Der Tod kostet das Leben, das steht fest. Aber was kostet das Altern? Der demografische Wandel, so liest man oft, ist dadurch gekennzeichnet, dass wir immer älter werden, in der Folge im Durchschnitt auch mehr Krankheiten bekommen, was wiederum zu höheren Kosten im Gesundheitswesen führt. Und manchmal liest man dann, dadurch drohe eine Kostenexplosion im Gesundheitswesen.

So plausibel das klingt: Es ist nicht so einfach. Richtig ist, dass die Menschen hierzulande immer älter werden, dass mit dem Alter das Krankheitsrisiko zunimmt und dass die Gesundheitsausgaben im Alter höher sind als in der Jugend.

Die mittlere Lebenserwartung der Männer liegt in Deutschland bei 78,2 Jahren, die der Frauen bei 83,1 Jahren und die fernere Lebenserwartung, wenn man das 65. Lebensjahr erreicht hat, beträgt bei den Männern noch 17,7 Jahre, bei den Frauen 20,9 Jahre und selbst die hochaltrigen 80-Jährigen dürfen im Schnitt noch mit weiteren fast 10 Jahren rechnen. Diesen Berechnungen des Statistischen Bundesamtes liegen sog. Periodensterbetafeln zugrunde. Basis sind dabei die realen altersspezifischen Sterbewahrscheinlichkeiten im Zeitraum 2013/2015. Da die Sterbewahrscheinlichkeiten in den nächsten Jahren z.B. durch den medizinischen Fortschritt weiter sinken, wird die tatsächliche Lebenserwartung noch höher liegen. Versicherungen kalkulieren daher mit Generationensterbetafeln, bei denen künftige Veränderungen der Sterbewahrscheinlichkeiten geschätzt werden.

Mit dem Alter steigt bekanntlich das Krankheitsrisiko. Zudem kommt es im Alter vermehrt zu Multimorbidität, also dem gleichzeitigen Auftreten mehrerer Krankheiten. Fast zwei Drittel der Über-65-Jährigen haben 3 oder mehr chronische Erkrankungen. Das macht sich bei den Krankheitskosten bemerkbar: Der Krankheitskostenrechnung des Statistischen Bundesamtes zufolge verursacht die Altersgruppe 85 und mehr ca. das 11-fache an Krankheitskosten wie die Unter-15-Jährigen.

Krankheitskosten

So weit, so gut, aber im Anschluss daran gilt es einiges zu bedenken:

Gesundheitsökonomen diskutieren seit einigen Jahren die sog. „Sterbekostenthese“. Sie geht von der Beobachtung aus, dass Behandlungen kurz vor dem Tod besonders teuer sind. Wenn man einfach nur die Gesundheitsausgaben nach Alter betrachtet, vermischt man die Kosten der Behandlung Älterer und die Kosten der Behandlung Sterbender. Daraus ergibt sich erst einmal ein Cave, von den höheren Gesundheitsausgaben im Alter prognostisch direkt auf steigende Ausgaben durch den demografischen Wandel zu schließen. Zumindest die Sterbekosten fallen dann nur später an.

Trotzdem verursachen Menschen, wenn sie immer älter werden, mehr Ausgaben, einfach weil sie während eines längeren Lebens auch öfter krank werden können. Aber wie sich das volkswirtschaftlich niederschlägt, ist unklar. Das hängt nämlich davon ab, ob die Menschen die gewonnenen Jahre eher krank oder gesund erleben und ob es gelingt, durch Prävention die Zeiten von Krankheit und Pflegebedürftigkeit am Ende des Lebens zu komprimieren. In den Gesundheitswissenschaften werden dazu unterschiedliche Szenarien diskutiert. Die „Kompressionsthese“ geht davon aus, dass wir länger gesund bleiben, die „Medikalisierungsthese“ davon, dass das längere Leben zu mehr Krankheit führt. Welche These zutrifft, lässt sich bisher anhand empirischer Daten nicht eindeutig sagen.

Hinzu kommt noch ein Punkt: Die Sterbekosten sinken im höheren Alter. Das hat damit zu tun, dass man bei Menschen, die mit 50 oder 60 Jahren an einer schwerer Krankheit leiden, häufiger von der Möglichkeit ausgeht, sie noch durch eine intensive medizinische Behandlung retten zu können als bei einem 95-Jährigen.

Sterbekosten

Möglicherweise ist der Effekt sinkender Sterbekosten, wenn man nicht nur den Krankenhausbereich betrachtet, sondern das Versorgungssystem insgesamt, sogar noch ausgeprägter, weil Sterbende im höheren Alter – verglichen mit jüngeren Sterbenden – seltener im Krankenhaus und häufiger in Heimen und durch ambulante Dienste versorgt werden.

Sterbefälle im Krankenhaus

Aus volkswirtschaftlicher Perspektive erschweren noch weitere Faktoren die Abschätzung der künftigen Kostenentwicklung im Gesundheitswesen: Beispielsweise sind Effekte der Prävention, therapeutische Durchbrüche bei Krebs oder Demenz sowie die Preise für therapeutische Ressourcen zumindest langfristig kaum abschätzbar.

Und ein ganz wichtiger Aspekt ist aus ökonomischen Analysen ohnehin nicht abzuleiten: Die Betreuung von Sterbenden ist nicht nur eine ökonomische Frage und vor allem darf sie kein ökonomisches Optimierungsproblem sein – was sie leider viel zu oft ist. Die PEG-Sonde etwa zur pflegerisch einfacheren Ernährung von schwerst Demenzkranken kurz vor dem Tod ist inhuman. Ebenso sollten Sterbende im Krankenhaus nicht als ultimative Herausforderung für die Intensivmedizin betrachtet werden. Aus vielen Gründen wird bei Sterbenden, auch hochaltrigen Sterbenden, zu häufig noch einmal „alles versucht“. Für viele Ärzte ist es wohl schwer, dem Unvermeidbaren seinen Lauf zu lassen. Allzu leicht bleibt dann eine den Bedürfnissen der Sterbenden angemessene palliative Betreuung auf der Strecke. Im Umgang mit Sterbenden kann medizinisch weniger zu tun, mehr sein – wenn man dafür das Richtige tut.

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Quellen, und zum Weiterlesen:
Bickel H (1998): Das letzte Lebensjahr. Eine Repräsentativstudie an Verstorbenen I. Wohnsituation, Sterbeort und Nutzung von Versorgungsangeboten. Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie 31(3): 193-204.
• Borasio GD (2011): Über das Sterben. München.
Felder S (2008): Im Alter krank und teuer? Gesundheitsausgaben am Lebensende. GGW 8(4): 23-30.
Nöthen M (2011): Hohe Kosten im Gesundheitswesen: Eine Frage des Alters? Wirtschaft und Statistik 7/2011: 665-675.

Kommentare (27)

  1. #1 Intensivpfleger
    28. Juli 2017

    “Im Umgang mit Sterbenden kann medizinisch weniger zu tun, mehr sein – wenn man dafür das Richtige tut.”

    Ein schöner Schlußsatz den ich vollumfänglich unterschreiben kann.

    Schönen Gruß wünscht der
    Intensivpfleger 🙂

  2. #2 Beobachter
    28. Juli 2017

    Sie vergessen bei all Ihren Kostenberechnungen, Erläuterungen und Darstellungen die viele unbezahlte und unbezahlbare Arbeit von pflegenden Angehörigen (meistens Frauen, Männer finden sich in den wenigsten Fällen dazu bereit) in der häuslichen Pflege von Kranken, Alten und Sterbenden.
    Und ambulante Pflegedienste können niemals alle notwendigen Hilfeleistungen rund um die Uhr und im akuten Bedarfsfall abdecken und erledigen vereinbarte Leistungen, für die sie bezahlt werden, im Eilschritt und unter Zeitdruck und oft nur notdürftig.

    • #3 Joseph Kuhn
      28. Juli 2017

      @ Beobachter:

      Die pflegenden Angehörigen habe ich nicht vergessen, siehe z.B. hier: “Zwei Drittel der Pflegebedürftigen werden dabei zuhause gepflegt. Der Vorrang der häuslichen Pflege ist auch im Gesetz vorgeschrieben. Die hohen Belastungen für pflegende Angehörige, meist Frauen, gehören übrigens auch zu den Problemen der Pflege, die noch nicht befriedigend gelöst sind.”

      Nichtmonetäre Leistungen von Angehörigen etc. sind in den Gesundheitsausgaben bzw. Krankheitskosten des Statistischen Bundesamtes nicht enthalten, weil es dazu keine Routinedaten gibt. Man könnte in einem umfassenderen Kostenbegriff nichtmonetäre Leistungen einbeziehen, Studien dazu gibt es auch, aber meines Wissens nicht zur Frage der Kosten des letzten Lebensjahres. Bei einem erweiterten Kostenbegriff würde dann die Unterscheidung zwischen Kosten und Ausgaben relevant.

      Da im hohen Alter häufig stationäre Pflege notwendig wird (über 40 % der Über-90-Jährigen sind in stationärer Dauerpflege), hat möglicherweise der demografische Wandel für die Pflege durch Angehörige weniger gravierende Auswirkungen als andere gesellschaftliche Veränderungen, z.B. die (gewünschte!) gestiegene Frauenerwerbstätigkeit oder die vom Arbeitsmarkt von beiden Geschlechtern geforderte hohe Mobilität. Aber das ist erst mal nur eine Vermutung, ich habe dazu nicht nach Studien gesucht.

  3. #4 Beobachter
    29. Juli 2017

    @ Joseph Kuhn:

    Ich habe mich in meinem obigen Kommentar ausschließlich auf diesen Beitrag hier bezogen – und da tauchen pflegende Angehörige weder in den Statistiken/Graphiken noch im Text auf, und “es gibt dazu keine Routinedaten”.

    Was wäre, wenn
    alle pflegenden Frauen viel mehr bis ausschließlich auf ihre eigene, ununterbrochene Berufstätigkeit bzw. auf den Auf-/Ausbau ihrer beruflichen Karriere und die damit verbundene Mobilität achten würden – statt auf das Wohlergehen ihrer kranken/alten/sterbenden Angehörigen?!

    Pflegebedürftigkeit und Sterben ist nicht nur eine Frage des (hohen) Alters – es gibt eine Menge Patienten mittleren Alters, die zu Schwerst-Pflegefällen und Palliativpatienten werden; z. B. durch schwere Herzerkrankungen, Krebs, MS und durch Unfälle.

    Ein dauerhafter Pflegeheimaufenthalt ist die letzte und schlechteste aller Möglichkeiten, denn es herrscht in allen Pflegeheimen mehr oder weniger Pflegenotstand – die Gründe und die Auswirkungen des Pflegenotstands sind sattsam bekannt.

    Ihr Beitrags-Schlusssatz ist m. E. etwas missverständlich.
    Auch “austherapierte” Sterbende/Palliativpatienten brauchen kompetente medizinische Betreuung; hier aus Kostengründen zu sparen (“weniger zu tun”), ist menschenverachtend und erbärmlich.
    Es muss eine individuell abgestimmte medikamentöse Schmerztherapie stattfinden, es müssen bei häuslicher Pflege regelmäßige Besuche des Hausarztes stattfinden (es gibt kaum noch welche, die das machen – weil von den Kassen kaum honoriert), es müssen rechtzeitig notwendige Hilfsmittel ärztlich verordnet werden (wie z. B. Pflegebett, Rollator, Rollstuhl, Nachtstuhl) wie auch eine professionelle Wundversorgung (z. B. bei Dekubitus, Dermatosen), usw.
    All das wird oft vernachlässigt – weil “es sich nicht mehr lohnt”.
    Es ist eine Schande …

    Lobenswert ist es, dass man sich bei SB überhaupt und zumindest ab und zu mit dieser Thematik beschäftigt – wenn sie auch auf wenig Interesse stößt.
    Offensichtlich wird die Tatsache verdrängt, dass jeder von heute auf morgen selbst betroffen sein kann.

  4. #5 Robert
    29. Juli 2017

    Beobachter,
    Nächstenliebe kann man nicht per Gesetz verordnen und die Pfleger stoßen an ihre eigenen Grenzen.

    Ein Trost bleibt das Ausland. Wenn du in England in ein Krankenhaus musst, lobst du unser Krankenhaussystem.

  5. #6 Ludger
    29. Juli 2017

    J. Kuhn:
    “Im Umgang mit Sterbenden kann medizinisch weniger zu tun, mehr sein – wenn man dafür das Richtige tut.”

    @ Beobachter: Da steht nichts davon, aus Kostengründen auf eine palliative Therapie zu verzichten. Da steht:

    J. Kuhn:
    “Die PEG-Sonde etwa zur pflegerisch einfacheren Ernährung von schwerst Demenzkranken kurz vor dem Tod ist inhuman. Ebenso sollten Sterbende im Krankenhaus nicht als ultimative Herausforderung für die Intensivmedizin betrachtet werden.”

    Zur den unsinnigen Maßnahmen gehört auch noch ein implantierbarer Defibrillator bei fortgeschritten Demenzkranken. Diese Therapien gehören nicht zur Palliativbehandlung.
    Also Aufruf an alle:
    Macht eine Patientenverfügung!

  6. #7 Beobachter
    29. Juli 2017

    @ Robert:

    Es ist nie ein “Argument” für irgendwas, zu sagen, woanders sei es noch schlimmer.

    Das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Pflegeheimen stößt deshalb an seine Grenzen, weil Stellen- und Dienstpläne (von der Verwaltung) viel zu eng kalkuliert werden – aus Kostengründen.

    Die Pflege und Versorgung von Alten, Kranken und Sterbenden hat nichts mit (christlicher) “Nächstenliebe” zu tun, sondern mit Menschlichkeit, Verantwortung, Solidarität und Notwendigkeit.
    Und der Gesetzgeber, die Politik muss dafür einen entsprechenden Rahmen schaffen.

  7. #8 Beobachter
    29. Juli 2017

    @ Ludger:

    Habe ich das behauptet?
    Ich habe lediglich geschrieben, dass der Schlusssatz m. E. etwas missverständlich (formuliert) ist.

    Nachdem man Patienten mit gut abrechenbaren, aufwändigen Leistungen “austherapiert” hat, wird die anschließende notwendige und sinnvolle Palliativtherapie- und versorgung (mit weniger gut abrechenbaren Leistungen) oft vernachlässigt.
    Das wollte ich in meinem Kommentar sagen – ich denke, dass ich es auch so und allgemein verständlich formuliert habe.

  8. #9 Karin
    29. Juli 2017

    @ Beobachter:

    Du hältst Joseph Kuhn dessen eigenes Arbeitsmarktargument entgegen. Warum? Moralische Überlegenheitspose?

    Man kann außerdem nicht das ganze soziale Zusammenleben als Sozialleistungsanspruch organisieren, weder in der Pflege noch in der Kinderbetreuung oder der Nachbarschaftshilfe.

  9. #10 ralph
    29. Juli 2017

    “.. sollten Sterbende im Krankenhaus nicht als ultimative Herausforderung für die Intensivmedizin betrachtet werden. ”
    Sehr richtig. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang ist eine möglichst notarielle und juristisch wasserdichte Patientenverfügung.

  10. #11 Roland B.
    29. Juli 2017

    @Beobachter: Ich denke schon, daß man immer vergleichen muß. Wenn es woanders noch schlimmer ist, ist das sicher kein Argument “dann können wir ja so weitermachen”, aber es hilft, nicht von Perfektion zu träumen oder wie man so schön sagt, auf hohem Niveau zu jammern.

  11. #12 Beobachter
    29. Juli 2017

    @ Roland B.:

    Welches “hohe Niveau”?
    Und vor allem: Für wen und bei was?

    Bsp.:
    Auf der einen Seite bezahlen die Krankenversicherungen solchen Humbug wie Homöopathie (für eine Hauptklientel von Besserverdienenden mit Befindlichkeitsstörungen/Wehwehchen) bis hin zur schädigenden, irrsinnigen MMS-“Therapie” in einer “Spezialklinik” (im Extremfall) –
    auf der anderen Seite muss man oft monatelang und immer wieder um eine notwendige Pflegeeinstufung von Angehörigen in häuslicher Pflege kämpfen, damit ambulante Dienste überhaupt tätig werden können.
    Und wenn sie denn tätig werden: Haben Sie sich mal die Minuten-Vorgaben für deren Leistungen angesehen?!

    Unser zunehmend privatisiertes Gesundheitswesen unterliegt zunehmend einem bestimmenden Wirtschaftlichkeitsdenken, was immer so schön mit “ökonomische Zwängen” gerechtfertigt wird.
    Es geht immer weniger um eine gute, sinnvolle medizinische (Grund-)Versorgung für Alle und immer mehr darum, hauptsächlich das zu machen und zu fördern, was am meisten Profit bringt bzw. verspricht.

    Leidtragende dieser Entwicklung sind Alte, chronisch Kranke und Arme.
    Und die haben keine Lobby.

    Ist es ein “Träumen von Perfektion”, diese grundlegenden Missstände beim Namen zu nennen und Verbesserungen einzufordern?!

  12. #13 Beobachter
    29. Juli 2017

    Nachtrag:

    “Der Kampf um die Pflegestufe”

    TV-Bericht, ARD, Report Mainz

    [Edit: Direkteinbindung des Videos entfernt, JK]

  13. #14 Intensivpfleger
    29. Juli 2017

    @Beobachter:
    Ihre leidenschaftlichen Beiträge klingen so, als ob Sie von eigenen (schlechten) Erfahrungen mit dem Gesundheitssystem berichten.
    Dieses System ist so, wie es aktuell gestaltet ist, alles andere als perfekt.
    Die ökonomischen Zwänge kann man kritisieren, die daraus enstehenden Folgen erst recht. Aber am Ende muß man doch zugestehen, dass der Kuchen nur einmal verteilt werden kann.
    Über diese Verteilung kann man lange streiten, sicherlich auch noch einiges verbessern, aber letztendlich muß man entweder die Einnahmen erhöhen (was der geneigte Wähler aber nur abstrafen würde) oder die Ausgabenseite verändern.
    Und genau da geht doch der Ansatz in Joseph Kuhns Artikel in die richtige Richtung: falls (und das scheint die Statistik ja noch gar nicht eindeutig herzugeben) also gerade die letzten Lebensmonate durch Einsatz teurer Therapien und Verfahren ein unverhältnismäßig hoher Kostenpunkt wären, wobei der Einsatz dieses Geldes ohne wesentliche Verbesserung der Lebenssituation der betroffenen Menschen einhergeht, dann wäre eine Verschiebung dieser Mittel weg von der HighTechMedizin hin zu der betreuenden und pflegenden Hilfe (in der Häuslichkeit, in Pflegeheimen, im Hospiz) ein Weg, die Versorgung der sterbenden Menschen zu verbessern, indem man nicht deren ohnehin unabwendbares Leiden nur um des Einsatzes der modernen Medizin willen um wenige Tage/Wochen/Monate verlängert, sondern lieber die kurze verbleibende Zeit möglichst leidensfrei und gut umsorgt organisiert.
    Ich meine hier steckt eine Menge Potential drin, auch wenn ich mich hier mit diesen Gedanken selbst arbeitslos mache (–> Intensivpfleger). Naja, Arbeit wäre wohl trotzdem noch genug für uns da, nur könnten wir diese dann auch noch personell besser aufgestellt bewältigen…

  14. #15 Beobachter
    30. Juli 2017

    @ Intensivpfleger, # 14:

    Sie schildern Ihre Sicht der Dinge aufgrund Ihrer Erfahrungen aus Ihrem Tätigkeitsbereich, wo es vermutlich oft vorkommt, dass Palliativpatienten mit aufwändigen HighTech-medizinischen Maßnahmen gequält werden, nach ebenso (vielleicht sinnlosen) aufwändigen HighTech-Operationen – statt “das Richtige zu tun” und “die kurze verbleibende Zeit möglichst leidensfrei und gut umsorgt (zu) organisieren”.
    An HighTech-medizinischen Maßnahmen und Operationen verdienen die Kliniken jedoch am meisten – sie werden von den Krankenkassen gut bezahlt. Dass in Deutschland zu viel und zu schnell operiert wird, ist bekannt.
    Deshalb werden Sie wohl kaum Arbeitslosigkeit befürchten müssen; und Sie werden auch wohl kaum behaupten wollen, dass man sich auf Intensivstationen hauptsächlich mit Palliativpatienten und wenig sinnvollen medizinischen und pflegerischen Maßnahmen beschäftigt.

    Aber was meinen Sie, was Krankenschwestern/-pfleger auf “Normalstationen” z. B. der Inneren oder Chirurgie zu berichten hätten?
    Wo z. B. alte Menschen nach einem Oberschenkelhalsbruch oder nach einem leichten Schlaganfall liegen?
    Dort hapert es (selbst) an der pflegerischen (Grund-)Versorgung während des notwendigen Krankenhausaufenthaltes; das Pflegepersonal steht permanent unter Zeitdruck und beklagt, deshalb nicht so sorgfältig und gut arbeiten zu können wie es das könnte und müsste.

    Und was würden Altenpflegerinnen in Pflegeheimen berichten? Es wird dort immer weniger mit qualifizierten Fachkräften und immer mehr mit Hilfskräften gearbeitet, und alle haben “keine Zeit”.
    Deshalb werden oft und unnötigerweise Windeln verpasst, Blasenkatheter gelegt; es wird sediert und fixiert; Patienten werden selbst an strahlenden Sommerabenden schon um 18 Uhr ins Bett gesteckt bei heruntergelassenen Jalousien; es kümmert sich niemand um notwendige Mobilisation, usw. usw.

    Was die häusliche und ambulante Pflege (pflegende Angehörige, MDK, ambulante Dienste) betrifft, habe ich schon Einiges berichtet – und siehe auch den eingestellten TV-Bericht oben.

    Hospize gibt es zu wenige; meistens liegt selbst das nächstliegende so weit entfernt, dass es für Angehörige mit öffentlichen Verkehrsmitteln sehr schlecht zu erreichen ist.

    Ich denke, man sieht, dass in unserem Gesundheitssystem Vieles im Argen liegt und verbesserungsbedürftig ist.
    Ein “hohes Niveau” (für die Patienten, um deren Wohl es ja gehen sollte) gibt es nur in Teilbereichen.
    Und hinter Zahlen/Statistiken/Graphiken auf dem Papier oder auf dem Bildschirm stehen immer Menschen und die Praxis im Alltag – was oft (scheinbar?) vergessen wird.
    Oder man kann/will sich die tägliche Realität dahinter nicht vorstellen.

  15. #16 Beobachter
    30. Juli 2017

    Nachtrag, Anmerkung (zu “hohem Niveau”):

    Auch in Krankenhäusern (wie auch in Pflegeheimen) wird zunehmend mit Hilfskräften gearbeitet – bei insgesamt weniger Pflegepersonal und mehr Patienten.
    Es kommt dadurch auch häufig zu massiven Pflege-/Hygiene- und Behandlungsfehlern – und gerade Schwerkranke und Sterbende sind dem völlig ausgeliefert, weil sie nicht mehr dazu in der Lage sind, sich ihrer Haut zu wehren.

    https://www.stern.de/gesundheit/personalmangel-in-krankenhaeusern-schlecht-gepflegt–falsch-behandelt—der-klinikhorror-3962614.html
    (2012)

    Zitat, Auszug:

    ” … Aber aktuelle Studien zeigen, dass in den deutschen Krankenhäusern grundsätzlich einiges im Argen liegt: Seit 1995 ist die Zahl der Pflegekräfte in den Kliniken um rund 14 Prozent geschrumpft. Gleichzeitig müssen rund zwölf Prozent mehr Patienten behandelt werden. Das ist ein Ergebnis des “Pflege-Thermometers 2012” des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (DIP). Studienleiter Michael Isfort sagt: “Es hat eine personelle Umverteilung in deutschen Krankenhäusern stattgefunden. Es gibt immer mehr Ärzte und Patienten, aber immer weniger Pflegekräfte. Und das geht zulasten der Patientenversorgung.” … “

  16. #17 anderer Michael
    30. Juli 2017

    Klingt vielleicht blöd:
    Die jungen Ärzte haben zumindestens zu meiner Zeit vor 30 Jahren nicht gelernt, dem Unvermeidlichen seinen Lauf zu lassen. Insbesondere wann soll man dem Unvermeidlichen nachgeben ? Wer weiß das genau ? Dazu kam ( und kommt) Angst, man könne etwas falsch machen und nicht nur die Gewissensqualen , sondern auch Probleme mit Chefs, Angehörigen oder der Justiz. Desweiteten sind Angehörige manchmal komplett überfordert, wenn sie entscheiden sollen.
    Eine Lösung weiß ich auch nicht.

    Es ändert sich viel. In den 1980 Jahren galt die Nicht -Anlage einer PEG-Sonde selbst bei Präefinalstadium als ethisch sehr problematisch.
    Menschen , deren Sterben sich über Tage und Wochen hinzog , die nur sehr wenig tranken, die trockene Schleimhäute hatten.Man sagte, dieser Zustand (der Exsiccose) müsse furchtbar quälend sein . Mit einer PEG oder Witzelfistel könne man die Folgen der Exsiccose erleichtern, ohne das Sterben unnötig zu verlängern.

  17. #18 Dr. Webbaer
    31. Juli 2017

    Die „Kompressionsthese“ geht davon aus, dass wir länger gesund bleiben, die „Medikalisierungsthese“ davon, dass das längere Leben zu mehr Krankheit führt.

    Beides ist der Fall?!

  18. #20 Dr. Webbaer
    31. Juli 2017

    Es könnte schlicht so sein, dass die Menschen gesünder leben und insofern länger – und ihre dann häufiger vorkommenden Krankheiten zunehmend besser versorgt werden, was auf die Lebensspannen bezogen höhere durchschnittliche Gesundheitskosten verursacht.
    Eigentlich die auf der Hand liegende Sicht zu den beiden genannten womöglich nur scheinbar konkurrierenden Thesen.

    Ansonsten, klar, insofern früher bspw. viele Männer an gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen, an hohem Alkohol- und Tabakkonsum, an Stress und ungesunder Ernährung, bei wenig bis gar keinem Sport, an Herzkrankheiten sozusagen vorzeitig gestorben sind, ist es auch ein soziales Phänomen.
    Denn auch heute leben einige noch so, sicherlich schichtenabhängig, die Bevölkerugsschichten sind gemeint.

    • #21 Joseph Kuhn
      31. Juli 2017

      @ Webbär:

      “Es könnte schlicht so sein, dass die Menschen gesünder leben und insofern länger – und ihre dann häufiger vorkommenden Krankheiten zunehmend besser versorgt werden”

      Es ist schlicht so (im Durchschnitt).

      “was auf die Lebensspannen bezogen höhere durchschnittliche Gesundheitskosten verursacht.”

      Das ist eben die Frage. Wie es kommt, hängt von den oben genannten Faktoren ab.

      “Denn auch heute leben einige noch”

      Wenn sie nicht gestorben sind.

  19. #22 Umami
    31. Juli 2017

    Notiere: Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht beim Hausarzt abgeben.

  20. #23 Joseph Kuhn
    31. Juli 2017

    Update:

    Vielleicht von Interesse, weil hier auch das Thema Intensivpflege angesprochen wurde: Nach einem aktuellen Gutachten des Deutschen Krankenhausinstituts ist in der Intensivpflege im Prinzip alles gut. Ver.di-Vorstandsmitglied Sylvia Bühler dazu: “Nichts ist gut in der Intensivpflege.”

  21. #24 Beobachter
    1. August 2017

    @ Umami:

    Eine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht ändert nicht das Geringste an den Missständen in unserem Gesundheitswesen und insbesondere im Pflegebereich.

  22. #25 BlankerBanker
    1. August 2017

    Gut, dass Firmen wie Google endlich auf die Idee gekommen sind, das Altern selbst als Krankheit zu betrachten um es angemessen ins Visier zu nehmen.

  23. #26 roel
    1. August 2017

    @Joseph Kuhn #23 “Vielleicht von Interesse, weil hier auch das Thema Intensivpflege angesprochen wurde: Nach einem aktuellen Gutachten des Deutschen Krankenhausinstituts ist in der Intensivpflege im Prinzip alles gut.”

    Schaut man sich die Träger des DKI an, könnte man auf eine seltsame Idee kommen, warum das DKI die Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin als gut (er)achtet.

    https://www.dki.de/wir-sind/traeger
    “Das DKI wird von diesen maßgeblichen Verbänden und Institutionen der Krankenhauswirtschaft getragen:

    Deutsche Krankenhausgesellschaft e.V. (DKG)

    Verband der Leitenden Krankenhausärzte Deutschlands e.V. (VLK)

    Verband der Krankenhausdirektoren Deutschlands e.V. (VKD)”

  24. #27 Joseph Kuhn
    4. August 2017

    Update:

    Eine neue internationale Studie von French et al. in der Zeitschrift Health Affairs, über die die Ärztezeitung heute berichtet, relativiert die Sterbekostenthese etwas. Die hohen Kosten am Lebensende werden demnach nicht allein im letzten Lebensjahr, sondern in den letzten drei Lebensjahren verursacht: “This suggests that high aggregate medical spending is due not to last-ditch efforts to save lives but to spending on people with chronic conditions, which are associated with shorter life expectancies.”

    Unter Kostengesichtspunkten sei daher bei den intensivmedizinischen Maßnahmen kurz vor dem Tod gar nicht so viel zu holen, sondern man müsse vorher ansetzen, um unnötige Krankenhausbehandlungen zu vermeiden: “For people near death, an appropriate mix of long-term care, hospice, and home care would ensure that only those patients who wanted and needed to be in hospitals were treated there.”

    So plausibel die Schlussfolgerungen der Autoren erst einmal sind, sie haben auch einiges an spekulativem Gehalt. Man weiß z.B. zu wenig darüber, welche medizinischen Behandlungen konkret in den letzten drei Jahren bzw. im letzten Jahr vor dem Tod anfallen oder welchen Behandlungsvorlauf die Patienten mit den hohen Kosten vorher hatten (Stichwort chronische Krankheiten). Ich wage die unschwere Prognose, dass die Sterbekostenthese mit weiteren Studien noch die eine oder andere Wendung bzw. Nuancierung erfahren wird.