Anfang des Jahres ist Ulrich Beck gestorben. Er hat in der deutschen Soziologie frühzeitig durchbuchstabiert, was die „Individualisierung“ der Gesellschaft bedeutet – Individualisierung verstanden als Freisetzung individueller Lebensführung aus traditionalen Selbstverständlichkeiten und Normen. Eine der Folgen ist, dass die Freiheit vom Zwang zum Zwang der Freiheit wird: man muss selbst entscheiden, wohin die Reise gehen soll. Damit ist Freiheit in einem idealistischen Sinne verbunden, eine Wahrung der Menschenwürde gegenüber kollektivistischen Zumutungen. Und damit ist auch die Möglichkeit verbunden, Lebenssituationen marktförmig zu gestalten: Informiere dich, welche Optionen du hast und entscheide dich, was für dich das Beste ist, bei Knappheit in Konkurrenz zu Dritten. Die neoliberale Ideologie hat Letzteres seit den 1980er Jahren zur neuen Selbstverständlichkeit erhoben. Dummerweise führt das auch in Fragen des Alltagslebens zu einer Art Marktversagen. Die Leute wollen nicht, was sie sollen. Man kennt das seit langem in der Arbeitspsychologie, dort hat diese Situation zur Entwicklung zahlreicher Motivationstheorien geführt, alle mit dem Ziel, den Eigensinn der Menschen mit dem, was im Unternehmensinteresse gemacht werden soll, zur Deckung zu bringen, Pflicht und Neigung zu versöhnen, mit Kant gesprochen.

Wenn gesellschaftliche Vermittlungsprozesse übersprungen werden, etwa durch unangebrachte Deregulierungen oder durch die Verkümmerung demokratischer Willensbildung, können sich das von oben Gesollte und das von unten Gewollte ziemlich verständnislos gegenüberstehen. Dann protestieren beispielsweise objektiv oder subjektiv prekarisierte Wutbürger gegen die „Islamisierung des Abendlandes“, es verweigern halbseitig aufgeklärte Bildungsbürger die Masernimpfung, trotzen Genuss- und Suchtbürger den gutgemeinten Hinweisen, dass Rauchen die Gesundheit gefährdet oder, wir haben es gerade gehabt, wollen die Zugführer einfach nicht fahren – so was, so hatten wir uns doch die Privatisierung der Deutschen Bahn und das Ende des streitabstinenten Beamtentums bei der Eisenbahn nicht vorgestellt. Die Reaktion auf solche Phänomene sind Moralisierungs- und Diskriminierungskampagnen, und wenn das nicht hilft, mehr oder weniger harte Nachhilfemaßnahmen: die Drohung mit der Impfpflicht, das Rauchverbot in der Gastronomie, das Tarifeinheitsgesetz. Man könnte sagen, der Neoliberalismus hat ein ungeklärtes Verhältnis zur Gewalt, nicht ganz zufällig war die Galionsfigur des britischen Neoliberalismus eine „eiserne Lady“.

Auf leisen Pfoten kommt dagegen ein alter Trend in neuer Terminologie daher, die Verführung. Die Verhaltensökonomie spricht von „Nudges“, sanften Schubsen, die man uns geben will, damit wir ganz von allein in die richtige Richtung gehen. Der Ansatz ist durch das Buch „Nudge – Wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Richard Thaler und Cass Sunstein bekannt geworden. Das Vorzeigeprojekt dieses Ansatzes sind die Fliegen in den Urinalen des Amsterdamer Flughafens Schiphol. Angeblich pinkeln seitdem die Männer nicht mehr so oft daneben, weil sie auf die Fliege zielen. Nach diesem Vorbild gesellschaftliche Prozesse zu organisieren, mag man als Pissoirsoziologie ansehen, oder als „Libertären Paternalismus“, so nennen es Thaler und Sunstein. Sie legen Wert darauf, dass es ihnen nicht um die Manipulation von Entscheidungen geht. Im Gegenteil, sie wollen durch richtig gesetzte Anreize eben jene Entscheidungen begünstigen, die den Menschen gut tun. Es geht ihnen darum, dass die Eigenverantwortung besser funktioniert, also Pflicht und Neigung leichter zusammenfinden. Die Umgehung der so zur gefälligen Befolgung angebotenen Normen soll ausdrücklich leicht möglich bleiben, es soll kein Zwang ausgeübt werden. Thaler und Sunstein präsentieren in ihrem Buch auch einige Beispiele aus dem Gesundheitsbereich. Beispielsweise soll die Zahl der Organspenden gesteigert werden, indem man statt einer Zustimmungsregelung – man muss der Organentnahme zustimmen – eine Widerspruchsregelung – man muss der Organentnahme widersprechen, wenn man sie nicht will – macht. Auf diese Weise wird die Bequemlichkeit der Menschen für das Gemeinwohl genutzt, wer nicht will, kann ja widersprechen. Oder Teenager in sozialen Brennpunkten bekommen einen Dollar pro Tag, solange sie nicht schwanger werden. Teenagerschwangerschaften sind gesellschaftlich teuer und werfen viele der jungen Frauen beruflich endgültig aus der Bahn – ein Geschäft zum beiderseitigen Vorteil also, auf der Basis einer freien Entscheidung? Noch ein Beispiel: Krankenkassen sollen Bonusprogramme auflegen für Versicherte, die gesund leben, also nicht rauchen, sich viel bewegen, sich nach welchen auch immer als gesund geltenden Normen ernähren. Hier werden die Nudges anschlussfähig zu den BIG DATA-Projekten auf der Basis von Wearables und Self-Tracking-Systemen. Das hat in Deutschland längst Einzug gehalten, die Generali-App ist ein prominentes Beispiel.

In der Ottawa-Charta der Weltgesundheitsorganisation, sozusagen den 10 Geboten der Gesundheitsförderung, findet sich der Satz „The aim must be to make the healthier choice the easier choice” – ganz im Sinne der Nudges. Anzumerken ist allerdings, dass es dabei um die „policy makers” ging. In der Ottawa-Charta findet sich außerdem der Ansatz des „Empowerments“, der gemeinschaftlichen Anstrengung, mehr Selbstbestimmung über die eigene Gesundheit zu gewinnen: „This includes a secure foundation in a supportive environment, access to information, life skills and opportunities for making healthy choices. People cannot achieve their fullest health potential unless they are able to take control of those things which determine their health”. Passt das wirklich bruchlos zum verhaltensökonomischen Ansatz, der Menschen dahin bringen will, freiwillig zu tun, was andere für richtig halten?

Mir scheint, wie jede Intervention sind auch die Nudges nicht nebenwirkungsfrei, schon gar nicht in Verbindung mit Selbstüberwachungstechnologien. Sie verändern Verhalten, aber ob sie es immer im Sinne kluger Entscheidungen, unserer klugen Entscheidungen tun? Wann helfen sie uns, uns nicht selbst im Weg zu stehen, wann unterstützen sie die Selbstbestimmung der Menschen? Und wann konfektionieren sie das Verhalten nur normgerecht, wann machen sie unser Verhalten abhängig von extern gesetzten Impulsen oder Belohnungen aus einer zielgerichteten Gamifizierungsumgebung? Sozialtechnologisch unspürbar gemachte Fremdbestimmung ist noch keine Selbstbestimmung, aber wo verläuft im Einzelfall die Grenze? Die Diskussion ist in den Gesundheitswissenschaften noch zu führen.

Kommentare (21)

  1. #1 Sascha
    24. Mai 2015

    Mentalisten verwenden auch “Nudges”, um ihre “Opfer” zu manipulieren.

  2. #2 rolak
    24. Mai 2015

    manipulieren

    Die Existenz von Norbert Poehlke ändert keineswegs die Bewertung der Werke Ueckers, Sascha.

    • #3 Joseph Kuhn
      24. Mai 2015

      So verkehrt ist der Hinweis von “Sascha” auf die Mentalisten nicht. Sie nutzen auch Routinen der Wahrnehmung bzw. des Denkens für ihre Tricks, im Grunde geht es bei den Nudges um Ähnliches, auch sie stützen sich ganz wesentlich auf psychologische Experimente, vor allem zu Entscheidungsheuristiken. Bei der Gelegenheit fällt mir wieder ein gutes Buch ein: Macknik/Martinez-Conde/Blakeslee: Hirnforschung und Zauberei. Herder 2014. Schöne Beispiele, wie Zauberkünstler die Eigenheiten neuronaler Prozesse nutzen.

      Bei den Nudges ist die Frage – jenseits dessen, ob hier nicht nur alter Wein in neue Schläuche gefüllt wurde – wo die Grenze zwischen Unterstützung und Manipulation verläuft. Eine Frage, sie sich analog übrigens auf anderen Ebenen der “Betreuung” auch stellt: Inwiefern ist Sozialarbeit Unterstützung, inwiefern Kontrolle, inwiefern ist Psychotherapie Heilkunst, inwiefern Anpassung ….

    • #4 rolak
      24. Mai 2015

      Selbstverständlich ist die Aussage Saschas nicht prinzipiell falsch, Joseph, nur ist sie mir in ihrer kontextlosen Hingerotztheit deutlich zu negativTendenziell.
      Genausowenig wie der NeoLiberalismus durch einen geschickten Ansatz in der Lenkung zum Vernünftigeren urplötzlich prinzipiell gut wird, wird Nudging durch eine böswillige Anwendung prinzipiell negativ.

      Ganz allgemein: Der Titel des threads ist imho falsch, geht es beim Nudging doch nicht um ein ‘statt Peitsche’, sondern nur um die Wahl des erstanzuwendenden, des offen beleuchteten Aspektes. Statt ‘mach was Du willst, doch bei Regelverstoß gibts auf die Finger’ heißt es jetzt ‘hältst Du Dich an die Regel, unterstützen wir Dich, falls nicht – mußte sehn wo Du bleibst’. Das klingt nur anders, wirkt psychologisch anders, ist aber letztlich dasselbe: Die sich an die Regeln haltenden haben im Mittel einen Vorteil gegenüber den RegelVerstößlern.
      Letztlich sind halt weder der ‘individuell!‘- noch der ‘staatlich!‘-Regulator noch alle dazwischen so blöde, daß sie nicht wüßten, daß Zuckerbrot und Peitsche am besten funktioniert, es geht nur um die Vermarktung. Nudging klingt halt besser, freundlicher als PräventivBestrafung.

      • #5 Joseph Kuhn
        24. Mai 2015

        Dem Nudges-Ansatz von Thaler/Sunstein wird man mit der Charakterisierung “Zuckerbrot und Peitsche” nicht gerecht. Sie lehnen zwar Gebote und Verbote nicht prinzipiell ab, aber: “Nichtlibertäre Paternalisten würden vielleicht noch weitergehen und gerade in den Bereichen Gesundheitsvorsorge und Verbraucherschutz zusätzliche Maßnahmen verlangen. Viele ihrer Argumente sind durchaus erwägenswert, doch in der Regel weigern wir uns, mehr als libertären Paternalismus zuzulassen.” Ihnen geht es tatsächlich darum, sanft zum Richtigen hinzuführen. Vorausgesetzt wird dabei, a) dass klar sei, was das “Richtige” ist, b) dass es für alle das Richtige ist, c) dass es auch im wohlüberlegten Eigeninteresse der sanft Geführten das Richtige ist – und d) dass wir bis weit in unser Alltagshandeln hinein eine solche fürsorgliche Begleitung brauchen. Die Fliege im Urinal und das Nudging bei der Ernährung, bei unserem Bewegungsverhalten oder unserer Bereitschaft, zur Wahl zu gehen, sind aber vielleicht doch nicht dasselbe. Einerseits.

        Andererseits: Wer meint, gerade in der Gesundheitsvorsorge oder im Verbraucherschutz mit Nudges auszukommen, unterstellt, dass hier die Verantwortung für das, was geschieht, primär beim Einzelnen liegt. Würde sich der Einzelne nur richtig verhalten, bzw. würden sich die vielen Einzelnen richtig verhalten, wäre alles gut. Das ist bestenfalls naiv zu nennen und bürdet dem Individuum eine Verantwortung auf, die es in vielen Bereichen nicht tragen kann. Im Arbeitsschutzrecht wird beispielsweise zurecht darauf orientiert, Gesundheitsgefahren an der Quelle zu bekämpfen, etwa weniger giftige Stoffe in der Produktion zu verwenden oder die Prozesse mit giftigen Stoffen zu verkapseln statt die Beschäftigten nur zum vorsichtigen Umgang damit anzuhalten. Auch von dieser Seite aus stellt sich also die Frage danach, wie weit man mit Nudges kommt, in welchen Fällen sie sinnvoll sind, in welchen nicht und in wessen Interesse sie jeweils funktionieren.

        Nachtrag 28.5.2015: In diesem Punkt muss ich mich in Bezug auf Thaler/Sunstein korrigieren, beim Querlesen hatte ich nicht gesehen, dass Thaler/Sunstein im Bereich Arbeits- und Gesundheitsschutz weitergehende Vorschriften selbst als gerechtfertigt betrachten – einen Absatz vor der oben zitierten Passage zur Gesundheitsvorsorge und zum Verbraucherschutz. Die Gründe für die unterschiedliche Behandlung dieser Bereiche werden nicht näher erläutert, vermutlich geht es in eine ähnliche Richtung wie hier im zweiten Absatz argumentiert wurde. Es wäre wohl wirklich hilfreich, wie am Ende des Blogbeitrags schon angesprochen, typische gesellschaftliche Problemkonstellationen einmal danach zu klassifizieren, ob sie “nudging-geeignet” sind, was dabei die Nebenwirkungen wären und in welchen Fällen eher andere Lösungen, z.B. Gesetze als Entscheidungsvorschriften oder Strategien wie das Empowerment zielführender sind.

      • #6 rolak
        24. Mai 2015

        Ihnen geht es tatsächlich darum, sanft zum Richtigen hinzuführen

        Das wollte ich auch keinesfalls anzweifeln, Joseph, die Idee an sich ist ja auch nicht schlecht – wenn auch ebenfalls nicht besonders neu. Wohlverhalten versüßen gibts schon länger, zB Steuerbefreiung für ElektroAutos, ist halt nicht so ein auffallendes Geschehen wie ein plakatiertes Gebot. Peitsche und drakonisch angeordnete Verbote sind ebenfalls deutlich sichtbarer als zB eine selbst zu organisierende Gesundheitsvorsorge, deren Fehlen sich im Falle des DochSchwangerwerdens beim oben erwähnten 1$-Modell doppelt bemerkbar macht.

        Und wegen der von Dir im zweiten Absatz zurecht mahnend erwähnten DurchschnittsBlödheit fände ich eine Kombination von allgemeiner Krankenversicherung mit diesem Möhren vor die Nase hängen erstrebenswert – also in etwa so, wie die den Gurus fast ganz überlassene die sprechende Medizin von den echten Medizinern wieder zurückerobert werden sollte.

        • #7 Joseph Kuhn
          24. Mai 2015

          “die Idee an sich ist ja auch nicht schlecht”

          … und das ist zugleich das Problem. Die Geschichte mit den Nudges kommt so sympathisch rüber, dass man ihre Schattenseiten leicht übersieht. Keine der von mir in Kommentar #5 genannten vier Voraussetzungen kann so ohne Weiteres als gegeben betrachtet werden. Die Nudges scheinen individuelle Freiheit nicht unzumutbar stark einzuschränken – und gehen doch von einem ziemlich konformistischen Menschenbild aus: one fits all. Klar soll keiner danebenpinkeln, aber sollen alle täglich dazu verführt werden, ihre Kalorien zu zählen? Und als unmündig sieht man die Menschen auch, oder muss einem beim Pinkeln wirklich jemand sozusagen über die Schultern schauen, sprich, qua Fliege im Urinal zu signalisieren, ohne das geht’s daneben, hier und auch sonst im Leben? Insofern war das mit der Pissoirsoziologie ganz ernst gemeint. Die Neoliberalen klagen ja immer darüber, wir hätten einen Nanny-State und die Sache mit den Nudges könnte, bei einem Zuviel des Guten, in diese Richtung gehen. Mir scheint allerdings, das ist zumindest teilweise auch die Wiederkehr des Verdrängten, eben der Überforderung der Eigenverantwortung. Und hierher passt dann auch Deine Kritik mit Zuckerbrot und Peitsche, die Drohung mit Zwang gibt es beim Versagen der Eigenverantwortung ja auch, Beispiele siehe oben im Blogbeitrag. Einerseits. Andererseits: Ist die Geschichte mit dem Urinal nicht überzeugend? Sollte man nicht doch …

        • #8 rolak
          24. Mai 2015

          Sollte man nicht doch…

          Es ist halt ein Kreuz, Joseph, alle stark wirkenden Effekte können auch negativ genutzt werden – bei dem tatsächlich sehr gut funktionierenden Fliegentrick¹ fällt mir jetzt auf die Schnelle keine downside ein, doch um ein neues Beispiel aus einer ganz anderen Ecke zu bringen: FoldIt zeigt ja Erfolge mit einer Variante des uralten HighScore-Prinzips, doch es bleibt auch immer das Risiko des Anfixens einer Spielsucht. Ganz zu schweigen von dem Ausnutzen des Prinzips zB zur KundenBindung im ‘normalen’ Marketing.

          _____
          ¹ was bei den sehr seltenen ‘Gelegenheiten’ eher zu einem konzentrierten ‘woanders’ führt, in diesem Falle ist leicht daneben eben nicht vorbei 😉

  3. #9 Sascha
    25. Mai 2015

    @rolak
    Mein Kommentar sollte keineswegs negativ sein. Deshalb ja auch das Opfer in Anführungszeichen. Es sollte nur der Hinweis sein, dass dieses subtile, unbewusste Lenken von Menschen auch in anderen Bereichen angewendet wird.
    Und die Bewertung, ob das “Nudging” nun positiv oder negativ ist, liegt wie immer im Auge des Betrachters.
    Mentalisten, die das als Show machen, werden mit Beifall bedacht. Kriminelle, die das zum Betrügen nutzen, nicht.
    Die Methode ist einfach nur das, eine Methode. Das Ergebnis ihrer Anwendung kann meist erst im Nachhinein beurteilt werden und hinterher weiß man es ja eh besser. Aber es sollten die Alarmglocken klingeln, wenn nur “gute” Beispiele aufgeführt werden.

  4. #10 Joseph Kuhn
    25. Mai 2015

    @ rolak, @ Sascha:

    “alle stark wirkenden Effekte”

    “dieses subtile, unbewusste Lenken von Menschen”

    Um auch an diesem Aspekt etwas weiterzuhäkeln: In Kommentar #5 hatte ich u.a. gefragt, ob die Nudges im “wohlüberlegten Eigeninteresse” der sanft Geführten funktionieren. “Wohlüberlegt” und “unbewusst” schließen sich erst mal aus. Thaler/Sunstein unterscheiden bei unserer Entscheidungsfindung ein “automatisches” und ein “reflektierendes” System. Das ist zwar grob, aber nicht falsch. In unserem Alltagshandeln müssen wir oft unbewusst funktionieren, wir können nicht alles gründlich überdenken, sonst geht es uns wie dem Tausendfüßler, der über seine Schritte nachdenkt und nicht mehr laufen kann.

    Nudging setzt nun vor allem darauf, Entscheidungen des automatischen Systems, die als ungünstig gelten, zu korrigieren. Es geht dabei aber nicht unbedingt darum, hier das reflektierende System ins Spiel zu bringen, sondern, wenn es reicht, auch einfach nur das automatische System umzulenken. Auch hier wiederum: Beim Urinal ist die Hauptsache, dass es nicht daneben geht, egal warum. Aber ist das auch egal, wenn es um die Wahlbeteiligung geht? Reicht es, einen Reiz zu setzen, der als Reaktion die Wahlbereitschaft erhöht, z.B. die Nachricht, dass schon ganz viele aus der eigenen Peer Group gewählt haben, oder sollte man hier nicht doch anstreben, dass die Bürger überlegen, worum es geht, was Wählen in einer Demokratie bedeutet und was gerade zur Wahl steht. Vielleicht ist Nichtwählen im konkreten Fall eine gut begründbare Option. Thaler/Sunstein würden darauf antworten, kein Problem, ein Nudge sei ja keine Wahlpflicht, man könne sich leicht anders entscheiden. Aber warum man sich so oder so entscheiden könnte, die bewusste Entscheidung, ist ihnen eigentlich egal. Es geht ihnen allein um die Wirksamkeit der Nudges.

    Das erinnert ein wenig an das Black Box-Denken in der evidenzbasierten Medizin. Hier wird im Idealfall in einem RCT, also einem experimentellen Design, verglichen, welches Behandlungsverfahren am besten wirkt. Warum es wirkt, ist zunächst egal, Hauptsache es wirkt. Das schließt weitergehende Forschung zur kausalen Aufklärung von Wirkungsmechanismen nicht aus, aber diese werden für den Wirkungsnachweis erst einmal nicht benötigt. Dieses Modell sollte man aber nicht auf jede Form menschlichens Handelns übertragen, weil hier manchmal die Gründe dafür, warum man etwas tut, ganz wesentlich sind. Wobei man wieder bei der Frage wäre, ob Nudges immer im wohlüberlegten (auch kritisch aufgeklärten) Eigeninteresse der sanft Geführten sind.

  5. #11 Dr. Webbaer
    25. Mai 2015

    “Nudging” ist nichts Neues, so ist bspw. die Hervorstellung von Ware in Griffnähe, vs. Bückware, im Einzelhandel nichts anderes als Käufer-Manipulation, ähnlich verhält es sich mit den Waren in der Nähe der Kasse.

    Es gibt hierzu auch wirtschaftswissenschaftliche Texte, die hervorgeholt werden könnten.

    Entscheidend manipuliert werden können so weder Käufer, noch Wähler, noch “Wahlvieh” (nach der Wahl), es bleibt aber möglich so Pluspunkte zu sammeln und die Menge zu lenken, was wichtig ist, wenn die Machtbasis, beispielsweise in Systemen mit Verhältniswahlrecht oder bei harter Konkurrenz im Mehrheitswahlrecht, nicht sicher ist, für die Herrschenden.

    So richtig schön ist es nicht derart vorzugehen, insofern ist hier, also in der BRD, Gegenrede gegen “Merkel-Nudge” sicherlich nicht verkehrt. [1]

    MFG
    Dr. W

    [1]
    Die Dame scheint ja ein hochgradig populistisches Politikverständnis zu haben.

  6. #12 rolak
    6. August 2015

    Zuckerbrot und Peitsche
    (Eigenzitat)

    Analog zu Bekanntem, nur noch deutlich intimer: Beiß nicht gleich in jeden Apfel¹

  7. #13 rolak
    15. Oktober 2015

    Soeben (~74:0) kam eine heiße Eindeutschung von “need to be nudged in certain directions”: Manchmal muß man die Menschen einfach zu ihrem Glück zwingen.

  8. […] Über das Stichwort „Nudging“ und die damit einhergehenden paternalistischen Aspekte hatten wir hier schon diskutiert, da stellt sich diese Frage ganz ähnlich. Macht Nudging es den Leuten nur einfacher, das zu tun, […]

  9. #15 Name auf Verlangen entfernt
    20. November 2015

    “policy makers” sind das eigentliche Problem – nicht? Brillanter Post sonst – guter Einblick, in das, was läuft – bis auf den Impfquatsch: Gegnerschaft hat hier rationale Gründe, die Abwägung verdienen.

    • #16 Joseph Kuhn
      21. November 2015

      “Impfquatsch … Abwägung”

      Zwei Worte, die Lücke dazwischen markiert ein Loch in der Logik.

  10. […] zwei Jahren hatten wir hier unter der Überschrift„Nudging: Zuckerbrot statt Peitsche“ über das Buch „Nudge – wie man kluge Entscheidungen anstößt“ von Richard Thaler und Cass […]

  11. #18 rolak
    24. Juli 2021

    Mußte erst noch den Klappspaten suchen, um diesen alten thread auszugraben: Scobel: ‘Wie uns die Politik manipuliert: Nudging’.

  12. […] würden das vielleicht so lesen, dass Aiwangers Entscheidungskalkül noch etwas Nudging benötigt. Armin Falk, ein Verhaltensökonom, hat gestern im Tagesspiegel Aiwangers Haltung als […]

  13. […] der Verhaltenswissenschaften effektiv in der Praxis steuern“. Es geht einmal mehr um den Nudging-Ansatz. Natürlich betonen Autor und Autorin, dass man eine Entscheidung gegen das Gesollte nicht unnötig […]

  14. #21 hwied
    4. Oktober 2021

    Hier ist der Zustand unserer Gesellschaft beschrieben:
    “Wenn gesellschaftliche Vermittlungsprozesse übersprungen werden, etwa durch unangebrachte Deregulierungen oder durch die Verkümmerung demokratischer Willensbildung, können sich das von oben Gesollte und das von unten Gewollte ziemlich verständnislos gegenüberstehen.”
    Die Aushöhlung des Arbeitsrechtes, die Ich-AG, Verbot der Mieten-Deckelung durch Gerichte auf der einen Seite
    Die Scheu grundsätzliche Probleme anzugehen und zu entscheiden, und stattdessen lieber eine Große Koalition schließt und die Probleme verwaltet, auf der anderen Seite.
    Man kann nur hoffen, dass die neue Regierung endlich mal Flagge zeigt.
    Nudging in der Rentnerrepublik, bei den Rentnerinnen kann man es ja probieren.