Wenn ein Körperzustand oder ein Verhalten als „krank“ bezeichnet wird, ist das nicht einfach nur eine neutrale Beschreibung, die zum Ausdruck bringt, dass ein Unterstützungsbedarf vorliegt oder zumindest Rücksicht geboten ist. Auch wenn es in der Philosophie der Gesundheit Bemühungen um eine Naturalisierung des Krankheitsbegriffs gibt, ist die Einteilung „krank“ versus „gesund“ im gesellschaftlichen Diskurs zutiefst normativ aufgeladen und dabei schillert der Krankheitsbegriff immer zwischen Unterstützung und Kontrolle. Beim Beinbruch ist das weniger augenscheinlich, bei Krankheiten wie AIDS evident, bei psychischen Störungen ebenso.
Bei den psychischen Störungen gibt es seit langem Diskussionen darüber, was noch „normal“ ist und was nicht und – teils weil diese Grenzziehung schwierig ist, teils unabhängig davon – dass das Spannungsverhältnis zwischen Unterstützung und Kontrolle im Umgang mit Menschen, die psychisch auffällig sind, sensibel und reflexionsbedürftig ist. Exemplarisch dafür mag die Diskussion hier zum Thema „Sucht“ stehen.
Auch der Diskurs über das Dicksein ist mehrschichtig. Man weiß, dass dicke Menschen, zumindest sehr dicke Menschen, häufiger an Herzkreislauf-Erkrankungen leiden, an Diabetes, an Krebs und anderen Krankheiten und dass sie auch früher sterben. Aber ist die Epidemiologie das bestimmende Moment des gesellschaftlichen Diskurses über dicke Menschen? Vielleicht noch „rücksichtsvoll“ ergänzt um die Wahrnehmung, dass man natürlich aufpassen müsse, die Betroffenen nicht zusätzlich zu ihrem Gesundheitsrisiko auch noch zu stigmatisieren?
Oder stehen die epidemiologischen Befunde zu den Folgen von Übergewicht und Adipositas vielleicht im Dienste von ganz anders motivierten gesellschaftlichen Normalisierungs- und Disziplinierungsstrategien, wie das zuweilen ja auch im Zusammenhang mit der Tabakkontrolle diskutiert wird? Viele Raucher fühlen sich von Rauchverboten im öffentlichen Raum gegängelt und die Tabaklobby macht daraus das eigentliche Motiv des Nichtraucherschutzes: Bevormundung statt Akzeptanz von Genuss. Dass sich abhängigkeitserzeugende Mittel nicht sonderlich gut eignen, gesellschaftliche Freiheitsdiskurse zu führen und es dafür wahrlich geeignetere Themen gibt, sei einmal dahingestellt. Ich will damit nur mit einem Fingerzeig auf das Ineinandergreifen von ganz unterschiedlichen Diskursebenen hinweisen und dass auch beim Thema Adipositas mit dem Satz „Dicksein macht krank“ nicht alles gesagt ist.
Keine Frage: Es gab Zeiten und Kulturen, in denen Dicksein positiv bewertet wurde, als Ausdruck von Wohlstand und gutem Leben. Das ist heute anders. Dicksein widerspricht den gängigen Schönheitsidealen. Wir wissen auch mehr als früher über die gesundheitlichen Folgen der Adipositas. Außerdem zeigen die Reichen ihren Wohlstand nicht mehr in ihrer Körperfülle. Die Dicken finden sich bei uns vielmehr gehäuft in den unteren Sozialstatusgruppen.
Wie ist das also mit dem Dicksein? Sollte man, indem man bestimmte Diskursebenen dekonstruiert, ihre historische und gesellschaftliche Relativität aufzeigt, vielleicht zu solchen Schlüssen kommen (Rothblum E, in Rose L/Schorb F, S. 16):
„Fat Studies streben die Überwindung der negativen Assoziationen an, die Dicksein und dicken Menschen in der Gesellschaft anhaften. Sie sehen Gewicht – genau wie Körpergröße – als menschliches Merkmal, das innerhalb jeder Population sehr stark variiert.“
Das ist in guter Absicht gegen den Stigmatisierung und Kontrolle gerichtet. Aber könnte man nicht genauso gut argumentieren, dass „negative Assoziationen“ mit Blick auf die gesundheitlichen Folgen von Übergewicht und Adipositas geradezu geboten sind, weil man den Betroffenen sonst die Anerkennung ihrer Probleme verweigert? Zumindest, wenn es ihre Probleme und nicht die anderen sind? Dethematisiert man also eine reale Problemebene, wenn man „Dicksein“ nur noch auf der Ebene gesellschaftlicher Zuschreibungen betrachtet? Schließlich verschwinden Sachverhalte weder dadurch, dass man sie verschweigt noch dadurch, dass man anders über sie spricht. Wer sich an der Stelle an die Geschichten mit sex und gender erinnert fühlt, kann das gerne als spiegelbildliche Denkhilfe nehmen – zu welchem Ergebnis man damit auch immer kommen mag.
Und wer sich mit dem Thema vertieft beschäftigen möchte, kann sich in das neu erschienene Buch „Fat Studies in Deutschland“ einlesen, herausgegeben von Lotte Rose und Friedrich Schorb vom Institut für Public Health und Pflegeforschung in Bremen. Es versammelt Beiträge aus verschiedenen Blickwinkeln auf den gesellschaftlichen Diskurs zum Dicksein, von rechtlichen bis hin zu künstlerischen Aspekten. Wer mir danach „belesen“ meine Fragen beantworten kann, kann das gerne hier tun, wer nicht erst lesen will, natürlich auch.
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