Wo leben die Menschen am längsten: in Baden-Württemberg, Hessen und Bayern. Wo leben die meisten ganz Alten: in Berlin. Und in Bayern leben die wenigsten ganz Alten. Da stutzt man erst einmal. Immerhin: Jopi Heesters, der Inbegriff der Langlebigkeit, hat im bayerischen Starnberg gelebt.
Vor kurzem wurde eine Studie des Max Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock veröffentlicht, die der Frage nachging, wo die meisten Menschen leben, die 105 Jahre und älter sind. Etwa 1.300 soll es in Deutschland geben – und von den jüngeren, die 100 Jahre und älter sind, sogar ca. 14.000. Es gehört zu den Aufgaben des Bundespräsidenten, diesen Überlebenskünstlern zu gratulieren. 2013 hat er dies bei 6.985 Altersjubilaren im Alter 100 und mehr getan. Ob der Bundespräsident einen Teil der Leute vergessen hat? Oder die Rostocker Demografen ein paar (Kartei-)Leichen im Keller haben? Ich weiß es nicht.
Wie dem auch sei. Viel interessanter ist, warum die Lebenserwartung in Bayern zwar mit die höchste in Deutschland ist, aber hier nur so wenige von den ganz alten Menschen leben.
Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass die Lebenserwartung, wie sie das Statistische Bundesamt regelmäßig veröffentlicht, anhand einer „Periodensterbetafel“ berechnet wird. Ausgangspunkt dabei sind die empirischen Sterbeziffern eines Drei-Jahres-Zeitraums. Man fasst drei Jahre zusammen, damit die Daten etwas stabiler sind. Für die meisten Bundesländer liegt eine Berechnung der Lebenserwartung für die Jahre 2009-2011 vor, die letzte vollständige Tabelle mit allen Bundesländern gibt es für den Zeitraum 2008-2010. Die so berechnete Lebenserwartung spiegelt die Sterbewahrscheinlichkeiten im Querschnitt aller in diesem Zeitraum Gestorbenen wider, der Kinder wie der Greise. Die regionalen Unterschiede der Lebenserwartung folgen dabei dem „sozialepidemiologischen Grundgesetz“: Je besser die soziale Lage, desto niedriger die Sterblichkeit bzw. desto höher die Lebenserwartung. Daher die überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung in Bayern.
Die Rostocker Daten zeigen etwas anderes: Hier wurde geschaut, wie viele Menschen es gibt, die 105 und mehr Jahre alt sind – bezogen auf die vor 105 Jahren Geborenen. Man hat also den überlebenden Teil einer Geburtskohorte betrachtet. Dabei kommen wohl neben der aktuellen sozialen Lage stärker auch andere Einflussfaktoren auf das Überleben zum Tragen.
Einer dieser Faktoren ist die Genetik. Hochaltrigkeit ist ein Stück weit Erbsache. Ein anderer wichtiger Faktor ist eine gute medizinische Versorgung. Sie trägt gerade im höheren Alter viel dazu bei, dem Tod noch einmal ein Schnippchen zu schlagen, etwa wenn Herzinfarkte gut versorgt werden. Aber vermutlich spielen auch die sozialen Umstände in der Zeit, in der die Hochaltrigen aufgewachsen sind und die gesundheitlich für sie prägend waren, eine Rolle. Vor 100 Jahren war das erste Lebensjahr lebensgefährlich und die Säuglingssterblichkeit war vor allem in armen Regionen sehr hoch. Bayern war bis in die 1960er Jahre ein Agrarstaat. Regionen, die heute sehr wohlhabend sind, waren früher arm. Die Region um Ingolstadt beispielsweise hatte vor 100 Jahren die höchste Sterblichkeit in Deutschland, heute ist das ganz anders. Aber damals hatten die Leute in Bayern besonders schlechte Aussichten, 100 Jahre alt zu werden. Die folgende Karte zeigt die Sterberaten in Deutschland im Durchschnitt der Jahre 1989-1902 und je röter die Färbung, desto höher die Sterblichkeit.
Die Rostocker Demografen haben zudem herausgefunden, dass „Sesshaftigkeit“ die Langlebigkeit fördert, d.h. wer da geblieben ist, wo er geboren wurde, scheint eine größere Chance gehabt zu haben, außergewöhnlich alt zu werden. Die Sesshaftigkeit kann ein eigenständiger Einflussfaktor auf die Langlebigkeit sein: Weniger Stress durch Beständigkeit, eine vertraute Wohnumgebung und langjährige Nachbarschaftsverhältnisse – das wäre plausibel. Möglicherweise kommen dabei aber doch auch wieder die sozialen Lebensumstände ins Spiel: Es könnte sein, dass sozial Bessergestellte eher sesshaft bleiben konnten, weil sie z.B. nicht auf der Suche nach Arbeit oder aus anderen Gründen umziehen mussten.
Eine hochinteressante Studie mit einem Befund, der weitere Forschung lohnt. Dabei sollte man dann auch die verschiedenen Gruppen der früher Gestorbenen genauer unter die Lupe nehmen, weil der Blick allein auf die Überlebenden durch allerlei Verzerrungsmöglichkeiten der Datenlage getrübt sein kann.
Unberücksichtigt blieb in der Analyse der Rostocker außerdem das Thema „Ewig Leben“, aber das ist vielleicht auch eine andere Geschichte.
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