Impfziele

Manche Krankheitserreger haben nur den Menschen als Wirt und können daher prinzipiell ausgerottet werden. Die Pocken sind der „Modellfall“. Die Weltgesundheitsorganisation hat 1980 die Pocken als ausgerottet erklärt. Das Virus existiert, soweit bekannt, nur noch in Laboren in Russland und den USA.

Auch die Masern und Polio könnten ausgerottet werden. Bei den Masern ist man von diesem Ziel noch sehr weit entfernt. Selbst das „weichere“ Ziel, die Elimination der Masern, also ihre Verdrängung unter eine Relevanzschwelle, ist in Deutschland nicht in Sicht. Das ist ein Grund für den Plan Spahns, eine Masernimpfpflicht einzuführen, neben anderen Gründen, über die er sich vielleicht selbst nicht immer Rechenschaft ablegt.

Probleme

Die Elimination von Polio ist dagegen europaweit gelungen, es gibt in Europa seit Jahren keine einheimischen Fälle mehr. Aber die weltweite Ausrottung gelingt nicht. Wie bei den Masern werden die WHO-Ziele regelmäßig nicht erreicht. Das hat viele Gründe, z.B. dass die Bevölkerung in manchen Ländern schwer erreichbar ist, Krisen nicht nur in Afghanistan die Umsetzung von Impfprogrammen erschweren, dass es mancherorts sogar aktiven Widerstand gegen die Impfprogramme gibt und die Impfstoffe zudem ein effektives Impfmanagement erfordern.

Es gibt noch Wildvirus-Infektionen in Afghanistan und Pakistan, bei Nigeria weiß man nicht so recht, woran man ist, immerhin scheint es 2019 dort noch keine neuen Wildvirus-Infektionen gegeben zu haben. Ganz sicher ist das nicht, weil Polioinfektionen auch unauffällig verlaufen können. Ein ernstes Problem sind zudem Polioinfektionen durch mutierte Impfviren. In vielen Ländern wird noch – anders als in Deutschland – Lebendimpfstoff eingesetzt (die berühmte „Schluckimpfung“), weil das effektiver bei der Seuchenkontrolle in Ländern mit mangelhafter Durchimpfung ist als der Totimpfstoff. Die Impfviren verbreiten sich in gewissem Umfang von alleine weiter, aber sie können eben auch mutieren und wieder Eigenschaften des Wildvirus annehmen, also Kinderlähmung auslösen. Das tun sie gelegentlich auch.

Strategische Alternativen

Nun hat eine internationale Autorengruppe um den Bielefelder Epidemiologen Oliver Razum anlässlich einer anstehenden Reformulierung der Eradikationsstrategie der WHO erneut die Frage aufgeworfen, ob man bei Polio nicht besser das Eradikationsziel aufgeben und statt dessen auf eine möglichst effektive Kontrolle des Infektionsgeschehens setzen sollte (Razum et al. Polio: from eradication to systematic, sustained control. BMJ Global Health 2019;4:e001633. doi:10.1136/bmjgh-2019-001633). Wie bereits in früheren Überlegungen dazu (z.B. Thompson/Tebbens 2007: Eradication versus control for poliomyelitis: an economic analysis, Lancet 369:1363-71) spielen dabei auch ökonomische Fragen eine wichtige Rolle. Razum et al. verweisen darauf, dass die 1988 aufgelegte „Global Polio Eradication Initiative“ 20 Mrd. Dollar gekostet hat, der daran anschließende „Polio Eradication & Endgame Strategic Plan“ seit 2013 bis heute 7 Mrd. Dollar und der aktuell von der WHO vorbereitete neue Ausrottungsplan ein Budget von 4,2 Mrd. Dollar vorsieht. Sie fragen, ob dieses Geld nicht besser in Maßnahmen zur Stärkung der gesundheitlichen Infrastruktur in den gefährdeten Ländern gehen sollte. Damit könnte man nachhaltig eine hinreichend hohe Durchimpfung gewährleisten, um eine erneute Ausbreitung der Seuche zu vermeiden und das Geld würde nicht für Impfprogramme verbraucht, die quasi von oben eingeflogen werden und nicht in regionalen Versorgungsstrukturen verankert werden können.

Das Polio Eradication Department der WHO hat darauf ebenfalls im BMJ Gobal Health geantwortet (Sutter/Zaffran: Polio: abandoning eradication would result in rapid resurgance of an ancient scourge. BMJ Global Health 2019;4:e001877. doi:10.1136/bmjgh-2019-001877). Hier sieht man die Gefahr, dass es bei nachlassenden Anstrengungen schnell wieder zum endemischen Auftreten von Polio in Ländern mit geringer Durchimpfung kommt und sie plädieren dafür, jetzt alle Kraft zusammenzunehmen, um die letzten Meter bis zur Eradikation noch zu schaffen. Dabei müssten auch die betroffenen Länder selbst mehr Verantwortung übernehmen.

Beide Seiten sind sich übrigens einig darin, dass man bei der Zurückdrängung von Polio in den letzten 30 Jahren viel erreicht hat und hinter diesen Stand auf keinen Fall zurückfallen sollte. Es geht also um die Fortsetzung einer Erfolgsgeschichte, nicht um den Umgang mit einem Versagen.

Ergo?

Ich kann in dieser Diskussion fachlich nicht mitreden, dazu verstehe ich zu wenig von Polio, kenne die konkrete Ausgestaltung der Impfprogramme nicht und auch nicht die Situation in den relevanten Ländern. Aber ich finde diese Diskussion sehr spannend. Sie wirft die gesundheitsökonomische Frage nach dem richtigen Einsatz finanzieller Mittel auf. Sie lässt erkennen, wie schwierig „die letzten Meter“ bei gesundheitspolitischen Zielsetzungen sein können. Sie zeigt, wie eng der Erfolg einer Impfstrategie mit den sozialen Verhältnissen in den einzelnen Ländern und mit politischer Stabilität verbunden ist. Man sieht auch, wie unterschiedlich die Erfolgsaussichten für Eradikationsprogramme je nach Erreger sind – und kann sich fragen, was daraus für die „Masernpolitik“ zu folgern ist. Gilt vielleicht auch hier: Ausrottung oder Kontrolle?

Kommentare (5)

  1. #3 borstel
    27. August 2019

    Wenn man es so betrachtet, dann scheinen im Endeffekt die Befürworter des Impfprogramms doch Recht zu behalten. Jedoch stellt sich in der Tat die Frage, ob nicht das Impfprogramm und die Forderung nach “nachhaltiger” Gesundheitsversorgung komplementär zu sehen sind. Was hilft es schließlich, wenn die Menschen nicht an der Polio leiden und sterben, sondern an anderen Erkrankungen (was ohnehin viel häufiger vorkommt). Und im Fall Pakistan/Afghanistan scheint auch Bildungsförderung eine Rolle zu spielen. Drücken wir die Daumen, daß trotz allem die Eradikation gelingt.

    NB: Würden wir mit Poliokampagnen erst jetzt anfangen, wir hätten wohl eine Situation in Deutschland wie bei den Masern: Haufenweise fehlende Impfungen und damit keine Chance, irgendwie weiterzukommen.

  2. #4 gnaddrig
    31. August 2019

    Was hilft es schließlich, wenn die Menschen nicht an der Polio leiden und sterben, sondern an anderen Erkrankungen (was ohnehin viel häufiger vorkommt).

    Nun, so leiden sie “nur” an anderen Erkrankungen, statt an den anderen Erkrankungen plus Polio. Das ist für sich schon viel wert, oder? Dass man nie alle Krankheiten beseitigen kann, ist doch klar, aber “every little helps”, und ohne Polio kann man sich dann (mit wenigstens etwas mehr Kapazität) dem großen Rest widmen.