass sie das gar nicht mehr merken?

    Hm, ich dachte, ich hätte eine nette Lösung für die Impfgegner; man ließe ihnen die Freiheit ihrer Entscheidung, machte sie aber auch für die Folgen ihrer Verhaltensweisen finanziell verantwortlich.

    BTW kann man Menschen auch ganz ohne Psychopharmaka indoktrinieren, bei Ermüdung z.B. werden Lerninhalte nicht mehr so stark hinterfragt. Was heute schon von vielen Gruppen praktiziert wird, u.a. auch von Impfgegnern. Inwiefern ist das besser als eine psychopharmakologische Zwangsjacke?

    Wieder, ich denke, daß wir hier alten Wein in neuen Schläuchen eingeschenkt bekommen, und ich frage mich auch, warum wir direkte pharmakologische Interventionen als ethisch verwerflich ansehen, bei eher pädagogischen Methoden oder auch Hokuspokus wie der Kinesiologie diese Fragen aber nicht stellen. Bzw. wir stellen diese Frage bei bestimmten Therapiemethoden wie der Verhaltenstherapie, bei anderen, wie der Psychoanalyse stellen wir sie nicht.

  22. #22 Trottelreiner
    7. Juli 2013

    @threepoint:
    Das Problem ist, das depressive (oder bedrückte) Menschen sich besser an negative Ereignisse erinnern als an positive Eriegnisse, bzw. das ein gewisser bei Normallaunigen zu beobachtender bias hin zu letzteren bei ihnen nicht vorhanden ist.

    Wenn also Depressive von negativen Ereignissen in der jüngeren Vergangenheit berichten, kann das bedeuten, daß siedurch diesen Stress depressiv wurden; es kann aber auch bedeuten, daß die Depression auf andere Dinge zurückgeht und sie sich an die negativen Ereignisse dadurch besser erinnern.

    Bei Psychosen ergibt sich ein ähnliches Problem, bin ich paranoid, weil alle hinter mir her sind, oder sind alle hinter mir her, weil ich mich paranoid verhalte. 😉

  23. #23 Joseph Kuhn
    8. Juli 2013

    @ Trottelreiner:

    “Wenn du es molekular betrachtest, ist es den Neurotransmittern herzlich egal, weswegen sie ausgestoßen werden.”

    Genau. Weil diese Ebene zu unspezifisch für unser Handeln ist. Wie die Pulsfrequenz.

    “Das Ärgerliche an der moderne Neuropsychologie ist eigentlich, daß wir hier größtenteils nur alten Wein in neuen Schläuchen eingeschenkt bekommen”

    So ist es.

    ” ich hätte eine nette Lösung für die Impfgegner; man ließe ihnen die Freiheit ihrer Entscheidung, machte sie aber auch für die Folgen ihrer Verhaltensweisen finanziell verantwortlich.”

    Könnte man diskutieren. Mündet in die berühmte Diskussion, ob Raucher ihren Lungenkrebs oder Drachenflieger ihre Knochenbrüche selber zahlen sollen. Aber das ist eine andere Geschichte. Relevant für die Diskussion hier ist, dass eine solche Lösung – wie die Impfpflicht – die Ebene der subjektiven Handlungsgründe nicht umgehen würde.

    “BTW kann man Menschen auch ganz ohne Psychopharmaka indoktrinieren”

    Ja klar. Das erleben wir täglich, z.B. wenn Dinge einseitig dargestellt werden. Da wird zwar die Ebene der subjektiven Handlungsgründe nicht umgangen, aber man versucht trotzdem, uns zu manipulieren.

  24. #24 Joseph Kuhn
    10. Juli 2013

    Nachtrag:
    Gestern fand zu diesem Thema bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) in Köln ein Werkstattgespräch statt. Inputs gaben Torsten Heinemann, Soziologe an der Uni Frankfurt (Populäre Wissenschaft: Hirnforschung zwischen Labor und Talkshow, Göttingen 2012), Gudrun Morasch, die mit einer Arbeit über Gerald Hüther habilitiert hat (Hirnforschung und menschliches Selbst, Heidelberg 2007), Felix Hasler, dessen Buch “Neuromythologie” hier schon vorgestellt wurde und Stefan Ludwigs, Mediendesigner an der Rheinisch-Westfälischen Fachhochschule in Köln. Diskutiert wurde darüber, ob sich aus der Hirnforschung Schlussfolgerungen für die Präventionskampagnen der BZgA ergeben und falls ja, welche – ein “Brainstorming” im wahrsten Sinn des Wortes also. Erwartungsgemäß gab es darauf keine eindeutige Antwort, dazu hat das Thema zu viele Facetten. Es war trotzdem, oder vielleicht gerade deswegen, eine sehr interessante Veranstaltung. Spannend fand ich z.B. die Ambivalanz, von der Hirnforschung wirksamere Präventionskampagnen zu erwarten und als Ziel gleichzeitig die Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit hochzuhalten. Zumindest die Fraktionen der Hirnforschung, die den freien Willen infrage stellen, sind vielleicht nicht die besten Anwälte der “informierten Entscheidung”, die als grundlegendes medizinethisches Prinzip auch in der Prävention zu beachten ist. Andernfalls beteiligt man sich, wie es teilweise ganz unschuldig ausgesprochen wurde, an einem Projekt der gesellschaftlichen Konditionierung. Offen ist, ob das Werkstattgespräch in irgendeiner Form dokumentiert wird – lohnend wäre es sicher, weil diese Diskussion in der “Präventionsszene” unbedingt weitergeführt werden muss.

  25. #25 Ponder
    10. Juli 2013

    Ein typisches Beispiel für “Neuropädagogik in der Prävention”:

    https://www.marktplatzbildung.de/uploads/Scripte%2014ter%20MB/Gesundheitsverhalten%20im%20Spiegel%20der%20Neuropaedagogik-06.04.10.pdf

    Interessant fand ich die Überlegungen zur Kommunikaton (S.5)

    Die Psycholinguistik hat eine Vielzahl von Sprachmustern identifiziert, die innerhalb unseres Kulturkreises über die Aktivierung von Sprach-Emotion-Koppelungen typische Reaktionen des Menschen auslösen. Diese können stressfördernd und veränderungshemmend sein und eine Ernährungsumstellung behindern oder sie können eher stressregulierend und veränderungsfördernd sein und eine Ernährungsumstellung begünstigen…

  26. #26 Joseph Kuhn
    10. Juli 2013

    @ Ponder: Danke für den Link. Sehr schön ist Übersicht 1 auf S. 150: “Typische Welt und Ernährungsmodelle”. Wie einfach doch alles sein kann. Dazu gehört jetzt noch der Test für die Zeitschrift beim Friseur: “Sind Sie ein starrer oder flexibler Ernährungstyp” – mit den genannten Statements in Frageform.

    Bei so einem Zeug fallen mir auch Sachen zur “Aktivierung von Sprach-Emotion-Kopplungen” ein, aber die sind nicht jugendfrei.

  27. #27 Ponder
    10. Juli 2013

    @ Joseph Kuhn:

    Bei so einem Zeug fallen mir auch Sachen zur “Aktivierung von Sprach-Emotion-Kopplungen” ein, aber die sind nicht jugendfrei.

    Na bitte!
    Funktioniert astrein.

  28. #28 Joseph Kuhn
    10. Juli 2013

    “Na bitte! Funktioniert astrein.”

    Sogar verlässlich reproduzierbar. Vorbildlicher Hirnforschungsbefund.

  29. #29 Joseph Kuhn
    13. Juli 2013

    Im Ärzteblatt wurde gerade eine Übersichtsarbeit zur Hirnentwicklung in der Adoleszenz veröffentlicht (Konrad K et al.: Hirnentwicklung in der Adoleszenz. Dtsch Arztebl Int 2013; 110(25): 425-31; DOI: 10.3238/arztebl.2013.0425). Darin wird beschrieben, dass es in der Adoleszenz zu tiefgreifenden Umorganisationen des Gehirns komme und ein “Ungleichgewicht” zwischen den für Emotionalität, Belohnung und Kontrolle zuständigen Hirnarealen entstehe. “Dieses Ungleichgewicht könnte das neuronale Substrat für den adoleszenztypischen emotionalen Reaktionsstil darstellen und risikoreiche Verhaltensweisen begünstigen.” Das Risikoverhalten der Jugendlichen solle man daher nicht komplett unterbinden, sondern versuchen, durch “emotional positive Modelle den sozialen Belohnungsaspekt von nichtriskanten Verhaltensweisen zu erhöhen (Beispiel: Cooler Star aus Fernseh-Soap entscheidet sich gegen Rauschtrinkwettbewerb unter Freunden).”

    So interessant die berichteten Befunde aus der Hirnforschung sind und so sinnvoll die Idee mit der Fernseh-Soap sein dürfte, so sehr zeigt auch dieser Artikel, was oben im Blogbeitrag beschrieben wurde. Abgesehen davon, dass wiederum vor allem bekannte Sachverhalte bestätigt werden – jugendlicher Leichtsinn ist ja schon länger bekannt – tendiert diese Art der Forschung dazu, die Welt, wie sie von den Jugendlichen erlebt wird und die subjektiven Handlungsgründe, mit denen die Jugendlichen darauf Bezug nehmen, auszublenden. Das Rauschtrinken wird zum Symptom eines “Ungleichgewichts” der Hirnentwicklung. Könnte es sein, dass damit nur das zwischen Erwachsenen und Jugendlichen übliche Verhältnis reproduziert wird: Erwachsene nehmen Jugendliche nicht ernst, man weiß ja besser, was gut für sie ist – sogar mit hirnbiologischer Rechtfertigung?

  30. #30 threepoints...
    13. Juli 2013

    Übersichtsarbeit zur Hirnentwicklung in der Adoleszenz

    ->Wenn das stimmt, … dann wird schlichtweg selten einer Erwachsen.
    Denn ich kann nur wenig Risikobereitschaft sehen.

    Könnte es sein, das man Adoleszenz unterdrücken kann, wenn man erhöhte Angst konditioniert – die einem davor bewahrt, Riskantes auch nur zur denken?

  31. #31 Theres
    13. Juli 2013

    @threepoints…
    Angst macht krank.
    Adoleszenz unterdrücken kannst du vielleicht – übelst salopp gesagt – mit immerwährendem Spieltrieb und ständiger Neugier, aber mit Angst sicherlich nicht. Konditionierung hat auch in der Erziehung nichts zu suchen. Du kommst ja auf Ideen …

    Könnte es sein, dass damit nur das zwischen Erwachsenen und Jugendlichen übliche Verhältnis reproduziert wird: Erwachsene nehmen Jugendliche nicht ernst, man weiß ja besser, was gut für sie ist – sogar mit hirnbiologischer Rechtfertigung?

    Würde ich auch so sehen. Als wären wir nicht alle mal jung gewesen …

  32. #32 threepoints...
    13. Juli 2013

    @Theres#31

    “Konditionierung hat auch in der Erziehung nichts zu suchen. ”

    -> Aha, … ich sprach auch nicht von Erziehung – die etwa in Familie stattfindet. Das ist ja banal… pillapalle, gegenüber gescheiter Konditionierung. Obwohl rechlich Konditionierung in banaler Erziehung stattfindet.

    Angst macht krank…

    Wieso könnte Angst nicht schon die Krankheit sein? Weil vielleicht die Angst tatsächlich soziologisch (etwa Risikobereitschaft) relevant sei und sie notwendig sei?

  33. #33 rolak
    13. Juli 2013

    Adoleszenz unterdrücken

    Klar, Theres, älter werden ist unvermeidbar, erwachsen werden optional. Doch generell habe ich (abgesehen von der Verwendung als geflügeltes Wort) eine kleine Schwierigkeit mit der Formulierung ‘jugendlicher Leichtsinn’, die (gefühlt) den Effekt auf die Pubertät zu beschränkt, während er auch vorher schon beobachtbar ist. Mir wurde mal erklärt, erst irgendwann im Rahmen der P, typischerweise gegen Ende, werde das Einkalkulieren der eigenen Sterblichkeit bei den meisten Menschen systemimmanent im Gegensatz zu einem ‘fast nicht vorhanden’ vorher.
    Was allerdings während der Bewußtseinsumbildung anders sei, wäre der Drang zur Selbstfindung, einfachsterweise durch Abgrenzung vom Rest (und seinen Ratschlägen) erreichbar – insofern würde ‘challenge accepted’ zur Grundhaltung und eine Eskalation wahrscheinlich.

  34. #34 threepoints...
    14. Juli 2013

    Sind eben doch alles feige Heuchler. Sich bei grenzwertigem einfach immer auf Nebenschauplätzen niederlassen.

    Es wird eben nirgends Wahrheit erklärt.

  35. #35 Joseph Kuhn
    14. Juli 2013

    @ rolak:

    “auch vorher schon beobachtbar”

    Und vor allem nachher: Kriege, Finanzkrisen und zusammenbrechende Textilfabriken in Bangladesh gehen ja nicht auf jugendlichen, sondern auf erwachsenen “Leichtsinn” zurück. Vermutungen über biologische – oder hier hirnphysiologische – Erklärungen menschlichen Verhaltens sind schnell hingeschrieben, belegt sind sie oft nicht.

    “challenge accepted”

    Zumindest dürfte es schwer werden, selbständig zu entscheiden, wenn man Konventionen nie testet. Man könnte (Vorsicht: Spekulation!) genauso argumentieren, Jugendliche gehen Risiken ein, weil sie die intellektuelle Reife zum selbständigen Abwägen und zur Auseinandersetzung mit Konventionen erreicht haben.

  36. #36 rolak
    14. Juli 2013

    vor allem nachher

    Zugegeben, da entstehen schon ziemliche Schäden, doch es sind alles Zockereien. Also absichtliche Entscheidungen aus der Intention der Gewinnmaximierung, die sich im Nachhinein global als allzu leichtfertig überlegt bzw grundfalsch herausstellen. In Deiner Reihenfolge: Wir sind stärker als ‘die’, et hätt noch immer joot jejange, (das mit dem Mützenbeton merkt keiner)+(sklavoide Arbeitsbedingungen interessieren unsere Kunden nicht). Wobei der vierte der drei noch solide zu stehen scheint. Lokal funktionieren diese harten Wetten ja immer wieder, ob nun für Kriegsgewinnler, Banker oder Kik.

    Doch es ging mir um das explizit unüberlegte Handeln, die spontane Aktion ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Ohne es auf Datum+Uhrzeit festnageln zu können, ist mir doch bewußt, daß auf einmal irgendwann in meinem Leben Bedenken bzgl der eigenen Sicherheit aufkamen, vorher völlig unbekannt. Was selbstverständlich durchaus mit intellektueller Reife zu tun haben kann, doch sind Intellekt, Ratio et al Metafunktionen des Hirns, die eventuell mal zumindest einer groben Einordnung durch irgendein informations-gebendes Verfahren jenseits der Befragung (die ja durchaus funktioniert) zugänglich sein könnten.

  37. #37 Trottelreiner
    14. Juli 2013

    @ Joseph Kuhn:

    Genau. Weil diese Ebene zu unspezifisch für unser Handeln ist. Wie die Pulsfrequenz.

    Wobei spezifische Verknüpfungen dann durchaus für die einzelne Person charakteristisch sein könnten, man vergleiche mit der elektrischen Reizung spezifischer Hirnareale und den damit einhergehenden Empfindungen.

    Was wiederum recht nahe an der subjektiven erfahrung wäre.

    Mündet in die berühmte Diskussion, ob Raucher ihren Lungenkrebs oder Drachenflieger ihre Knochenbrüche selber zahlen sollen.

    Darum geht es nicht; wenn Ärzte für Behandlungsfehler und die Folgen zahlen müssen, dann sehe ich keinen Grund, warum das bei Heilpartikern, Eltern et al. anders sein sollte.

    Um auf das Beispiel mit den Rauchern und Drachenfliegern zurückzukommen, wenn du deine Zigarette in einem trockenen Wald hinwirfst, kann man dich wegen fahrlässiger Brandstiftung belangen. Wenn du als Drachenflieger einen Fehler machst und jemandem das Genick brichst, ist das fahrlässige Tötung. Wenn du Essen mit TCDD vergiftest, mußt du für die Folgen aufkommen. Warum sollte die biologische Gefährdung seiner Mitmenschen durch Viren ausgenommen sein, wenn jede GMO-Fruchfliegen-Zucht in Privathaftung steht?

    Relevant für die Diskussion hier ist, dass eine solche Lösung – wie die Impfpflicht – die Ebene der subjektiven Handlungsgründe nicht umgehen würde.

    Eben. Und gerade deswegen wohl vorzuziehen. Nur wüsste ich nicht, daß das ausprobiert würde.

    Ja klar. Das erleben wir täglich, z.B. wenn Dinge einseitig dargestellt werden. Da wird zwar die Ebene der subjektiven Handlungsgründe nicht umgangen, aber man versucht trotzdem, uns zu manipulieren.

    Wir meinen verschiedenes. Wenn ich Menschen etwas aufschwatzen möchte, könnte ich dies z.B. durch ein bißchen Oxytocin in der Atemluft tun, um Vertrauen zu erzeugen. Klappt zwar nicht, aber nehmen wir mal an, der Hype um das Treuehormon würde stimmen.

    Ich kann aber auch sein kritisches Denken dadurch ausschalten, daß ich sein Kurzzeitgedächtnis soweit überlaste, das ihm keine Zeit zur weiteren Verarbeitung bleibt. Eine Möglichkeit wäre z.B. Übermüdung, einer der Gründe, warum Indoktrinierungsstellen immer soviel Wert auf frühes Aufstehen legen, eine Andere ist Schnellsprechen etc. In beiden Fällen manipuliere ich Menschen, ohne daß ihnen das subjektiv klar ist und sie Widerstand leisten.

    Nach der ersten Überzeugung müßte ich dann das Gelernte verfestigen und gegen Hinterfragen absichern; dies könnte man wohl wieder pharmazeutisch erreichen, oder man kann sich das Prinzip der kognitiven Dissonanz zunutze machen, indem man z.B. die aufgeschwatzte Ware besonders teuer macht, den Überzeugten von seinen sozialen Bindungen isoliert, ihn mitschuldig macht, als Missionar der Lächerlichkeit preisgibt etc. Der Beeinflußte steht dann vor der wahl, sich entweder seine eigene “Dummheit” einzugestehen oder aber weiter zu machen. Viele entscheiden sich für die letztere Möglichkeit…

    https://en.wikipedia.org/wiki/When_Prophecy_Fails

    Ob der Manipulator jetzt ein Gebrauchtwagenverkäufer, ein Manager oder ein Sektenführer ist, wäre zweitrangig. Und wie man sieht sind die Methoden, die etwas sensationalistisch als “Gehirnwäsche” bezeichnet werden gar nicht so weit vom Alltag entfernt.

    Entsprechend frage ich mich, wieso wir uns über die Ergebnisse der Hirnforschung sorgen sollen, wenn die “normale” Psychologie solche Möglichkeiten bietet. Interessant wäre BTW auch die Frage, ob es sinnvoll ist, solche Methoden bekannter zu machen, einerseits würde dies evtl. vor durchaus auch unbewusster Anwendung durch Trainer etc. schützen, andererseits bringt das manche Leute vielleicht erst auf Ideen…

  38. #38 Trottelreiner
    14. Juli 2013

    Zum Hirnumbau in der Pupertät. es gäbe da auch den Ansatz, daß das alles ein kulturspezifisches “iatrogenes” (oder parentogenes?) Syndrom wäre, wie auch Exorzismen, MPD etc.

    https://scan.oxfordjournals.org/content/5/2-3/159.full

    Die meisten Studienteilnehmer in der Neuropsychologie dürften WEIRD sein, eine Erweiterung der altbekannten Gruppe der weißen amerikanischen aus der Mittelschicht stammenden Psychologie-Zweitsemester:

    https://neuroanthropology.net/2010/07/10/we-agree-its-weird-but-is-it-weird-enough/

  39. #39 threepoints...
    14. Juli 2013

    Da war doch neulich ein Artikel online (Zeit oder Faz) wo erklärt wurde, wie die D-Bahn mit Raumdüften experimentiert.

    Auch,wenniches wohl schätzen würde, dass es aufgrund von hunderten Passagieren im Abteil nicht mehr genau danach stinkt (bei 30 Grad im Schatten und unterdimensionierter Klimaanlage), würde ich mich aber doch schon “an der Nase herumgeführt” fühlen, wenn da irgendwelche neurologisch wirksamen Düfte enthalten wären. Etwa Oxytoxin, wonach ich dann nach der Reise meine Frau zuhause nicht mehr “riechen” kann, wegen der Überdosis im Abteil.

    Man stelle sich mal vor, dass die Scheidungsraten so hoch seien, weil durch solche Manipulationen unbemerkt die Subjekte verwirrt werden…

  40. #40 threepoints...
    14. Juli 2013

    @ Trottelreiner #38

    iatrogenes Syndrom…. gefällt mir gut.

    Hat sicher wohl was mit dem Ödipus zu tun, das sowas sozusagen zur Kulturtechnik gehört.

    Das Problem der selektierten Studienteilnehmer ist brisant.

    Da landen sicher seltener Penner von unter der Brücke, sondern eher quasi die Prototypen der gegenwärtigen Hochkultur. Woraus sich ergeben kann / ergibt, dass Abweichung logscherweise auf Pathologien hindeuten… oder als solche einfach gedeutet werden.
    Das wäre dann nichts anderes, als eine moderne “Rassismusstruktur”, wie es zuweilen schon beim “Genetismus” angenommen werden kann.

    Da liegt dann das “intelligent design” hier als menschgemachtes Konstrukt gar nicht so weit entfernt – und bei ungestörter Evolution sich nur diese erfolgreich fortpflanzen werden können.

  41. #41 Joseph Kuhn
    14. Juli 2013

    @ Trottelreiner:

    “Wobei spezifische Verknüpfungen dann durchaus für die einzelne Person charakteristisch sein könnten”

    Ein Fingerabdruck ist auch spezifisch für eine Person, aber ihr Denken kann man nicht daraus ablesen. Die Sache mit der Stimulierung von Hirnarealen und den damit einhergehenden Empfindungen müsste man im Detail diskutieren, bis hin zur “Hirn im Tank”-Problematik. Aber es ist nicht mein Punkt, ob es prinzipiell möglich ist, alles, was jemand fühlt und denkt, irgendwann gezielt zu s(t)imulieren.

    “wieso wir uns über die Ergebnisse der Hirnforschung sorgen sollen, wenn die “normale” Psychologie solche Möglichkeiten bietet.”

    Das sehe ich auch so. Meine Sorge gilt weniger der Hirnforschung selbst als dem daran anschließenden Hype (beispielhaft z.B. in dem seltsamen pädagogischen Artikel, den “Ponder” oben netterweise verlinkt hat), wer weiß was alles mit den (gegenwärtigen) Befunden der Hirnforschung erklären zu wollen. Vor ein paar Jahren waren es die Gene, jetzt sind es relativ unspezifische Hirnvorgänge.

    “Die meisten Studienteilnehmer in der Neuropsychologie dürften WEIRD sein”

    Vermutlich. In der Psychologie hat man das früher damit gerechtfertigt, dass man ja allgemein menschliche Verhaltensgesetze erforsche. Die müssten sich in der Tat in allen Exemplaren der Species homo sapiens gleichermaßen zeigen, etwas verschleiert durch Störfaktoren, die man eben statistisch bereinigen muss. In den “Störfaktoren” verborgen war dann oft das, was den homo sapiens tatsächlich ausmacht, d.h. die Gedanken der Versuchspersonen. Walter Bungard hat vor 30 Jahren mit Blick auch auf die daraus resultierenden Probleme einmal ein Buch über Artefakte in der experimentellen Sozialpsychologie mit dem schönen Titel “Die ‘gute’ Versuchsperson denkt nicht” herausgegeben.

  42. #42 Trottelreiner
    15. Juli 2013

    @ Joseph Kuhn:

    Ein Fingerabdruck ist auch spezifisch für eine Person, aber ihr Denken kann man nicht daraus ablesen.

    Ja, aber ich wollte eigentlich darauf hinaus, daß ich für eine effiziente Beeinflussung eventuell soweit auf die Besonderheiten des Individuums eingehen müßte, daß die spezielle Manipulation für jedes Individuum anders wäre.

    Und wir durchaus wieder bei der Biographie etc. ankommen würden.

    sehr oberflächlich würde ich deinen Text auf zwei Argumentationsstränge reduzieren:

    1.) Die neurologische Erklärung der psychischen Erlebens blendet die subjektiven Handlungsgründe aus.
    2.) Eine Manipulation ohne daß dem Subjekt das klar wird und er dagegen Widerstand leisten kann ist unethisch.

    Wie schon gesagt denke ich zu 2.), daß dies nicht nur bei Psychopharmaka, transkranialer Stimulation etc. gegeben ist, sondern auch bei den eher “weichen” Methoden der Manipulation, derer sich Verkäufer tag für Tag bedienen.

    Und zu 1.) halte ich es eben durchaus für möglich, daß wir bei genauer Betrachtung des neurologischen Geschehens druchaus wieder bei der spezifischen Biographie ankommen könnten.

    Vor ein paar Jahren waren es die Gene, jetzt sind es relativ unspezifische Hirnvorgänge.

    Naja, daß freier Wille und Wissenschaft orthogonal sind, dürfte langsam immer klarer werden; ich kann durchaus annehmen, das es so etwas wie den freien Willen gibt, ähnlich wie ich durchaus annehmen kann, daß das Universum aufgrund des Willen Gottes entstanden ist. Oder des Fliegenden Spaghettimonsters. Oder ob Kopenhagen oder Viele-Welten in der Quantenmechanik gilt. Die Wissenschaft berührt das nur, wenn ich Vorhersagen mache, ansonsten ist die eben schön deterministisch, egal ob Natur, Geist oder Sozial.

    Und bis jetzt ist mir noch kein Verfechter des Freien Willens untergekommen, der sein gesamtes Geld einem bekannten Betrüger überlassen würde.

  43. #43 Trottelreiner
    15. Juli 2013

    @ threepoints:

    Ähm, zu Ödipus, Freud ist bei einer Kritik der Vernachlässigung des Subjektiven in der Neuropsychologie nicht wirklich zielführend…

    Ansonsten war die These eher, daß in anderen Kulturen Kinder mehr oder weniger in ihre Rolle hineinwachsen, während dieser Übergang in diversem westlichen Kulturen recht plötzlich wäre.

  44. #44 threepoints...
    15. Juli 2013

    @Trottelreiner

    Freuds Ödipus war nicht gemeint. Dem seiner ist zu konkret und Detailverliebt. Quasi zu subjektbezogen.

    Der plötzliche Übergang in der westlichen Kulturen sei dann ja wohl eine Art Kulturtechnik…

  45. #45 Joseph Kuhn
    15. Juli 2013

    @ Trottelreiner:

    Die Punkte 1 und 2 sehen wir wohl recht ähnlich. Die Frage der Willensfreiheit ist noch einmal eine andere Geschichte, das sollte man hier heraushalten.

  46. #46 threepoints...
    15. Juli 2013

    @Trottelreiner

    mein Zitat:

    “Der plötzliche Übergang in der westlichen Kulturen sei dann ja wohl eine Art Kulturtechnik”

    … die der These aus #30 nach eben nicht erwünscht scheint – deswegen so lange wie möglich hinausgezögert wird.

    So ein generalisierter Odipus hat doch auch seine Vorteile – soziologischer Art. Die Liebe zur Frau etwa….(als potenzielle Mutter eben…)

    Wie mir scheint, hat den Ödipus wohl doch keiner so wirklich verstanden, wie er seit der Antike uns vorgespielt wird.

  47. #47 Trottelreiner
    16. Juli 2013

    @ Joseph Kuhn

    ACK.

    Auf die Gefahr eines Off-Topics hin, bei der Willenfreiheit bin ich nicht davon überzeugt, daß es sie nicht gibt (oder gibt).

    Ich wollte durch meinen Kommentar nur ausdrücken, daß Naturwissenschaften dann funktionieren, wenn bestimmte Eigenschaften reproduzierbar zu bestimmten Ergebnissen führen. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften versucht man ebenfalls oft, Bedingungen aufzudecken oder auch nur einen Gedankengang reproduzierbar durchzuführen.

    Das man bei der Anwendung dieser Mittel zu einem biologischen, physikalischen oder sozialen Determinismus gelangt, der für den Freien Willen keinen Platz läßt, sagt nicht wirklich etwas über die Existenz eines Freien Willens aus. Um mal Kant ordentlich durch den Fleishwolf zu drehen.

  48. #48 Joseph Kuhn
    16. Juli 2013

    @ Trottelreiner:

    Nebenan bei Martin Bäker gab es vor ein paar Monaten eine ganz gute Diskussion zum Thema Willensfreiheit.

    Dein Hinweis darauf, dass ein bestimmtes methodisches Vorgehen sozusagen “Determinismus produziert”, wird übrigens in Michael Hampes “Eine kleine Geschichte des Naturgesetzbegriffs” (Frankfurt 2007) schön beschrieben und speziell mit Blick auf entsprechende Implikationen psychologischer Forschungsmethodik ist die Kritik Klaus Holzkamps am “Reiz-Reaktions-Schema” nach wie vor lesenswert.

    Wie man “Willensfreiheit” im Zusammenhang mit den Naturgesetzen zu sehen hat, ist eine offene Frage mit unterschiedlichen Antwortversuchen. Irgendwie muss sich unser Denken im Hirn abspielen und auf Naturvorgänge stützen, andernfalls kommt man zu Geistergeschichten, aber wie und mit welchen Freiheitsgraden auf welcher Ebene, das ist die eigentlich interessante Frage. Bei der Erklärung komplexeren menschlichen Handelns sollte man jedenfalls nicht zu schnell biologische oder soziale Determinanten anführen. In der Vergangenheit hat sich stets gezeigt, dass die jeweiligen “Verhaltensgesetze” eher so etwas wie Verhaltensstereotype waren, die unter bestimmten Bedingungen subjektiv sinnvoll waren, unter anderen Bedingungen nicht und dann auch nicht beobachtet wurden. Aus der Tatsache, dass viele Menschen bei Regen ihren Schirm aufspannen, folgt ja noch kein psychologisches Gesetz, dass Schirmaufspannen durch Regen “verursacht” wird, also ein gesetzesförmiger Zusammenhang vorliegt. Auch dein Hinweis oben auf das WEIRD-Thema passt hierher.

    Aber wie gesagt, damit ist man in der Tat ziemlich weit weg von den oben thematisierten gesundheitspädagogischen Anleihen bei der Hirnforschung.

  49. #49 threepoints...
    16. Juli 2013

    Ich finde nicht, dass man da weit weg sei vom Thema.

    Die “Pädagogik” als solche ja eine Zielsetzung unterstellt werden muß – also einen erwünschten Zustand. Hier eben: was zu tun (und zu lassen sei), wenn man vermeintlich “gesund” sein und bleiben will. Da ist es nach allgemeiner Auffassung schlecht, wenn man etwa Rauschmittel nimmt. Und solange Psychiatrie versucht (und tut) Menschen ihren “verstand” und eben diesen freien und im Sinne der Gesundheit liegendem Willen abzusprechen (keine Krankheitseinsicht, kann seine Lage nicht zusammenfassend beurteilen), solange ist die Frage des “freien” Willens auch hier hochaktuell.

    Und Martin B.´s Artikel zur Willensfreiheit (und Determinismus) hat das Thema leider nicht hinreichend bearbeitet. Er hat, wie tendenziel viele andere, es innerhalb psychologischer Umgebungsvariablen versucht darzustellen.
    Die Psychologie aber hier nichts weiter sei, als eine moderne Art der Erarbeitung gegenwärtiger Konventionen. Was darin enthalten sei, unterscheidet sich nahezu nicht vom Bibelinhalt – in seiner Intention. Psychologie ist die Kulturtechnik, mit der man früher mit der Bibel der Welt einreden wollte, dass der Herrgott im Himmel weile und wache. Heute redete man mit der Psychologie ein, er/sie hätte einen “freien” Willen.
    Sie erwähnten schon, das sowas (Psychologie) kaum eine/keine Gesetzmäßigkeit aufweist – außer menschengemachten Gesetzen. Das sollte durchaus zu Verstimmungen beim Rezipienten führen. Doch da existieren aber tatsächlich noch Gesetzmäßigkeiten auf neurologischer Ebene, die eben dafür sorgen, dass wir das Konstrukt “Psychologie” für konsistent und ausreichend halten und uns damit zufrieden geben.

    Und ich würde doch sagen, dass aus dem Aufspannen eines Schirmes bei Regen ein “psychologisches” Gesetz abgeleitet werden kann. Eben weil Psychologie genau solche Gesetzmäßigkeiten nur behandelt. Das vorrangige Bedingungen das Bewusstsein schon determinieren, ist der Psychologie herzlichst egal.

    Deswegen ist die Neuroforschung auf gewisser Weise aussagefähiger, als alles danach anschließende – welches alles wäre, was das Subjekt als Bewusstseinsinhalt generieren kann. Wir werden aber landläufig nie hinreichende Wahrheit über die determinierenden Funktionen erfahren. Dazu ist das zu brisant und widerspräche generel der modernen Rechtstaatlichkeit – würde eher einer Aristokratie-Herarchie ähneln und somit demokratische Errungenschaften völlig gegenstandslos dastehen lassen.

  50. #50 susanne v.
    Wien
    31. Juli 2013

    Hallo, eine seltsame Diskussion ist das hier. 🙂

    Impfgegner entscheiden meistens nicht ob sie sich selbst impfen lassen sollen. Dabei geht es eher um deren Kinder, über die von ihnen entschieden wird.

    Was genau ist denn der “Wille”?

  51. #51 rolak
    20. August 2013

    Um mit externem Anschub nicht nur auf den post, sondern sogar dessen ersten Absatz zurückzukommen: Brainwashed: Neuroscience and Its Perversions [SBM].

  52. #52 Joseph Kuhn
    21. August 2013

    @ rolak: Danke für den Link. Das Vorher-Nachher-Bild gefällt mir sehr gut. Dazu passt ganz gut die Story von John Lorber: Is your brain really necessary?.

  53. #53 rolak
    21. August 2013

    Vorher-Nachher

    Hatte ich beim ersten Überfliegen als ohne/mit Weichzeichner interpretiert, als Reminiszenz in Richtung David Hamilton.

    Dazu passt

    Eindeutig, Joseph, es wird ja einiges überbewertet.
    Der zweite Artikel auf dem scan hat auch einen ziemlich starken Titel 🙂

  54. #54 Ponder
    30. August 2013

    Nicht Gesundheitspädagogik, aber “Neuropädagogik” und vor allem ihre Wegbereiter nimmt die ZEIT gerade aufs Korn:

    https://www.zeit.de/2013/36/bildung-schulrevolution-bestsellerautoren?mobile=false