Die bayerische Grünen-Chefin Katharina Schulze wirft der bayerischen Staatsregierung vor, bei der Masernimpfung versagt zu haben. In der Ärztezeitung wird Schulze mit dem Hinweis zitiert, die Staatsregierung habe es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, „die Quote bei der zweiten Impfung gegen die im Extremfall tödliche Masernkrankheit auf die erforderlichen 95 Prozent zu heben“.

Richtig ist, dass im Einschulungsalter in Bayern „nur“ 92,2 % zweimal gegen Masern geimpft sind. Das liegt unter den von der WHO geforderten 95 %. Im Bundesdurchschnitt waren es aber auch „nur“ 92,7 %. Das „nur“ steht in Anführungszeichen, weil das eigentlich schon ein sehr guter Wert ist. Die Herdenimmunität liegt irgendwo zwischen 83 % und 94 % – in der Gesamtbevölkerung. Bei der ersten Masernimpfung waren es im Einschulungsalter zuletzt 96,1 % in Bayern und 97,1 % im Bundesdurchschnitt.

Im Alter von zwei Jahren, also dem Alter, in dem die Kinder laut STIKO geimpft sein sollten, sind in Bayern beim Geburtsjahrgang 2014, dem letzten Geburtsjahrgang, für den das RKI aktuell Daten ausweist, 75,7 % der gesetzlich versicherten Kinder zweimal geimpft (Deutschland: 73,9 %), und 96,2 % einmal (Deutschland: 95,6 %). Dabei ist zu beachten, dass hier die bundesdeutschen Werte durch Sachsen, das eine eigene Impfkommission mit einer späteren Impfempfehlung bei Masern hat, etwas nach unten gedrückt werden. Aber insgesamt sind auch das schon sehr gute Werte.

Was Frau Schulze geflissentlich nicht sagt:

• Dass die Impfquoten seit Jahren zunehmen, und zwar vor allem bei der zweiten Masernimpfung. Die Impfquote der zweiten Impfung bei den Masern lag vor 15 Jahren im Einschulungsalter beispielsweise bei ca. 20 % (!).
• Dass in Baden-Württemberg, wo die Grünen regieren, die Impfquote im Einschulungsalter für die zweite Masernimpfung zuletzt bei 89,5 % lag, bei der ersten Masernimpfung bei 95,2 %. Bei den Zweijährigen beim Geburtsjahrgang 2014 bei 68,9 % für die zweite Impfung und 89,8 % für die erste Impfung – bei den Zweijährigen ist Baden-Württemberg bundesweites Schlusslicht. Was mag Frau Schulze wohl über die Regierung in Baden-Württemberg denken? Es wird ja hoffentlich nicht nur um billige parteipolitische Polemik gehen?
• Dass in Deutschland die Eltern frei entscheiden, ob sie ihr Kind impfen lassen und zudem die Ärzt/innen impfen und nicht etwa die Regierung. Wer hätte also, wenn man überhaupt von „Versagen“ sprechen kann, versagt?
• Dass die relevanten Impflücken nicht bei den Kindern bestehen, sondern bei den jungen Erwachsenen.
• Dass es niedrige Impfquoten in Bayern vor allem im gutsituierten alternativmedizinisch orientierten Milieu gibt, also da, wo auch die Grünen ihr Wählerpotential haben. Dass die Grünen in Bayern ihr Klientel je medienwirksam zur Masernimpfung aufgefordert hätten, ist mir nicht bekannt. Wie wäre es beispielsweise mit einer öffentlichen Durchsicht der Impfpässe der Grünen-Fraktion, samt Schließung der zutagegetretenen Impflücken?

Und was sie auch nicht sagt: Was möchten die Grünen? Fordern sie eine allgemeine Masernimpfpflicht in Bayern? Oder eine Impfpflicht vor Kita, wie die CDU in Brandenburg, was in Bayern vor allem das grünennahe Klientel in anthroposophischen Einrichtungen interessieren dürfte? Oder hat sie, wie so viele Politiker/innen in der aktuellen Impfpflichtdebatte, einfach nicht nachgedacht?

Kommentare (17)

  1. #1 Dr. Webbaer
    9. April 2019

    Guten Morgen.
    Vielen Dank für die geballte Schilderung der Datenlage.
    Die Daten sind des Schwätzers Tod.

    BTW, wollen Sie nicht in die Politik gehen, lieber Herr Dr. Joseph Kuhn? – Einige täten sich freuen, wenn in einer bundesdeutsch moderat linken Partei, sagen wir mal in der CSU (Wir sind doch Bayer?), derartige Fachkenntnis am Start wäre und gar TV-Diskussionen bereichern könnte.

    MFG
    Dr. Webbaer (der diesen Rat schon anderen Betreibern von sog. WebLogs gegeben hat, abär stets wählerisch)

  2. #2 Alisier
    9. April 2019

    Es ist Wahlkampf, Joseph. Die Europawahl steht vor der Tür, wie du weißt.
    Ich bin ja schon froh, wenn die Eso-Fraktion innerhalb der Grünen immer kleiner wird, und die “Impfskeptiker” weitestgehend abgemeldet sind.
    Ansonsten: Danke für die Präzision und die Zahlen.

  3. #3 Wetterwachs
    9. April 2019

    Dass jetzt in jeder politischen Richtung die Zwangsmaßnahme Impfpflicht positiv diskutiert wird, irritiert mich in erster Linie deswegen, weil die akute Lage (politisch, ökonomisch, ökologisch) zwar eigentlich geradezu schreit nach gesetzlich verordneten Eingriffen in die sogenannte Freiheit des freien Bürgers, aber doch nicht ausgerechnet bei der Masernimpfung. Ich hab das Gefühl, alle, sogar FDP und Grüne, veranstalten dieses Theater um eine Impfpflicht hauptsächlich deswegen, um zu zeigen, dass sie auch mal ‘streng’ sein können mit dem blöden irrationalen Bürger, der sein Freiheitsverlangen übertreibt. Aber bloß nicht wirklich empfindliche Freiheiten gesetzlich einschränken wie z.B. die freie Fahrt für freie Bürger (Tempolimit), die freie Gewinngenerierung von Wohnungsgesellschaften usw.. Kommt mir vor, als würde man in einer von Schädlingen (Salmonellen, Kakerlaken, Giftschlangen, Zecken, Skorpionen, Taranteln) befallenen Wohnung erst mal eine gründliche Ausrottung der lästigen nervigen Stubenfliege inszenieren, weil das als einzige Maßnahme nicht dem gesunden Menschenverstand widerspricht.

    (In dem Zusammenhang bin ich übrigens wirklich sehr überrascht und erfreut über das Statement von Habeck zu Enteignungen, selbst wenn es nur ein Lippenbekenntnis sein sollte.)

  4. #4 Dr. Webbaer
    9. April 2019

    @ Kommentatorenkollegin ‘Wetterwachs’ (die Hexe von Terry Pratchett adressierend müsste ein weibliches Wesen vorliegen, deshalb die Sexus-Markierung mit der Suffix ‘-in’) und hierzu :

    […] weil die akute Lage (politisch, ökonomisch, ökologisch) zwar eigentlich geradezu schreit nach gesetzlich verordneten Eingriffen in die sogenannte Freiheit des freien Bürgers [..]

    Aus kollektivistischer Sicht ‘schreit’ die Liberale Demokratie sozusagen fortlaufend ‘nach gesetzlich verordneten Eingriffen in die sogenannte Freiheit des freien Bürgers’, korrekt oder kollekt!

    I.p. Enteignung weiß Dr. Webbaer wie folgt zu kolportieren :

    Das Grundgesetz weiß Bescheid :

    -> https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html

    Dr. W mag auch den Passus ‘Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.’, wohl wissend, dass Eigentum in sog. Liberaler Demokratie nicht verpflichtet.

    Böse Zungen meinen, dass das bundesdeutsche Verfassungssubstitut, das nach 1989 hätte ersetzt werden müssen, wir gucken hier auch auf den Artikel 146, insofern bereits eine Lüge über sich selbst darstellt.

    Zudem ist es wohl so, dass bundesdeutsch und im Grundgesetz, auch um die Zustimmung der politisch Linken zu gewinnen, auch die KPD war seinerzeit vglw. stark und die SPD offen sozialistisch, die Gesellschaftsordung als Liberale Demokratie nicht derart eingegossen werden konnte.

    HTH (“Hope this Helps”)
    Dr. Webbaer

  5. #5 shader
    9. April 2019

    “BTW, wollen Sie nicht in die Politik gehen, lieber Herr Dr. Joseph Kuhn?”

    Statt das Wissenschaftler in die Politik gehen, sollten die Politiker öfters auf die Wissenschaftler hören.

  6. #6 Dr. Webbaer
    9. April 2019

    Oder so.

    Herr Dr. Sören Hader, es spricht aber nichts dagegen, wenn sich Fachkräfte auch mit einem demokratischen Mandat versehen melden dürfen.
    Dr. W hat nicht de geringsten Zweifel, dass Dr. K diesbezüglich einsatzfähig ist, er kann reden, nicht nur sprechen, wie bspw. das bundesdeutsche Oberhaupt des demokratischen Seins, seine Verständigkeit ist sozusagen Webbaer-proved.

    MFG
    Dr. Webbaer

  7. #7 Joseph Kuhn
    9. April 2019

    @ Webbär:

    “wollen Sie nicht in die Politik gehen, lieber Herr Dr. Joseph Kuhn?”

    Lieber Herr Dr. Webbär, Ihr Politikverständnis ist antiquiert obrigkeitsstaatlich, elitär illiberal und parteipolitisch verengt. Ich bin nämlich schon lange in der Politik: als Bürger.

    In der Politik geht es darum, sich um die gemeinsamen Angelegenheiten zu kümmern. Das versuche ich, z.B. als Wähler, als Gewerkschafter oder hier als Blogger. Eine parteipolitische Erlaubnis brauche ich dazu nicht. Nach unserem Grundgesetz geht alle Gewalt vom Volke aus. Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit (Art. 21 GG), das ist wichtig, aber nicht das, was Politik im Innersten ausmacht.

    Vielleicht leben Sie zu lange in einem postkommunistischen Land, in dem Politik schon wieder zum Parteibonzentum verkommen ist?

  8. #8 Dr. Webbaer
    10. April 2019

    Gemeint war natürlich, dass Sie in Betracht ziehen mögen von Ihrem passiven Wahlrecht Gebrauch zu machen, lieber Herr Dr. Joseph Kuhn.
    Das mit der CSU war nur ein kleiner Gag.
    BTW, im Webbaer-Land entstehen recht häufig neue Parteien und einige Bürger sind dann “auf einmal” in der Politik, sogar ganz weit oben; von einer Parteienrepublik kann hier nicht die Rede sein.
    MFG + weiterhin viel Erfolg!
    Dr. Webbaer (der Ihre Position natürlich versteht)

  9. #9 anderer Michael
    10. April 2019

    Ob man die Grünen mag oder nicht, ist in dem Punkt einerlei. Frau Schulze macht primitiven Wahlkampf, wie die Anderen auch. Hauptsache irgendwas Negatives über den Gegner.

    Aber Respekt Herr Kuhn, hervorragend analysiert.

  10. #10 Richard
    10. April 2019

    Immerhin scheinen die Argumente gegen eine Impfpflicht langsam zu wirken:
    https://www.mz-web.de/leben/gesundheit/impf-pflicht-warum-experten-wenig-von-zwang-und-viel-von-freiwilligkeit-halten-32349504

    “Dass Menschen ihre Meinung ändern, wenn sie sich mit dem Thema Impfpflicht befassen, zeigt sich am Beispiel von Wolfram Henn, Humangenetik-Professor an der Universität des Saarlandes in Homburg. Er ist Mitglied des Deutschen Ethikrates und leitet dort eine Arbeitsgruppe, die eine Stellungnahme zum Thema „Impfen als Pflicht“ erarbeitet. „Vor drei Monaten, bevor wir mit unserer Arbeit an dem Thema begonnen haben, war ich noch Befürworter einer teilweisen Impfpflicht. Aber das war zu eindimensional gedacht“, sagt er. Das Argument der Kollateralschäden leuchte ihm ein. „Man sollte nicht riskieren, dass die Quoten für Impfungen gegen andere Krankheiten stark zurückgehen, wenn man die Impfung gegen Masern zur Pflicht macht.“

  11. #11 Alisier
    10. April 2019

    @ Joseph Kuhn
    Ich möchte dann mal ins gleiche Horn stoßen, und bemerken, dass meine Position zu Impfpflicht und Ähnlichem viel differenzierter geworden ist.
    Und das liegt definitiv an Deinem Blog.
    Inzwischen empfehle ich insbesondere vielen Grünen Deine Posts aufmerksam zu lesen, weil es sich sehr lohnt.

    • #12 Joseph Kuhn
      10. April 2019

      @ Alisier:

      “vielen Grünen”

      Ich versuche, mich auch in meinem privaten Blog an Art. 96 der bayerischen Verfassung zu halten: “Die Beamten sind Diener des ganzen Volkes, nicht einer einzelnen Partei.” Daher hat jede Partei die Chance, kritisch von mir bedient zu werden. 😉

  12. #13 gedankenknick
    10. April 2019

    Und in New York wird derzeit an der Grenze der politischen Panik agiert…. Das ganze nennt sich wohl “Notstand”. Und man kann als uneimpfte Person (unter bestimmten Umständen) wohl mit bis zu 1.000 US$ Strafe ob der eigenen ungeimpftheit belegt werden.

    https://www.welt.de/vermischtes/article191638793/Masern-New-York-ruft-Notstand-aus-und-verordnet-Impfpflicht.html

  13. #14 RainerO
    10. April 2019

    Und in Österreich wird die Ärztekammer schon recht konkret:
    Ärztekammer fordert generelle Impfpflicht in Österreich

  14. #15 M
    Bolivien
    11. April 2019

    @wettetwachs #3
    1. Die aktuelle Lage schreit nicht nach noch mehr Eingriffen in die Freiheit (=weitere Entmündigung), sondern nach Vernunft. Und davon besitzt der verblödete Affe der sich Homo sapiens schimpft viel zu wenig.

    2. Giftschlangen und Spinnentiere sind vorwiegend bis ausschließlich Nützlinge.

    3. Wer der Meinung ist, dass ab und zu ein wenig an Personalentscheidungen partizipieren etwas mit Demokratie zu tun hat, der hat das Hirn so vollgeschissen, dass Diskussionen über Politik mit ihm vollkommen zwecklos sind.

  15. #16 Joseph Kuhn
    14. April 2019

    Die bayerische FDP im Impfpflichtrausch:

    Auch die bayerische FDP fordert nun eine Impfpflicht. Der BR zitiert den gesundheitspolitischen Sprecher der Partei, Dominik Spitzer, “die wiederholten Masern-Ausbrüche zeigten, dass es regional gefährliche Impflücken gebe.” Gesundheitsministerin Huml solle daher ihre Skepsis gegen eine Impfpflicht ablegen.

    Ministerpräsident Söder ist da klugerweise anderer Meinung und stärkt damit seiner Gesundheitsministerin den Rücken im aktuellen Wettlauf um die nächstbeste Impfpflicht. Denn welche Form wäre zielführend?

    Herr Spitzer meint, Bayern solle dem Beispiel Brandenburgs folgen. Das wäre eine Impfpflicht vor Kita. Kann man machen, schützt die Kitakinder, würde aber bei einer Betreuungsquote von unter 30 % bei den Zweijährigen in Bayern vermutlich regionale Ausbrüche nur hier und da verhindern. Zumal die Impfquoten in dieser Altersgruppe inzwischen recht gut sind (siehe oben).

    Dafür hatte Bayern früher unterdurchschnittliche Impfquoten, d.h. bei den jüngeren Erwachsenen dürften in Bayern die Impflücken besonders groß sein. Aber dass die FDP über so etwas nachgedacht hat, ist nicht anzunehmen. Auch darin sind sich FDP und Grüne in Bayern bei dem Thema recht ähnlich.

  16. #17 Joseph Kuhn
    16. April 2019

    Die bayerische SPD will auch dabei sein:

    Ruth Waldmann, gesundheitspolitische Sprecherin der bayerischen SPD-Fraktion, heute in einer Pressemitteilung: “Es geht hier um die Verantwortung für die gesamte Bevölkerung, auch für kommende Generationen. Eine solch wachsweiche Haltung wie von Söder und Huml kann man sich hier nicht leisten!”

    Langsam gehen mir die Worte für Kommentare aus. Sind wenigstens in der SPD-Fraktion und in der Parteispitze alle gegen Masern geimpft?