Seit Monaten belegt das Buch „Die Kunst des klaren Denkens. 52 Denkfehler, die Sie besser anderen überlassen“ von Rolf Dobelli einen der vorderen Plätze in der SPIEGEL-Bestsellerliste. Zu recht. Dobelli präsentiert in kleinen Häppchen typische Denkfehler, die man aus dem Alltag kennt, aus der Verhaltensökonomie oder aus epidemiologischen Untersuchungen. Unterhaltsam geschrieben und lehrreich. Eine anregende Lektüre. Auch, weil Rolf Dobelli dabei selbst Denkfehler fabriziert.

Auf Seite 111 schreibt er z.B.: „Angenommen, Sie sind Staatschef und wollen das Risiko eines Terroranschlags ausschalten. Sie müssten jedem einzelnen Bürger einen Spitzel zuteilen – und je einen Spitzel für jeden Spitzel. Im Nu wären 90 % der Bevölkerung Überwacher. Wir wissen, dass solche Gesellschaften nicht überlebensfähig sind.“

Das kleinste Staatswesen, das diese Bedingung erfüllt, hat 10 Staatsbürger, also einen Bürger, der überwacht wird, einen Überwacher für ihn, einen Überwacher für den Überwacher, einen weiteren Überwacher für diesen Überwacher usw. – und den Staatschef sozusagen als letzten Überwacher, der nicht mehr überwacht werden muss. Gutwillig interpretiert, gingen auch alle Vielfachen dieser Reihe, also alle größeren 1:9-Verhältnisse, wenn der Staatschef am Ende alle Überwachungsreihen überwacht. Andernfalls gibt es keine weiteren Lösungen, weil sonst jeweils der letzte Überwacher in einer Reihe hinter einem Bürger unüberwacht bleibt. Und wie kommt Dobelli eigentlich auf die 90 %? Ein Rechenergebnis der Überwachungsregel ist es jedenfalls nicht. Klares Denken war hier, wie mir scheint, nicht am Werk.

Noch ein Beispiel, das nicht rechnerisch, sondern inhaltlich interessant ist: Auf S. 89 ff. beschreibt er einen „Liking bias.“ Er meint damit eine Neigung, Menschen, die uns sympathisch oder ähnlich scheinen, eher zu glauben und ihnen z.B. auch eher etwas abzukaufen. Sein Fazit: „Einen Deal sollten Sie immer unabhängig vom Verkäufer beurteilen. Denken Sie sich ihn weg, oder besser: Denken Sie sich ihn als unsympathisch.“ Das ist konsequent gedacht, wenn man unterstellt, die Freundlichkeit des Gegenübers sei immer strategischer Natur, um einen Vorteil gegen uns zu erzielen. Begegnungen dergestalt, dass man sich wirklich sympathisch findet und auf dieser Grundlage z.B. auch eine längere Geschäftsbeziehung aufbaut, sich also vertraut („Kredit gibt“), sind dann ausgeschlossen. Das ist die Situation, die Frank Schirrmacher in seinem Buch „Ego. Das Spiel des Lebens“ beschrieben hat: Jeder sieht jeden nur noch als strategischen Gegenspieler. Julian Nida-Rümelin hat das, in einem sehr lesenswerten Buch, treffend die „Optimierungsfalle“ genannt. Es ist eine Welt ohne Freundschaft und ohne Vertrauen, weil das Misstrauen zur „Kunst des klaren Denkens“ deklariert wurde. Als praktischer Ratschlag beim Gebrauchtwagenkauf ist das sicher hilfreich und so hat es Rolf Dobelli vermutlich auch gemeint, aber als allgemeine Lebensregel scheint mir sein Fazit ein Denkfehler zu sein.

Nachtrag 9.11.2013: Eine Weile lag das Büchlein von Rolf Dobelli in einer Ecke, jetzt habe ich es zuende gelesen. Auf S. 174 ist mir noch ein schöner Denkfehler aufgefallen. Dobelli schildert hier ein Experiment von Kahnemann und Tversky. Würde man Leuten zwei Optionen einer Seuchenbekämpfung anbieten, bei der Option A 200 von 600 Personen rettet und Option B mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/3 alle 600 rettet und mit einer Wahrscheinlichkeit von 2/3 niemand rettet, so würden die meisten Leute Option A wählen. Das mag sein. Aber stimmt die Erläuterung von Dobelli, das sei ein Denkfehler, denn die Optionen seien gleichwertig? Ginge es um ein langfristiges Spiel mit vielen Wiederholungen, hätte er (mehr oder weniger) recht: Der statistische Erwartungswert von Option B ist 200 (1/3 mal 600 plus 2/3 mal 0). Aber bei Option A sind, so wie er die Sache beschreibt, 200 gerettete Menschen sicher. Bei Option kann die Sache auch so ausgehen, dass keiner gerettet wird, und die Wahrscheinlichkeit dafür ist 2/3. Bei nur einem Durchgang ist das nicht gleichwertig. Es wäre interessant, wie im Original Kahnemann und Tversky das Experiment beschrieben haben.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (9)

  1. #1 Dr. Webbaer
    11. August 2013

    Dobelli ist dem Schreiber dieser Zeilen bereits mehrfach unangenehm aufgefallen, schön, dass sein Output mal seziert wird.

    So wie Dobelli hier eingeschätzt wird, müsste er eine zuverlässige Quelle für Klöpse sein, also gerne mal weiterbohren. Ist auch unterhaltsam.

  2. #3 Ulrich Berger
    12. August 2013

    „Angenommen, Sie sind Staatschef und wollen das Risiko eines Terroranschlags ausschalten. Sie müssten jedem einzelnen Bürger einen Spitzel zuteilen – und je einen Spitzel für jeden Spitzel. Im Nu wären 90 % der Bevölkerung Überwacher.“

    Ganz klar, wie das geht: 90% der Bürger werden als Spitzel designiert. Jeder Spitzel muss einen der anderen Spitzel überwachen. Ein Neuntel der Spitzel bekommt die Sonderaufgabe, zusätzlich je einen Nichtspitzel zu überwachen.

    Damit sind alle Angaben erfüllt. (Es ist ja nirgends spezifiziert, dass jeder Spitzel nur einen Bürger überwachen darf oder kann.)

  3. #4 Joseph Kuhn
    13. August 2013

    @ Ulrich: Ja, das wäre eine Verallgemeinerung der multiplen Überwachungsfunktion, die bei Staatswesen größer als 10 mindestens einer erfüllen muss (in meinem Beispiel der Staatschef), damit es überhaupt geht. Mit Deiner Lesart der Aufgabe gäbe es dafür mehr Lösungen. Eine Idee, wie er auf die 90 % kam, hast Du aber vermutlich auch nicht? Das soll bestimmt nur “sehr viel” heißen?

  4. #5 Ulrich Berger
    13. August 2013

    Glaub ich auch. “90%” ist ein Synonym geworden für “fast alle”.

  5. #6 Dr. Webbaer
    13. August 2013

    Der “Robelli” lauert überall.

  6. #7 Dr. Webbaer
    18. September 2013
  7. #8 Martin p
    11. Dezember 2013

    Ich habe das Buch gekauft ohne Rezensionen zu lesen. Nach den ersten drei Kapiteln habe ich es in den Papierkorb geworfen.

    • #9 Joseph Kuhn
      11. Dezember 2013

      Und warum?