In der Süddeutschen Zeitung waren heute zwei interessante Beiträge zu Themen, die uns hier auf Scienceblogs auch immer wieder beschäftigen:

Der erste Beitrag behandelt ein Thema aus dem weiten Feld der Gender Studies, nämlich eine aktuelle Studie von Pansu et al. im Journal of Experimental Social Psychology: „A burden for the boys: Evidence of stereotype threat in boys’ reading performance“. Dabei geht es um den Einfluss von Geschlechterstereotypen auf die Lesefähigkeit. Weil Mädchen in vielen Ländern und Kulturen besser lesen als Jungen, wird das oft als biologisch bedingt interpretiert.

Die Studie von Pansu et al. hat nun Lesefähigkeiten von Mädchen und Jungen in einem klugen Design verglichen: Einmal wurde den Kindern gesagt, es sei eine echte Prüfung, einmal wurde ihnen gesagt, es sei eine Spielsituation. Die Jungen schnitten in der Spielsituation genauso gut ab wie die Mädchen, in der Prüfungssituation aber deutlich schlechter. Hier komme, so die Studie, eine „Bedrohung durch Stereotype“ zur Geltung, wie sie umgekehrt bei Mathematikaufgaben die Leistungen von Mädchen beeinträchtige. Leider befindet sich der Artikel wie so oft hinter einer Paywall, nur das nicht sehr aussagekräftige abstract ist frei zugänglich. Wie belastbar die Studie ist, muss daher hier erst mal offenbleiben.

Der zweite Beitrag greift die Studie einer dänischen Forschergruppe im JAMA auf, in der es um den Zusammenhang zwischen dem Body Mass Index (BMI) und der Sterblichkeit geht. Bei Erwachsenen gilt nach den Richtwerten der Weltgesundheitsorganisation als übergewichtig, wer einen BMI von 25 und mehr hat, als adipös, wer einen BMI von 30 und mehr hat. Adipositas ist mit vielfältigen gesundheitlichen Folgen verbunden, auch die Sterblichkeit nimmt bei sehr hohen BMI-Werten zu. Allerdings ist bereits seit Jahren aus amerikanischen Studien bekannt, dass Menschen mit leichtem Übergewicht am längsten leben, z.B. weil sie „Reserven“ bei schweren Erkrankungen haben. Ein BMI von 27 ist da ganz optimal.

Afzal et al. berichten nun anhand großer Kohorten, dass sich dieses Optimum in den letzten 40 Jahren um 3,3 BMI-Punkte nach oben verschoben hat. In den 1970e Jahren lag der BMI-Wert, der mit der niedrigsten Sterblichkeit verbunden war, bei 23,7. Die Eckdaten sind über das abstract ihrer „Change in Body Mass Index Associated With Lowest Mortality in Denmark, 1976-2013“ Studie nachlesbar. Zum einen ist interessant, dass es sich hier um europäische Daten handelt und man nicht darüber nachdenken muss, ob die Ergebnisse der amerikanischen Studien vielleicht nur auf fitnessverrückte moppelige Amerikaner zutreffen, zum anderen, dass die Verbindung zwischen BMI und Sterblichkeit über die Zeit nicht stabil zu sein scheint. Möglicherweise spielen bessere Vorsorgeangebote und ein insgesamt gesünderer Lebensstil dabei eine Rolle. Wie auch immer: Vor Überraschungen ist man auch bei vergleichsweise gut untersuchten Sachverhalten nicht sicher. Das wird bestimmt nicht die letzte Studie zu diesem Thema gewesen sein. Und die Süddeutsche – so viel Werbung soll sein – hat sich heute gelohnt.

Kommentare (22)

  1. #1 Stefan
    12. Mai 2016

    Sorry, aber die unwissenschaftlichsten Beiträge hier sind die von Herrn Kuhn.

    Das mit den Gender-“Forschungsergebnissen” wird z.B. hier https://www.danisch.de/blog/2016/05/10/gender-hirnwellen/ (etwas, aber immerhin) detaillierter beleuchtet. (Allerdings auch mit viel dezidierter Meinung, mit der man nicht unbedingt einverstanden sein muss.) Aber in einem Wissenschaftsblog zu schreiben, dass sich die Studie “hinter einer Paywall” befinde, und man daher eigentlich auch nichts weiter darüber sagen könne als das, was in der SZ steht, ist schon dürftig. Dann investiert man halt entweder das Geld oder lässt es, darüber zu schreiben. Über diese Studie wird, wie gesagt, auch anderswo berichtet.

    Und ins Blaue hinein zu spekulieren, dass “die Verbindung zwischen BMI und Sterblichkeit über die Zeit nicht stabil zu sein scheint” und “möglicherweise […] bessere Vorsorgeangebote und ein insgesamt gesünderer Lebensstil dabei eine Rolle” spielen… Nun ja, das wäre eine Möglichkeit. Eine weiniger wahrscheinliche, wie die übrigens, dass der BMI von Anfang an Bullshit war, und wie früher™ ganz einfach Körpergröße in cm minus Masse in kg das “Idealgewicht” darstellen. Das entspricht nämlich bei Menschen, die nicht unter einer gestörten Selbstwahrnehmung leiden, auch meist dem Wohlfühlgewicht. Und wer auf seinen Körper “hört” fährt meistens am besten.

    (Ich selbst bevorzuge übrigens trockenen Weißwein. Von Rotwein krieg ich Sodbrennen.)

  2. #2 Stefan
    12. Mai 2016

    Die Formel war natürlich ” Körpergröße in cm minus100 -> Masse in kg”.

    Ist gar nicht so einfach, dieses Kommentarformular auszufüllen, wenn man das in einem Firefox auf Linux mit einem dunklen Theme macht. Dann sieht das nämlich so aus: https://img4.picload.org/image/rgooplwg/auswahl_011.png Liegt übrigens daran, dass im Seitencode keine Farbe für den Hintergrund definiert ist.

  3. #3 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2016/05/10/erkenntnis/
    12. Mai 2016

    Dann nimm doch ein helles Theme!

  4. #4 Stefan
    12. Mai 2016

    Sieht aber kacke aus. Besser wäre, man würde hier mal einfach das Feld für den Kommentar im HTML so formatieren wie die Felder für Name, E-Mail und Ort. Es geht ja, wie man oben sieht. Und dann hat niemand mehr Probleme, egal mit welchem Theme.

    Sonst noch irgenwas? Was Inhaltliches, zum Beispiel?

  5. #5 rolak
    12. Mai 2016

    Besser wäre

    ..sich die generell gut funktionierenden SeitenVorgaben via GreaseMonkey oä an eigene spezielle Vorlieben anzupassen.

  6. #6 Sarko
    München
    12. Mai 2016

    @ Stefan:

    Verstehe nicht, was dein Link mit der Studie über die Lesefähigkeit zu tun hat. Bei zweiten Thema dasselbe: Joseph Kuhn spekuliert doch gar nicht ins Blaue, er zitiert das Hauptergebnis der Studie. Persönlicher Streit mit Kuhn?

  7. #7 Robert aus Wien
    12. Mai 2016

    “Die Jungen schnitten in der Spielsituation genauso gut ab wie die Mädchen, in der Prüfungssituation aber deutlich schlechter. Hier komme, so die Studie, eine „Bedrohung durch Stereotype“ zur Geltung, wie sie umgekehrt bei Mathematikaufgaben die Leistungen von Mädchen beeinträchtige.”

    Stereotype sollen dafür verantwortlich sein? Das muß der Autor jetzt aber näher erklären, ich halte diese Schlußfolgerung für falsch.

  8. #8 ajki
    12. Mai 2016

    “…Leider befindet sich der Artikel wie so oft hinter einer Paywall…”

    Seit nun geraumer Zeit, derzeit und höchstwahrscheinlich für alle denkbaren Zukünfte besteht – wie den allermeisten mittlerweile bekannt sein dürfte – die Möglichkeit des ungehinderten Zugangs zu wissenschaftlichem “Paywall”-Material. Es ehrt den Blogger, die entsprechenden Verlinkungen hier nicht anzugeben. Man darf aber durchaus davon ausgehen, dass jeder am Feld Interessierte sich bei Bedarf genauer über den Studieninhalt informieren kann.

  9. #9 Adent
    12. Mai 2016

    @Stefan

    ganz einfach Körpergröße in cm minus Masse in kg das “Idealgewicht” darstellen.

    Diese hochwissenschaftliche Formel ist natürlich sehr viel sinnvoller und belegter als der BMI, ähnlich wie ja auch der Bauer das Wetter immer noch besser vorhersagen kann als der Wetterdienst.
    Kräht der Hahn auf dem Mist wirds Wetter besser/schlechter oder es bleibt wie es ist.

  10. #10 Robert aus Wien
    12. Mai 2016
  11. #11 Hubert
    12. Mai 2016

    Wenn es um Gender Studies geht, sollte man sich großzügig zeigen und zum nächsten Thema übergebenen.

  12. #12 znEp
    12. Mai 2016

    @Stefan
    Ahahahaha Danisch m(

  13. #13 libertador
    12. Mai 2016

    Ich habe kurz in die Studie zur Lesefähigkeit geschaut.
    In der Studie wurden 80 Kinder, eine Leseaufgabe gegeben (sie sollten unter Zeitdruck Tiere in einem Text identifizieren). Dies wurde wie oben beschrieben als Spiel oder als Prüfung verkauft.

    Der Unterschied im Ergebnis tritt dabei für solche Kinder auf, die sich selber mit Lesen identifizieren. Dann sind Mädchen in der Prüfung besser als Jungen und Jungen in dem Spiel besser. Im Falle niedriger Identifikation mit Lesen sind die Ergebnisse für Jungen und Mädchen ähnlich (nicht signifikant).

    Dieses Ergebnisse ist laut Autoren durch zwei Stereotyp-Hypothesen erklärbar, die ansonsten für Kinder nur anhand der mathematischer Leistungen untersucht worden ist. Diese Hypothesen bestehen darin, dass die Leistungen durch ein positives Sterotyp in der Prüfung angehoben werden und bei negativem Stereotyp genau umgedreht.

  14. #14 ralph
    12. Mai 2016

    @Robert aus Wien
    “Stereotype sollen dafür verantwortlich sein? Das muß der Autor jetzt aber näher erklären, ich halte diese Schlußfolgerung für falsch.”
    Das geht mir auch so. Da wird irgendeine Erklärung aus dem Hut gezaubert und die passt zufälligerweise hervorragend in den Gender-Mainstream.
    Mir fallen spontan mehrere andere, genauso “schlüssige” Erklärungen ein.

  15. #15 Alisier
    12. Mai 2016

    Nur mal so am Rande gefragt:
    was ist denn immer noch so schwer daran, Menschen einzeln zu betrachten, und sie nicht in irgendwelche Geschlechterschubladen zu stecken?
    Wenn ein Junge super lesen kann, dann kann er eben super lesen. Wenn ein Mädchen, respektive eine Frau eine Spitzenmathematikerin ist, dann ist sie eben eine Spitzenmathematikerin.
    Warum sollte man einzene Menschen mit Erwartungen konfrontieren, die an ihr Geschlecht gebunden sind, wenn man sie damit auch einfach in Ruhe lassen kann?
    Und der Werbung für die Süddeutsche kann ich mich nur anschließen.

  16. #16 ralph
    12. Mai 2016

    Ja, Alisier dieses Schubladendenken ist ein Problem. Natürlich immer nur bei Anderen. Sie und ich gehen selbstverständlich völlig unvoreingenommen auf jeden Menschen zu, egal welchen Alters, Geschlechts, welcher Hautfarbe, welcher sozialen oder kulturellen Herkunft oder Religion er auch sein mag.
    Dennoch – der Mensch ist neugierig, er forscht, er klassifiziert und versucht Dinge Zusammenhänge besser zu verstehen die er gerade mal ahnt oder nichteinmal das. Wie Erfolgreich die Genderforschung hierbei ist – schaumermal.

  17. #17 rolak
    12. Mai 2016

    Sie und ich gehen selbstverständlich völlig unvoreingenommen

    Mir ist ja nicht bekannt, wie dies bei anderen Menschen ist – doch generell gehe ich nicht selbstverständlich unvoreingenommen auf andere Menschen zu. Abertausende von gemachten Erfahrungen, Gerüchten und Vorurteilen drängen sich dabei ins Denken und müssen via Bewußtsein niedergemacht werden, schlicht deswegen, weil sie nichts mit der jeweiligen aktuellen Situation zu tun haben.

    Dieses aktive Bekämpfen des Voreingenommenseins halte ich allerdings für eine Pflichtübung – obgleich sie offensichtlich keineswegs selbstverständlich ist.

  18. #18 Alisier
    12. Mai 2016

    Unvoreingenommenheit ist etwas anderes: unsere persönlichen Reaktionen können wir nicht immer im Griff haben. Distanz zu spontanen Reaktionen gewinnen zu wollen erwarte ich aber schon von halbwegs intelligenten Menschen.
    Und wieso sollte man schon allein mit dem Forschen Probleme haben? Weil man Angst hat, dass etwas dabeI rauskommt, das einem nicht in den Kram passt? Oder gibt es noch andere Gründe alleine schon beim Wort “Genderforschung” zeter und mordio zu schreien?

  19. #19 Dr. Webbaer
    13. Mai 2016

    ‘Die Jungen schnitten in der Spielsituation genauso gut ab wie die Mädchen, in der Prüfungssituation aber deutlich schlechter.’
    Klingt plausibel, deckt sich mit den pädagogischen Erfahrungen des Schreiber dieser Zeilen, wobei hier aber auf andere Gründe getippt wird als auf ‘Bedrohung durch Stereotype’, die ‘Leistungsfähigkeit beeinträchtigt’.
    Bei den sogenannten Gender Studies ist der Schreiber dieser Zeilen generell ein wenig vorsichtig, weil die feministische Anthropologie die Annahme des Feminismus voraussetzt.

  20. #20 inga
    13. Mai 2016

    @Ralph (#14): Da wird nichts “aus dem Hut gezaubert” sondern eine Hypothese getestet. Diese wird von den Daten gestützt, was nicht heißt, dass sie stimmt, aber eben auch nicht das Gegenteil. In der empirischen Forschung gibt es halt leider keine Beweise für eine Hypothese, sondern nur ein Nicht-nicht-Widerlegen. Das war noch nie anders und gilt übrigens nicht nur für die Genderforschung sondern auch für alle anderen empirischen Forschungsdisziplinen.

    Freilich gibt es alternative Erklärungen für das Verschwinden des Leistungsunterschieds beim Lesen (mir fällt z.B. dazu ein, dass Jungs möglicherweise einfach weniger Bock auf Prüfungen haben und mehr Spaß an Spielen, während Mädchen gerne Erwartungen erfüllen wollen und sich daher in der Prüfungssituation mehr Mühe geben), aber diese müssten entsprechend eben in einer anderen Studie überprüft werden. Wie wäre es: Entwerfen Sie doch einfach ein Design, wie man die von mir erwähnten Erklärungen (gerne auch eine von Ihnen) gegeneinander testen könnte.

    Festzuhalten ist: Wenn man es macht wie Hubert (#11) wird es hinsichtlich Genderthemen keine weiteren Erkenntnisgewinne geben. Lustig finde ich ja immer, wenn jemand Genderstudies für unwissenschaftlich erklärt und stattdessen lieber gar nicht zum Thema forschen will, weil Geldverschwendung und so und außerdem wozu forschen, wenn das eigene Bauchgefühl doch schon vorher alles weiß.

  21. #21 Statistiker
    13. Mai 2016

    Nun, Herr Robert aus Wien…..

    “Das muß der Autor jetzt aber näher erklären, ich halte diese Schlußfolgerung für falsch.”

    Nein. SIE müssen erklären, warum SIE die Erklärung für falsch halten. SIE blähen ja raus, dass SIE dies für falsch halten, was begründet wurde……

  22. #22 Joseph Kuhn
    13. Mai 2016

    @ Stefan:

    “in einem Wissenschaftsblog zu schreiben, dass sich die Studie “hinter einer Paywall” befinde, und man daher eigentlich auch nichts weiter darüber sagen könne als das, was in der SZ steht”

    Ging leider nicht anders, sonst hätte ich frühestens am kommenden Dienstag über die beiden Beiträge in der SZ vom letzten Mittwoch schreiben können, weil ich mir die Artikel vorher nicht mehr über die elektronische Zeitschriftenbibliothek hätte anschauen können. Dann wäre das Aufgewärmte aus der SZ schon wieder ziemlich lauwarm geworden.

    Jetzt hat mir eine freundliche Seele den Artikel zur Lesefähigkeit zugemailt. Nach dem ersten Überfliegen würde ich die Befunde nicht einfach vom Tisch wischen, sondern durchaus als Anregung für weitere Forschung sehen: 80 Kinder wurden zufällig auf die Gruppen “Test” und “Spiel” verteilt, die Messung der Lesefähigkeit bestand im zeitlich limitierten Unterstreichen von Tiernamen in einer Wörterliste, also quantifiziert. 80 Kinder sind nicht die Welt, aber die Autoren schreiben, dass sie damit sogar etwas mehr Probanden hätten, als nach einer Fallzahlberechnung für ihr Analyseverfahren nötig gewesen wäre. Im Detail will ich die Sache gar nicht beurteilen, in der Diskussion um Lesefähigkeiten stecke ich nicht drin (und der Artikel beschreibt auch nicht alles so konkret, wie ich es mir wünschen würde), aber dass die Leseleistungen von Jungen und Mädchen – falls sich die Sache bestätigt – in der dargestellten Weise situationsabhängig sind, finde ich durchaus interessant und diskussionswürdig.

    Was den Artikel zum BMI-Optimum angeht: Dafür, dass das alte “Broca-Normalgewicht”, das Sie vorschlagen, besser als der BMI sein soll, würde ich doch gerne eine Begründung hören. Dass der BMI als Körpermaß nicht das Gelbe vom Ei ist, ist hinlänglich durchdiskutiert. Mit den Befunden der Studie hat das aber nichts zu tun.