Vor einem Monat hatte ich auf Gesundheits-Check ein paar Papiere verlinkt, die für eine kritische, aber von Vernunft geprägte Kommentierung der Corona-Politik stehen. Darunter war auch ein Papier einer Autorengruppe um Matthias Schrappe, früher im Sachverständigenrat Gesundheit. Das Papier hatte, wie auch andere Stellungnahmen, eine Verbesserung der Datenlage und eine daran orientierte Vorgehensweise in der Bekämpfung der Seuche gefordert, vor allem auch mit Blick auf die enormen sozialen und politischen Folgen des Lockdowns. Jetzt hat diese Gruppe, in der Zusammensetzung leicht verändert, ein zweites Thesenpapier vorgelegt. Im Wesentlichen führt es die Argumentation des ersten Papiers fort. Es bemängelt, dass nach wie vor steuerungsrelevante Daten fehlen, dass die Kommunikation anhand vorhandener Daten zuweilen wenig Orientierung über den Handlungsbedarf gibt und die seuchenpolitischen Maßnahmen noch immer nicht hinreichend zielgenau sind, um die Schutzwirkung zu optimieren und die Folgeschäden gering zu halten.
Dass die Coronapolitik nicht alternativlos ist, zeigen die gleichermaßen rückläufigen Infektionszahlen in Ländern mit unterschiedlichen Maßnahmenbündeln – die aber offensichtlich ähnliche Effekte haben. Etwas vereinfacht: Gegen Hunger hilft ein Salat genauso gut wie ein Schnitzel, und beides zusammen natürlich auch.
Das Papier ist ziemlich lang geraten, aber die Prominenz der Autoren sorgt dafür, dass es wie sein Vorgänger trotzdem genug mediale Aufmerksamkeit bekommt. Das ist gut so, wir brauchen solche Stimmen.
Was wir dagegen nicht unbedingt brauchen ist das Narrativ vom Kritik-Tabu, die Andeutung von Motiven hinter der Corona-Politik, die man uns nicht sagen würde, unbelegte Behauptungen vom harmlosen Virus – und Kritik, die selbst nicht mit Kritik umgehen kann, indem sie sich prophylaktisch zum Opfer des Mainstreams stilisiert – jede Kritik würde ja sofort als Verschwörungstheorie abgetan. Ein Beispiel dafür liefert gerade Harald Walach, kein Unbekannter hier im Blog. Jetzt hat er sich von „Rubikon“ interviewen lassen, einem der Kanäle, die sich als Kämpfer gegen einen je nach Bedarf imaginierten Mainstream verstehen. Wolfgang Wodarg war auch schon Gast dort.
Walach stellt wie andere kritische Beobachter die berechtigte Grundfrage, ob der Lockdown nötig war und ob die Angst vor dem Coronavirus im Vergleich zu anderen Risiken nicht unangemessen groß ist. Die kann er aber nicht gut einschätzen. Bei Minute 4 spricht er z.B. von 10.000 Toten durch Autounfälle im Jahr (im unterlegten Text ist von „Haushaltsunfällen“ die Rede). Es sind nicht einmal halb so viele Verkehrstote. Solche Risiken, so Walach, würden wir „mit links“ nehmen. Ausgerechnet bei den Autounfällen stimmt das aber nicht, für die Verkehrssicherheit wird ein wirklich großer Aufwand getrieben. Die Toten durchs Zigarettenrauchen hätten schon eher gepasst, aber das nur nebenbei. Er widerspricht sich nämlich ein paar Minuten später auf ganz andere Weise selbst. Etwa bei Minute 13 kommt er im Zusammenhang mit dem Historiker Harari zur These, wir würden den Tod abschaffen wollen, es dürfe nicht mehr gestorben werden und daher würde man das Virus mit allen Mitteln bekämpfen. Wie das dazu passt, dass wir die Verkehrstoten „mit links“ nehmen, oder die Influenzatoten, die er vorher ebenfalls angesprochen hat, erschließt sich vermutlich nur Fachleuten des assoziativ mäandernden Daherredens.
Statt konkreter Verbesserungsvorschläge für die Coronapolitik macht Walach lieber Vorschläge, die den Tod möglicherweise bei uns willkommen heißen. Bei Minute 9:30 erklärt er die Hoffnung auf einen Impfstoff als „absurd“, das würde „jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehren“ und sei „pure Ideologie“. Bei Minute 17 folgt dann noch der Aufruf zum Rechtsbruch: Alles, was man jetzt tun könne, sei, sich mit anderen zusammenzuschließen und „diese ganzen Regeln zu ignorieren“. Die Gefahr, dass dann etwas passiert, sei gering. Sein Wort in Gottes Ohr. Dafür fehlt mir dann doch das Vertrauen in einem Mann, der bei dem Thema gern mal Kraut und Rüben durcheinanderbringt.
Um mit etwas Positivem zu enden: Genauso lesenswert wie das Schrappe-Papier ist ein Arbeitspapier von Bernd Röhrle, einem Urgestein der psychologischen Präventionsforschung, zu den psychosozialen Folgen von Katastrophen. Er hat viel Material aus der Forschung über frühere Katastrophen zusammengetragen und leitet daraus Empfehlungen für den Umgang mit der Coronakrise ab. Eine hilfreiche Diskussionsgrundlage zu diesem Handlungsfeld, das uns sicher die nächste Zeit noch sehr beschäftigen wird.
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