Vor einigen Tagen hatte ich hier erläutert, was es mit der „Letalität“ auf sich hat und was der Unterschied zur „Mortalität“ ist. Ganz kurz: Bei der Letalität werden Sterbefälle auf die Erkrankten bezogen, bei der Mortalität auf die Bevölkerung.
Die Verwodargten dieser Welt argumentieren gerne, es gebe doch gar keine erhöhte Mortalität, die paar Sterbefälle durch oder mit Covid-19 würden statistisch gar nicht zu Buche schlagen. Wodarg zeigt dazu ausführliche Zeitreihen zur Mortalität. Der Sachverhalt, dass sich auf nationaler Ebene die Mortalitätsraten bisher nicht sprunghaft und unübersehbar erhöht haben, stimmt. Die Schlussfolgerung, dass daher Sars-Cov-2 nicht schlimmer als eine saisonale Influenza sei, eher harmloser, weil diese in der Saison 2017/2018 zu 25.000 Sterbefällen geführt habe, ist an Einfältigkeit dagegen kaum zu überbieten. Die Gründe dafür sind in verschiedenen Beiträgen auf Gesundheits-Check und andernorts inzwischen oft genug genannt worden, ich erspare mir eine weitere Wiederholung.
Stattdessen will ich kurz auf den in diesem Zusammenhang wichtigen Begriff der „Exzessmortalität“ eingehen. Man bezeichnet damit die durch einen Risikofaktor zusätzlich aufgetretene Mortalität, etwa infolge einer Influenza-Welle oder einer Hitzewelle. Die Exzessmortalität solcher Ereignisse wird nach dem Ende einer Expositionsphase berechnet, indem man die real aufgetretenen Sterbefälle mit einem durchschnittlichen Verlauf von Mortalitätsraten vergleicht. Die medizinischen Todesursachen müssen dabei nicht notwendigerweise berücksichtigt werden. So berechnet das RKI die Exzessmortalität bei der Influenza, indem die von der amtlichen Statistik registrierten Sterbefälle einer Influenzasaison mit den durchschnittlichen Mortalitätsraten unauffälliger Jahre (als Baseline) verglichen werden, unabhängig von der Diagnose. Das konkrete, recht komplizierte Verfahren ist hier nicht von Bedeutung, es reicht, das Prinzip verstanden zu haben – und das ist einfach.
In der derzeit vielzitierten Influenza-Saison 2017/2018 wurden dem RKI 1.674 Todesfälle mit Influenza-Infektion übermittelt. Das ist die Zahl, die halbwegs zu den 1.275 Covid-19-Sterbefällen passt, die zu dieser Stunde bei Worldometers für Deutschland ausgewiesen werden. Heute Abend werden es ein paar hundert mehr sein. Als Exzessmortalität für die Influenza-Saison 2017/2018 weist das RKI demgegenüber die berühmten 25.000 Fälle aus. Das sind in gewisser Weise „statistische Influenzatote“: zwar echt gezählte Sterbefälle, aber die kausale Zurechnung zur Influenza ist nicht durch ärztlichen Befund, sondern durch ein statistisches Verfahren erfolgt. So wie auch die noch berühmteren 120.000 vorzeitigen Sterbefälle infolge des Rauchens statistisch ermittelt werden, nicht durch Obduktion und ärztliche Inaugenscheinnahme einer Raucherlunge oder dergleichen. Das statistische Verfahren der Zurechnung von Sterbefällen zum Risikofaktor Rauchen ist aber ein ganz anderes als das bei der Exzessmortalität der Influenza, nämlich eines über attributable Risiken aus Studien. Eine andere Geschichte.
Mit der Berechnung der Exzessmortalität soll u.a. die Dunkelziffer der nichtdiagnostizierten Fälle aufgedeckt werden. Es gehen aber auch Sterbefälle von Personen ein, die nicht mit Influenza infiziert waren, einfach weil sie zur Menge der Sterbefälle gehören, die „mehr als normal“ sind. Das können Sterbefälle sein, die gar nichts mit einer Influenza-Infektion zu tun haben (also falschklassifizierte Fälle), oder Menschen, die indirekt durch die Influenza ums Leben gekommen sind, z.B. weil Krankenhäuser mit vielen Influenzapatienten überlastet waren und die Pflegequalität insgesamt, auch bei anderen schweren Erkrankungen, eingeschränkt war. Die Überlastung des Gesundheitswesens ist eine Gefahr auch bei Sars-Cov-2.
Der Blick in die RKI-Tabelle zeigt außerdem, dass bei 2018/19 ein „n.v.“ steht. Das heißt nicht „niemand verstorben“ – es wurden ja 954 laborbestätigte Fälle gemeldet, sondern „nicht verfügbar“. Die Exzessmortalität kann mit dem vom RKI praktizierten Verfahren erst mit erheblichem zeitlichen Verzug berechnet werden – wenn die amtliche Statistik die Fortschreibung des Bevölkerungsstands mit den Sterbefällen abgeschlossen hat. Damit das künftig schneller geht, ist im Masernschutzgesetz, einem sog. „Omnibusgesetz“, eine Regelung zum Aufbau einer Mortalitätssurveillance in Deutschland untergebracht worden. Demnach sollen ab Herbst 2021 innerhalb weniger Tage die Sterbefälle nach der Beurkundung des Sterbefalls von den Standesämtern über die Landesgesundheitsbehörden ans RKI übermittelt werden. Man könnte dann schon während einer Epidemie sehen, ob die Mortalitätsrate ansteigt oder (noch) nicht. Für Covid-19 kommt die Mortalitätssurveillance allerdings zu spät, auch wenn man vermutlich nicht lange auf erste Schätzungen zur Exzessmortalität warten muss. Zu Covid-19 rechnen viele Wissenschaftler an allem möglichen herum, sicher auch an der Exzessmortalität.
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