Vor kurzem hatte ich hier auf Gesundheits-Check beim Stichwort Exzessmortalität darauf hingewiesen, dass in der Form, in der die Exzessmortalität z.B. vom RKI bei der saisonalen Influenza berechnet wird, nicht nur Influenzafälle erfasst werden. Gleiches gilt, wenn für die Exzessmortalität bei Corona ein ähnliches statistisches Verfahren angewandt wird.

Anbei eine kleine – gerne zu ergänzende – Sammlung von Vorkommnissen, die die Exzessmortalität in der Coronakrise potentiell erhöhen oder absenken:

Erhöhend wirken beispielsweise:

• Sterbefälle bei Überlastung des Gesundheitswesens bzw. bei Unterlassen von wirksamen Seuchenbekämpfungsmaßnahmen.
• Sterbefälle durch das Unterlassen einer rechtzeitigen Inanspruchnahme medizinischer Hilfe, z.B. des Notrufs 112 bei Anzeichen von Herzinfarkt oder Schlaganfall oder verzögerter Krebs-Früherkennungsuntersuchungen.
• Sterbefälle durch das Verschieben von als elektiv eingeschätzten Operationen, die im Einzelfall doch zeitnah notwendig gewesen wären („Bettenkonkurrenz“).
• Sterbefälle infolge schnellerer Krankenhausentlassungen oder eingeschränkteren Nachsorgemöglichkeiten.
• Sterbefälle durch einschränkte Pflegeressourcen in Krankenhäusern, Heimen oder der häuslichen Pflege (bei letzterem z.B. durch Einreisebeschränkungen für ausländische Pflegekräfte).
• Sterbefälle durch die Vereinsamung alter Menschen in Heimen.
• Sterbefälle durch eine eingeschränktere heimärztliche Versorgung, z.B. schlechtere Kontrolle von Polypharmazie usw.
• Sterbefälle durch die erhöhten psychosozialen Belastungen bei gleichzeitig eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten von Krisendiensten, ggf. erhöhtes Suizidrisiko.
• Sterbefälle durch erhöhten häuslichen Alkoholkonsum.
• Sterbefälle durch erweiterte Regelungen, bei der Arzneimittelabgabe von ärztlichen Verordnungen abzuweichen.
• Sterbefälle durch kontraindizierte Selbstmedikation.

Nivellierend wirken beispielsweise:

• Weniger Sterbefälle durch eine engmaschige Beobachtung und Betreuung von Atemwegserkrankungen insgesamt.
• Weniger Sterbefälle in den Hochrisikogruppen kurze Zeit nach der Coronakrise, d.h. Ausgleich der vorzeitigen Sterblichkeit über die Zeit („Ernteeffekte“).
• Weniger Sterbefälle durch weniger Verkehrsunfälle infolge der Ausgangsbeschränkungen.
• Weniger Sterbefälle durch andere übertragbare Erkrankungen, die durch social distancing als Nebeneffekt mitverringert werden.
• Weniger Sterbefälle durch weniger Alkoholkonsum in Gaststätten, Volksfesten usw.
• Weniger Sterbefälle durch geringere Luftverschmutzung (Ruhe der Industrie, weniger Verkehr).
• Weniger Sterbefälle durch weniger Arbeitsunfälle.
• Weniger Sterbefälle durch weniger Arzneimittelkonsum mit kurzfristigen Nebenwirkungen.
• Weniger Sterbefälle durch „konkurrierende“ Todesursachen in den Hochrisikogruppen.

Welche der genannten Effekte tatsächlich auftreten und ob sie messbar zu Buche schlagen, ist eine empirische Frage. Die Forschung wird dazu sicher einiges liefern. Absehbar dürfte sein, dass auch die Exzessmortalität einen sozialen Gradienten aufweist, d.h. dass sie bei den sozial Benachteiligten höher ist. Es gibt bereits Meldungen über überdurchschnittliche Erkrankungsraten bei Afroamerikanern in den USA. Auch Covid-19 macht die Menschen nicht gleich, obwohl niemand dagegen gefeit ist.

Kommentare (14)

  1. #1 Dr. Webbaer
    10. April 2020

    Howdy, Herr Dr. Joseph Kuhn.
    Dr. Webbaer sieht schon, Sie bleiben als Gesundheitswissenschaftler zäh an dieser Entwicklung dran, kann im Moment allerdings nicht alle von Ihnen dankenswerterweise in dieser Inhalteeinheit bereit gestellten Texte zK nehmen und verbleibt mit der Bitte oder Frage, ob Sie zur aktuellen (und sich tagesaktuell sozusagen noch ändernden) Datenlage auf einen Text verweisen könnten, der die Individualrisiken in Abhängigkeit anderer Parameter (“Vorerkrankung” etc.) gut beschreibt.
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Webbaer

  2. #2 RainerO
    10. April 2020

    Mir fällt spontan noch steigende häusliche Gewalt ein, die in Österreich bereits belegt zu sein scheint.

  3. #3 Joseph Kuhn
    10. April 2020

    @ Webbär:

    “Individualrisiken”

    Siehe z.B. im Sars-Cov-2-Steckbrief des RKI den Abschhnitt über Risikopersonen: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2

    @ RainerO:

    “häusliche Gewalt”

    Ich hatte überlegt, ob ich es hinschreiben soll, war mir dann aber unsicher, ob es auch eine Zunahme von Sterbefällen durch häusliche Gewalt gibt.

    Ein anderer Punkt, bei dem ich gezögert habe, sind denkbare Sterbefälle durch weniger Bewegung. Aber zum einen man sieht derzeit sehr viele Menschen joggen, radeln und spazierengehen, zum anderen weiß ich nicht, ob es bei gesunden Menschen da kurzfristige Effekte auf die Sterblichkeit gibt. Bei Heimbewohnern beispielsweise, die nicht mehr rausgeführt werden, muss man damit durchaus rechnen, das fiele dann unter die eingeschränkten Pflegeressourcen.

  4. #4 RainerO
    10. April 2020

    @ Joseph Kuhn
    Wenn es um direkte Todesfälle geht, gehört das eventuell nicht unmittelbar dazu. In Österreich wird über vermehrte Anrufe bei den einschlägigen Hotlines, mehr Betretungsverbote, etc. berichtet.

  5. #5 LasurCyan
    10. April 2020

    Eine Frage beschäftigt mich bei der Klassifizierung: Wie genau wird das eigentlich im TodesEinzelfall ‘gemessen’, woran Jemand* gestorben ist? Ich habe wirklich nicht die geringste Ahnung, aber vermutlich gibt es da einen bias zwischen den Extremen (meinetwegen bspw. Kopfschuss vs. Multiorganversagen eines betagten Menschen)?

    • #6 Joseph Kuhn
      10. April 2020

      @ LasurCyan:

      “Wie genau wird das eigentlich im TodesEinzelfall ‘gemessen’, woran Jemand* gestorben ist?”

      Genau ist da leider gar nichts, weder bei Corona noch sonst. Deine Vermutung, dass es je nach Diagnose unterschiedlich ist, ist völlig korrekt. Siehe kurz dazu hier im Blog und etwas ausführlicher im Bundesgesundheitsblatt 12/2019.

  6. #7 LasurCyan
    10. April 2020

    Siehe kurz dazu

    Danke, Joseph, das hilft meinem Verständnis auf die Sprünge.

  7. #8 Titus von Unhold
    11. April 2020

    @5 Das machen Epidemiologen indem sie Krankenakten, Obduktionsberichte und Todesscheine auswerten und DALYS berechnen. Das wurde kürzlich in SWR2 Wissen thematisiert: https://www.swr.de/swr2/wissen/swr2-wissen-2020-03-11-100.html

    • #9 Joseph Kuhn
      11. April 2020

      @ Titus von Unhold

      “Das machen Epidemiologen”

      Epidemiologen machen keine Leichenschau. Die Leichenschau und die Eintragung auf der Todesbescheinigung macht immer ein Arzt.

      “indem sie Krankenakten, Obduktionsberichte und Todesscheine auswerten”

      Die Bestimmung der Todesursache bei der Leichenschau ist die Grundlage für die Eintragung auf der Todesbescheinigung, nicht umgkehrt. Krankenakten gibt es bei Sterbefällen in Krankenhäusern, Obduktionsberichte nur in seltenen Fällen und sie kommen später als ergänzende Information dazu.

      “und DALYS berechnen”

      Das machen Epidemiologen, das hat aber nichts mit der Leichenschau zu tun.

      “Das wurde kürzlich in SWR2 Wissen thematisiert”

      Und es wäre gut gewesen, nicht nur zu verlinken, sondern auch zu lesen, was da steht.

  8. #10 Bbr
    Niedersachsen
    11. April 2020

    Ich stelle es mir ziemlich schwierig vor, die beschriebenen „Ernteeffekte“ aus der Statistik rauszurechnen, besonders bei der Grippe. Bei einer Grippewelle sterben mehr Menschen als sonst, im Jahr darauf dafür weniger als ohne diese Grippewelle. Die Leute können ja nicht zweimal sterben. Nimmt man einfach die Differenz zwischen den Jahren, zählt man daher einige Fälle doppelt. Und da es die Grippe schon immer gab, weiß man eigentlich gar nicht, wie die Sterblichkeit und die Lebenserwartung der Menschen ganz ohne Grippe wäre. Ich habe daher nicht allzuviel Vertrauen in die statistisch bestimmte Zahl der Grippetoten. Bei Corona ist es einfacher, da kann man mit der Zeit vorher vergleichen.

    • #11 Joseph Kuhn
      12. April 2020

      @ Bbr:

      Die Influenza schlägt je nach Saison mal stärker, mal schwächer zu Buche, das lässt sich unabhängig von der Exzessmortalität an anderen Daten gut nachvollziehen. Am besten lesen Sie es mal nach. “Ernteeffekte” spielen für die Exzessmortalität bei Influenza nur eine Rolle, wenn die vorgezogenen Sterbefälle innerhalb der Saison ausgeglichen werden, es werden ja keine ganzen Jahre betrachtet. Bei Corona gibt es möglicherweise keine Saison, daher wird das nicht einfacher, sondern schwieriger.

  9. #12 RainerO
    25. April 2020

    Tja, ein erhoffter Nebeneffekt, der dafür sorgen hätte können, dass weniger Verkehr weniger Verkehrstote ergäbe, ist in Österreich zumindest derzeit nicht eingetreten.
    Der Grund: Durch die leeren Straßen fühlten sich die Raser besonders ermutigt, veranstalteten zahlreiche Hochgeschwindigkeitsverfolgungsjagden auch in Innenstädten und verursachten in den letzten Wochen zahlreiche Unfälle und auch Tote.
    Das ergibt im Vergleichszeitraum zum Vorjahr kaum einen Unterschied bei den Verkehrstoten, obwohl in den letzten 6 Wochen deutlich weniger auf den Straßen los war.

  10. #13 Struppi
    27. April 2020

    Die erhöhte Sterblichkeit könnte an einer erhöhten Anteil einer Erbkrankheit dieser Gruppe liegen: In Verbindung mit einer bislang auch empfohlenen Behandlung. Also weniger an einem sozialen Unterschied.

    https://de.wikipedia.org/wiki/Glucose-6-phosphat-Dehydrogenase-Mangel#Epidemiologie_(Vorkommen)

  11. #14 RainerO
    27. April 2020

    @ Struppi
    Aber wenn dem so ist, warum sollten die behandelnden Ärzte davon nichts wissen?
    Gibt es auch eine Quelle zu dieser Vermutung?