9. Sehr wichtig für die künftige Struktur des Versorgungssystems: Die Unionsparteien betonen die freie Arztwahl und den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und Krankenversicherungen. Beim ersten Thema geht es möglicherweise darum, keine stärkere Steuerung der Patientenströme über Hausärzte anzustreben, beim zweiten Thema sicher um die Absage an die Bürgerversicherung. Es folgt der sibyllinische Satz „Aufgabe der Politik bleibt es, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.“ Meint das z.B., dass die gesetzlichen Krankenkassen künftig Beihilfetarife kalkulieren dürfen? Dass der Wettbewerb auch im Bestandsmarkt der privaten Krankenversicherung ermöglicht wird, z.B. durch eine vereinfachte Mitnahme von Altersrückstellungen? Fragen über Fragen.

10. Nach so viel Mut zur Zukunft muss sich die Union erst einmal wieder selbst loben. Mit dem Innovationsfonds fördere man zukunftsweisende Versorgungsformen, auch zur Zusammenarbeit der Sektoren und Berufsgruppen. Ganz prima, der Innovationsfonds. Er stößt nicht nur die Entwicklung neuer Versorgungsformen mit 300 Mio. Euro jährlich an, sondern hat mit 75 Mio. Euro jährlich auch für die Versorgungsforschung in Deutschland endlich mal ein ordentliches Finanzierungsinstrument geschaffen. Gibt es Ideen zur Weiterentwicklung? Oder fällt das auch einfach in die Rubrik Rückblick auf das, was wir schon geschafft haben?

11. Man will die Krankenhausversorgung in der Fläche sichern und die Zusammenarbeit der Kliniken fördern. Wie, wird nicht verraten. Wie soll z.B. mit dem Thema Mindestmengen umgegangen werden, also der Erkenntnis, dass mit dem medizinischen Fortschritt die Spezialisierungsanforderungen bei vielen Behandlungen steigen und nicht mehr jedes Krankenhaus alles machen soll, weil das auf Kosten der Versorgungsqualität geht?

12. Die Forschung z.B. zu Krebs, Diabetes, Demenz, seltenen Erkrankungen oder zur Entwicklung neuer Antibiotika soll verstärkt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Eine explizite Erwähnung eines Forschungsprogramms Public Health wäre etwas Neues gewesen, oder die Absicht, ein Forschungsdatengesetz für Gesundheitsdaten zu machen, um die vorhandenen Routinedaten besser für die Versorgungsforschung zu erschließen. Aber was nicht drinsteht, kann ja trotzdem gemacht werden.

13. Danach kommt wieder was von gestern: Ein Lob des E-Health-Gesetzes und seiner Datenschutzvorgaben. Nachdem Deutschland die Digitalisierung im Gesundheitswesen eh halb verschlafen hat und auch die Industrie beim Thema elektronische Gesundheitskarte kein gutes Bild abgegeben hat, hätten mich bei diesem Zukunftsthema ein paar konkretere Perspektiven durchaus interessiert.

14. Auch der folgende Punkt verweist auf vergangene Reformen: man habe in der Pflegeversicherung die Versorgung der Demenzkranken verbessert und die Angehörigen unterstützt. „Diesen Weg gehen wir weiter.“ Ich bitte darum. Und wie sieht der weitere Weg aus? Ob damit die folgenden Spiegelstriche gemeint sind?

15. Die Union fordert mehr Zusammenarbeit der Akteure in der Pflege und kündigt eine „Konzertierte Aktion Pflege“ an. Das klingt ein wenig unheimlich, wenn man sich an die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen erinnert, die 1977 geschaffen und 2003 beendet wurde. Damals ging es vor allem um Kostendämpfung, das wird hoffentlich nicht die Richtschnur der Konzertierten Aktion Pflege. Aber was dann? Vorschläge für eine bessere Zusammenarbeit in der Pflege gibt es ja viele. Wenn man nur wüsste, was die Union plant!

16. Es folgt ein Spiegelstrich zur Entlastung von Kindern Pflegebedürftiger: Auf sie soll erst ab einem Einkommen ab 100.000 Euro zurückgegriffen werden.

17. Die Palliativ- und Hospizversorgung soll ausgebaut werden. Das ist gut, notwendig und überfällig.

18. Die Gesundheitswirtschaft soll gestärkt werden. Von mir aus, aber bitte nicht auf Kosten der Gesundheit der Patienten. Eine schnellere Arzneimittelzulassung ist nicht unbedingt gut für die Menschen, und bei den Medizinprodukten wäre im Zulassungsverfahren ohnhin einiges nachzubessern.

19. Zu guter Letzt wird das Thema Global Health aufgegriffen und ankündigt, dass man die Fähigkeit zur Reaktion auf internationale Gesundheitskrisen ausbauen wolle. Das geschieht eigentlich auch schon, u.a. als Lehre auf den letzten Ebolaausbruch, und wichtiger wäre hier der Ausbau präventiver Hilfen. Internationale Gesundheitskrisen haben ihre Ursachen oft darin, dass man versäumt hat, Ländern der Dritten Welt bei Aufbau eines effektiven Gesundheitswesens zu helfen – von Stellvertreterkriegen wie in Syrien und anderen Ursachen einmal ganz abgesehen.

1 / 2 / 3

Kommentare (9)

  1. #1 rolak
    8. Juli 2017

    Nette aufgedröselt, Joseph, doch gemäß Merkelscher Einschätzung des Programmes hättest Du genausogut Peterchens Mondfahrt als Ausgangspunkt der Analyse nehmen können…

    ~KredtitwirtschaftVersprechen: Jetzt träumen – später bereuen.

    • #2 Joseph Kuhn
      8. Juli 2017

      @ rolak:

      Dabei sollte es Frau Merkel doch besser wissen: “Wer sich auf Träume verlässt, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen.” (Jesus Sirach 34,1)

  2. #3 sausi
    9. Juli 2017

    Die “Ankündigung der Vergangenheit” trifft es bei ziemlich vielen Punkten. Etliche sind längst auf dem Gleis oder stehen in den kommenden vier Jahren ohnehin an. Z.B. 2) Da geht es um die Frage, ob sich DRG-Steigerungen künftig wenigstens noch ein bisschen an den Beitragseinnahmen orientieren oder gar nicht mehr. Der Prüfauftrag dafür steht längst im Gesetz. Die Union lässt aber offen, wohin die Reise geht. Volle Einpreisung der Tarifsteigerung sehe ich aber nicht so unkritisch wie Sie.
    6) Schulgeld. Das ist schon scharf. Wenn Koalition die Akademisierung nicht um vier Jahre verschoben hätte, wäre das Schuldgeld bereits abgeschafft.
    8) Ganz wie Sie schreiben.
    9) Sie fragen, was das zu bedeuten hat: “Aufgabe der Politik bleibt es, faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen.“ Vermutlich geht es auch um die Diskussion um den MorbiRSA. Da stehen ja ein Gutachten und Änderungen ins Haus.
    Insgesamt ist das Programm reichlich blümerant. Aber es passt zur bisherigen Gröhe-Arbeit: Probleme aussitzen, Konflikte vermeiden. So kommt man gut durch, für das System ist es aber auf längere Sicht verheerend.

  3. #4 gedankenknick
    9. Juli 2017

    Die Sache mit dem Versandhandel könnte mit der neuerdings bei diesem Thema nicht mehr so festgelegten FDP zu interessanten Verhandlungen führen.
    Wird im Koalitionsvertrag geopfert. Konnte man leider nicht durchsetzen. Alles so wie immer. Die Großkonzerne wird es freuen…
    …hier sei mal an die FDP erinnert, die damals in ihr Wahlprogramm das Verbot der sogenannten “Pick-Up-Stellen” geschrieben hatte – und dies sogar in den Koalitionsvertrag schrieb. Es wurde NIE angegangen, die FDP hatte Bedenken, dass das Gesetz vom BVerG nicht bestehen könnte. Wenn jedes BVerG-kritische Gesetz gar nicht erst bearbeitet werden würde, würden wir in D nur sehr wenige neue Gesetze bekommen…

    Bei der Krankenhausfinanzierung wird versprochen, die Preisentwicklung und die Tarifsteigerungen künftig zu berücksichtigen.
    Frag mal die Apotheken. 3% Anpassung in 13 Jahren… also nicht pro Jahr sondern für die gesamte Zeit. In der gleichen Zeit unter anderem der Verbot von Einkaufsrabatten und regelmäßige Tariferhöhungen für Angestellte. Besser kann es kaum laufen…

  4. #5 RPGNo1
    9. Juli 2017

    Ich habe eine Frage zu Punkt 12 “Forschung z.B. zu Krebs, Diabetes, Demenz, seltenen Erkrankungen oder zur Entwicklung neuer Antibiotika soll verstärkt werden”.
    Forscht die öffentliche Hand tatsächlich im Bereich neuer Medikamente? Wenn ja, welche Institute/Organisationen/Personen sind darin eingebunden?
    Oder heißt es, dass entsprechende privatwirtschaftliche Initiativen mit entsprechenden Anreizen unterstützt werden sollen?

  5. #7 RPGNo1
    9. Juli 2017

    @Joseph Kuhn
    Vielen Dank!

  6. #8 dzp-nerd
    10. Juli 2017

    Danke für diese ausführliche Einordnung.

    Nun sollte man aber die Messlatte nicht allzu hoch hängen:

    …zur Ungleichheit der Gesundheitschancen von Männern und Frauen (Männer sterben fast 5 Jahre früher),…

    Das scheint mir doch sehr ambitioniert.

  7. #9 ralph
    10. Juli 2017

    Vielen Dank für die aufbereitete Information.

    16. ….Entlastung von Kindern Pflegebedürftiger: Auf sie soll erst ab einem Einkommen ab 100.000 Euro zurückgegriffen werden.

    Halte ich für wichtig und überfällig.