Am Wochenende war SPD-Parteitag. Die SPD lag zuletzt bekanntlich auf der Intensivstation. Sie hat in der GroKo nach eigenem Empfinden zwar viel durchgesetzt, aber gegenüber der Union kein erkennbares Profil bewahren können. Der permanente Wechsel der Parteivorsitzenden hat dieser Profillosigkeit ein Gesicht gegeben, um es einmal in einem etwas paradoxen Bild auszudrücken. Nun hat sie zwei gleich neue Parteivorsitzende. Ob das der SPD, dieser großen alten Volkspartei, die als Stimme der kleinen Leute auch heute noch so notwendig wäre, zur Genesung verhilft oder ob sie demnächst auf die Palliativstation kommt, wird sich zeigen. „Mit Walter und Eskia kriegen wir das hin!“, strahlt zumindest die Parteilinke Hilde Mattheis Zuversicht aus.

Hinzukriegen wäre beispielsweise eine zeitgemäße Sozialpolitik. Auf ihre sozialpolitischen Forderungen hat sich die Partei gestern in Beschluss Nr. 3 „Arbeit – Solidarität – Menschlichkeit: Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“ verständigt. Es heißt dort:

„Unser Sozialstaat für eine neue Zeit ist eine Antwort auf den rasanten Wandel der Arbeitswelt und die damit verbundenen neuen Möglichkeiten, aber auch die zunehmende Verunsicherung der Arbeitsgesellschaft.

Felder staatlichen Handelns und des Sozialstaats sind in diesem Sinne vor allem:

Arbeit: Die Arbeitswelt verändert sich in hohem Tempo, aber wir bleiben eine Arbeitsgesellschaft, die jedem die Möglichkeit zu Arbeit und Teilhabe gibt.

Absicherung von Kindern: In einem reichen Land wie Deutschland darf kein Kind in Armut und mit weniger Chancen aufwachsen – und Kinder dürfen für ihre Eltern kein Armutsrisiko sein.

Inklusion: Jeder Mensch hat ein Recht auf Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe in der Gesellschaft. Wir wollen die Selbstvertretung der Menschen mit Behinderung stärken.

Pflege: Alle sollen eine gute und menschenwürdige Pflege ohne Armutsrisiko erhalten können.

Wohnen: Wohnen ist als elementares öffentliches Gut zu begreifen.

Alterssicherung: Die Absicherung im Alter ist ein zentrales Versprechen des Sozialstaats.“

Das Dokument umfasst 21 Seiten. Die Gesundheitspolitik wird – von randständigen Bemerkungen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz und zur Digitalisierung abgesehen – in diesem Beschluss nur in Form der Pflege angesprochen. Hier will die SPD u.a. eine Bürgerversicherung, des Weiteren eine Begrenzung des Eigenanteils bei der Finanzierung von Pflegeleistungen, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Pflege sowie pflegegerechte Wohnformen. Alles wichtig und unterstützungswürdig. Aber war da nicht auch mal was mit einer Bürgerversicherung in der Krankenversorgung? Was ist mit der überfälligen Krankenhausreform? Was mit einer Bedarfsplanung im ambulanten Bereich, die auch wirklich den Bedarf abbildet? Was mit einem Konzept für Public Health in Deutschland?

Wird das alles in anderen Beschlüssen abgearbeitet? Oder sieht die SPD bei diesen Themen in der laufenden Legislaturperiode angesichts des eiligen Herrn Spahn keine Chance mehr für eigenes Handeln? Oder schmollt am Ende Karl Lauterbach, weil jetzt Walter und Eskia am Zug sind und nicht er? Auf der Internetseite der SPD ist dazu leider noch nichts zu finden.

Kommentare (7)

  1. #1 rolak
    9. Dezember 2019

    Fürs neue Programm zumindest wurde die Gesundheitspolitik nicht abgeschrieben, sonst stünde ja mehr von ihr drin, aus welchem Original auch immer. Es sieht allerdings tatsächlich so aus, als müßten wir Bürger* eine von dort sich durchsetzende Änderung der Gesundheitspolitik zum Besseren abschreiben, schade&ärgerlich.

    Überhaupt wirkt das zu Lesende nicht besonders neu oder umstrukturierend – liegt vielleicht ua daran, daß einerseits der Titel schon eine längere Textgeschichte hat (Bsp), andererseits sich nur ein neuer Vorstand, nicht jedoch eine grundlegend neue Leitlinie durchgesetzt hat.
    Die ganzen Beschlüsse sind übrigens da drüben nachzulesen.

  2. #2 Beobachter
    28. August 2022

    Update:

    Karl Lauterbach (SPD) plant den großen Wurf in der Gesundheitspolitik mit einer “Krankenhausreform”.
    Für Kinder ist (und bleibt) die Lage besonders schlimm:

    https://www.fr.de/panorama/kein-platz-fuer-kinder-91749373.html

    “Kinderheilkunde stark unterfinanziert: Kein Platz für Kinder

    Ab 2023 plant Karl Lauterbach eine umfassende Krankenhausreform. Doch der Chirurg Dr. Bernd Hontschik zeigt, wieso der Start hierfür bereits fehlgeschlagen ist.

    Vor lauter Corona, Krieg und Klima blieb fast unbemerkt, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach am 2. Mai eine „Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung“ vorgestellt hat. Er wolle mit ihrer Hilfe „ab 2023 die größte Krankenhausreform der vergangenen 20 Jahre anpacken.“ Es gab sofort Ärger über die Zusammensetzung dieser Kommission, denn unter ihren 16 Mitgliedern ist kein einziger Krankenpfleger, keine Krankenschwester zu finden, auch keine einzige Oberärztin, kein Oberarzt und keine einzige Assistenzärztin, kein Assistenzarzt, keine einzige Krankenkasse ist vertreten, dagegen Professor:innen der Ökonomie, des Öffentlichen Rechts oder der Gesundheitswissenschaften, gewürzt mit ein paar Chefärzten.
    … ”

    Wie üblich bei solchen Kommissionen sitzen in diesen fast nur Ökonomen und Juristen – es fehlen wie üblich die Fachleute aus der Praxis.

    Nur als Beispiele:

    Voraussichtlich darf/muss frau auch weiterhin öfters ihr Kind im Taxi kriegen – auf der langen Fahrt ins nächstgelegene (oft “nur” ca. 50 km entfernt) größere Krankenhaus mit Kreißsaal, falls überhaupt noch ein solches “in der Nähe” ist.
    So fängt es an.

    Und so geht es weiter:
    Es ist sehr schwierig geworden, für sein/e Kind/er überhaupt noch einen niedergelassenen Kinderarzt zu finden – auch im größeren Umkreis seines Wohnortes.

  3. #3 Beobachter
    Bananenrepublik
    31. August 2022

    Heute im Radio in den Kurznachrichten gehört (SWR 1) – und habe es zuerst für Satire oder einen blöden Witz gehalten, der ging etwa so:
    Lauterbach plant bundesweit “Gesundheits-Kioske” in armen und sozial schwachen Gebieten/Stadtvierteln, wo es keine oder kaum Hausärzte gibt und damit die Krankenhaus-Notaufnahmen nicht immer so voll sind.
    Besetzt werden sollen diese Kioske mit Pflegekräften.
    —————-
    Dann habe ich mir gedacht:
    Bisher boten solche Stadtteil-Kioske Dosen-Cola/-Bier, Wurschtweck und die BILD u. ä. an – jetzt sollen “Gesundheits-Kioske” dort medizinische Grundversorgung und Differentialdiagnostik – durch Pflegekräfte! – anbieten!
    Zur sozialräumlichen Segregation “sozial Schwacher” kommt nun auch noch deren outgesourcte “Gesundheitsversorgung” ohne Mediziner/ärztliche Konsultation!
    Die wenigen noch bestehenden Hausarztpraxen und die chronisch überlasteten Krankenhaus-Notaufnahmen sollen wohl den betuchten Privatversicherten vorbehalten bleiben?!
    Eine weitere Zementierung unserer Zweiklassenmedizin!

    Dann habe ich vorhin nachgesehen – es ist leider KEIN blöder Witz:

    https://www.zdf.de/nachrichten/politik/gesundheitskiosk-kiosk-konzept-lauterbach-100.html

    Wenn sowas auch noch als sozialer Fortschritt und Wiederbelebung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes verkauft wird, dann ist das schon ein starkes Stück.
    Und von all dem mal abgesehen:
    Woher will denn BGM Lauterbach die Pflegekräfte für seine vielen (1000) bundesweiten “Gesundheits-Kioske” nehmen – wenn sie schon massenhaft in Pflegeheimen und Krankenhäusern fehlen?!

  4. #5 Beobachter
    Klassengesellschaft
    1. September 2022

    @ Joseph Kuhn:

    M. E. kann man sowas machen als Zusatzangebot für “Menschen mit besonderem Unterstützungsbedarf” (Ärzteblatt), aber nicht als Ersatz für eine regelrechte medizinische Versorgung (über den Hausarzt).

    Denn sonst wird es, und sogar von vornherein und geplant, so laufen wie bei den “Tafeln”, zu denen arme Leute heutzutage von Sozialämtern und caritativen Einrichtungen/Beratungsstellen geschickt werden, um deren Lebensmittel-/Grundbedarf-Grundversorgung zu sichern.
    Sie sind zur notwendigen Institution geworden – obwohl der “Ansatz” der “Tafeln” ursprünglich ein völlig anderer war.

    Wenn sich dieser Lauterbachsche “Kiosk”-“Ansatz” durchsetzen sollte, werden arme Menschen demnächst zur outgesourcten Kiosk-Billigmedizin geschickt und finden gar keinen (“erlösorientierten”) Hausarzt mehr.
    Denn die nehmen, wenn überhaupt, nur noch privatversicherte/gutsituierte Patienten auf.
    “Guter (ärztlicher) Rat ist (halt) teuer” (das ist zynisch gemeint) – und teuer ist auch, besonders in letzter Zeit, eine gesunde Ernährung.

    • #6 Joseph Kuhn
      1. September 2022

      @ Beobachter:

      So ist es. Warten wir mal ab, in welche Richtung es sich entwickelt.

      In den 1980er Jahren gab es übrigens eine „Gesundheitsladen“-Bewegung. Die Gesundheitsläden hatten – anders als Lauterbachs Kioske – einen medizinkritischen Ansatz, heute würde man sagen, sie waren auf Empowerment statt auf Versorgung ausgerichtet, eine Folge des ersten „Gesundheitstags“ in Berlin 1980.

  5. #7 Beobachter
    1. September 2022

    @ Joseph Kuhn:

    Wenn es sich in die falsche Richtung entwickelt bzw. so, wie es ganz offen geplant ist – nämlich als Sparmaßnahme in der Gesundheitsversorgung armutsbetroffener, benachteiligter Menschen – ist es zu spät.
    Ich hoffe, dass es zu diesen Gesundheits-Kiosk-Plänen schon im Vorfeld noch viel Kritik/Protest geben wird.

    Ja, die “Gesundheitsladen-Bewegung” ist mir auch noch präsent – die gibt es in Teilen heute immer noch.
    Als medizinkritische, aufklärerische Selbsthilfe-Bewegung war/ist sie jedoch eher eine Sache des eh schon aufgeklärten, meist auch gutsituierten “Bildungsbürgertums”.

    Übrigens gab es zu Maos Zeiten in China sogenannte “Barfußärzte”, die nach einer kurzen medizinische Grundausbildung losgeschickt worden sind in meist ländliche Gebiete, in denen es überhaupt keine medizinische Versorgung gab.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Barfu%C3%9Farzt

    ————————

    Im Übrigen gibt es im “reichen Deutschland” eine Menge Leute, die überhaupt nicht krankenversichert sind und/oder, aus welchen Gründen auch immer, sich scheuen, zum Arzt zu gehen.
    Um die kümmert sich z. B. der Verein “Armut und Gesundheit in Deutschland” mit Arztmobilen und aufsuchenden Hilfs- und Gesundheitsversorgungsangeboten:

    https://de.wikipedia.org/wiki/Armut_und_Gesundheit_in_Deutschland

    https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Trabert

    Aber das sind ganz andere Ansätze, und sie sind als zusätzliche Angebote zur Gesundheitsversorgung gedacht/konzipiert/umgesetzt worden und dürfen wie gesagt m. E. niemals eine regelrechte Gesundheitsversorgung ersetzen.