Was können wir wissen?

Vor ein paar Tagen hatte ich hier eine Ifo-Analyse zur Frage der Übersterblichkeit durch Corona thematisiert. Eine Analyse, die enorme mediale Aufmerksamkeit bekam – und die bis heute nicht veröffentlicht ist. Das ist seitens des Ifo keine gute wissenschaftliche Praxis und seitens der Medien, die offensichtlich eine Pressemitteilung ungeprüft übernommen haben, keine gute journalistische Praxis.

Interessanter als die empirischen Befunde ist an der Ifo-Analyse allerdings ein methodischer Punkt: Welche Rolle spielt Wissen in der Wissenschaft? Einerseits muss Wissenschaft offen sein für Neues, sonst wird sie dogmatisch, andererseits wäre sie keine Wissenschaft, wenn sie kein Wissen schaffen würde und man wäre hinterher so klug wie vorher.

Dieses Spannungsfeld prägt auch das aktuelle Schwerpunktheft des Bundesgesundheitsblatts „Medizinische Interventionen zwischen Mythos und Evidenz“ – manchmal nicht nur reflexiv, sondern auch performativ. Einer der Beiträge, von Norbert Schmacke, ausgewiesener Homöopathiekritiker, behandelt die Homöopathie. Er bezeichnet sie etwas süffisant, aber dem Stand der Wissenschaft entsprechend, als Heilslehre „ohne Substanz“. Dazu gibt es im gleichen Heft einen Kommentar von Harald Walach, ausgewiesener Homöopathiebefürworter. Man kann darüber streiten, ob dieses Ausbalancieren an dieser Stelle eine gute Idee war und dem Nachdenken über „Mythos und Evidenz“ förderlich, man kann dazu übrigens auch in Form von Leserbriefen streiten.

Ich will lieber auch hier wieder die Frage nach der Rolle des Wissens aufgreifen. Keine Angst, es wird keine philosophische Höhentour, in einem Blogbetrag kann man 2.500 Jahre Philosophiegeschichte zum Thema „Wissen“ von Platon bis Edmund Gettier ohnehin nicht bewältigen. Aber einen kleinen Stein des Anstoßes im Kommentar von Harald Walach will ich aufgreifen. Er geht nämlich ganz explizit auf das Verhältnis von Wissen und Unsicherheit ein. Vor einigen Jahren hatte der Wissenschaftsjournalist Christian Weymayr argumentiert, der Homöopathie fehle es an der nötigen „Scientabilität“, um sich weiter mit ihr zu beschäftigen. Es ging ihm darum, dass einfach zu viel Naturwissenschaft gegen sie spricht, um sie in klinischen Studien mit den weicheren Methoden der evidenzbasierten Medizin immer neu zu untersuchen und so immer aufs Neue Studien zu produzieren, die mal etwas für die Homöopathie sprechen, mal etwas dagegen, weil das eben das Wesen statistischen Schwankens um den Befund keiner Wirksamkeit über Placebo hinaus ist.

Walach hat Weymayrs Scientabiltätskonzept schon 2004 in der Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität im Gesundheitswesen (ZEFQ, 08 (2014), 80.e1—80.e3) bekrittelt und wiederholt diese Kritik nun im Bundesgesundheitsblatt (S. 549):

„Wenn man dieses Prinzip universell anwenden würde, dann wäre das eine Ex-cathedra-Entscheidung gegen jegliche Innovation, würde alle unverhofften neuen Erkenntnisse verunmöglichen und damit genau das, was eigentlich Wissenschaft ausmacht. Es ist unmittelbar einsichtig, dass das kein Vorschlag für wissenschaftliches Vorgehen sein kann.“

Was sollten wir wissen?

Dem ist natürlich nicht so. Es ist vielmehr unmittelbar einsichtig (nur nicht jedem), dass Wissenschaft nicht wie im Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ immer wieder so tun kann, als wisse man nichts. Wenn das das Ergebnis von Wissenschaft wäre, sollte man damit aufhören, weil sie ja zu nichts führt. Richtig ist, dass empirische Gesetze immer nur auf Bewährung bestehen, das ist Popper für Anfänger. Aber ebenso richtig ist, dass unser Wissen (vielleicht auch parallel dazu unser Unwissen) zunimmt. Davon zeugt der wissenschaftlich bereicherte Alltag der Smartphone-Benutzer ebenso wie die Fülle des Wissens zwischen den Buchdeckeln der Bibliotheken. Natürlich kann man immer neu forschen, ob nicht doch ein perpetuum mobile funktioniert, natürlich kann man immer neu forschen, ob uns Geister aus dem Jenseits Botschaften senden, oder ob Nichts therapeutisch wirkt, aber ist das gut investierte Zeit?

Ja, Galilei, Kopernikus oder Einstein haben feste Weltbilder umgestürzt, aber sie haben nicht von vorn anfangen, sie waren Riesen auf den Schultern von Zwergen, und vorherigen Riesen. Und gerade im Gesundheitswesen sollte man vorsichtig mit dem Galilei-Gambit sein, es gibt zu viele selbsternannte Galileis, die ihre Patienten umbringen, weil sie angeblich alles ganz neu denken. Der Einwand, dass auch die „Schulmedizin“ viele Leichen im Keller hat, benennt zwar einen richtigen Sachverhalt, aber vergisst, dass dieser Einwand doch gerade auf gewonnenem Wissen beruht. Wer möchte denn, dass Contergan wieder als Beruhigungs- und Schlafmittel bei Schwangeren eingesetzt wird, weil es doch sein könne, dass alles ganz anders war und man keine „Ex-cathedra-Entscheidung gegen jegliche Innovation“ treffen dürfe?

Das Spannungsfeld zwischen Vertrauen in gewonnenes Wissen und Offenheit gegenüber möglicher Revision dieses Wissens kann nicht nach einer Seite aufgelöst werden. Wer mit dieser Unsicherheit nicht umgehen kann, wird zum Ignoranten der einen oder anderen Art.

Walachs Kommentar krankt noch an anderen Punkten, die tendenziös oder schlicht falsch sind. Nur ein Beispiel, ich will die Homöopathiedebatte nicht wieder von vorn anfangen: Walach behauptet, homöopathische Arzneimittel, die eine Zulassung (und nicht nur eine Registrierung) anstreben, müssten „Wirksamkeitsnachweise in placebokontrollierten randomisierten klinischen Studien oder mindestens Vergleichsstudien erbringen.“ Walach ist Mitglied der Kommission D des BfArM, die für homöopathische Arzneimittel zuständig ist. Das BfArM stellt in seinem Jahresbericht 2017/18 auf S. 41 unmissverständlich fest: „Bislang wurde jedoch noch kein homöopathisches Arzneimittel durch das BfArM zugelassen, bei dem sich der Antragssteller auf eine zum Beleg der Wirksamkeit geeignete Studie berufen hätte“. Auch dieses Wissen sollte Walach nicht ignorieren, bei aller Offenheit für Neues, und schon gar nicht sollte er Ignoranz zum wissenschaftstheoretischen Prinzip erheben.

Kommentare (17)

  1. #1 Spritkopf
    28. Mai 2020

    Ich finde Walachs Einwand richtig und stoße jeden Tag als Gravitationsexperiment eine Kaffeetasse vom Tisch, um zu prüfen, ob sie in der Luft stehen bleibt oder in Richtung Zimmerdecke fliegt. Alles andere wäre eine Ex-cathedra-Entscheidung gegen Innovation in der Physik.

  2. #2 Richard
    28. Mai 2020

    Herr Kuhn,
    haben Sie eigentlich etwas über die Homöopathie-Studie gehört, die das Bay. Gesundheitsministerium auf Wunsch des Landtages in Auftrag geben soll?

  3. #4 roel
    28. Mai 2020

    @Joseph Kuhn Ich komme zur Zeit kaum zum Kommentieren, möchte mich aber für die tollen Beiträge und Denkanstöße bedanken. Sie helfen den Kopf von anderen Dingen kurzfristig zu befreien und mit anderen Gedanken zu befassen. Danke!

    Harald Walach lebt von der Homöopathieforschung, das kann ein Grund sein, sich dafür auszusprechen. Wenn ich es richtig sehe, kann er Homöopathie aber auch nicht erklären (Abseits der Placebowirkung) und sollte sich irgendwann die Sinnlosigkeit seiner Forschung eingestehen. Wie Spritkopf schon schreibt, die Tasse wird immer nach unten fallen. Auch die 7.555.878.251ste.

  4. #5 Basilios
    Honzuki no Gekokujou
    28. Mai 2020

    Joseph, mir geht es gerade wie roel. Kaum Zeit zum kommentieren, aber ich lese trotzdem fleißig mit und erfreue mich an meinem Kenntnisgewinn und wertvollen Denkanstößen.
    Besonders gelungen finde ich Dein Gleichnis:

    Wer möchte denn, dass Contergan wieder als Beruhigungs- und Schlafmittel bei Schwangeren eingesetzt wird, weil es doch sein könne, dass alles ganz anders war und man keine „Ex-cathedra-Entscheidung gegen jegliche Innovation“ treffen dürfe?

    So habe ich das noch nie betrachtet. Das ist ein verdammt gutes Argument.

  5. #6 2xhinschauen
    https://www.homöopedia.eu
    28. Mai 2020

    Walach behauptet, homöopathische Arzneimittel, die eine Zulassung (und nicht nur eine Registrierung) anstreben, müssten „Wirksamkeitsnachweise in placebokontrollierten randomisierten klinischen Studien oder mindestens Vergleichsstudien erbringen.”

    Ein böswilliger Rezipient könnte Walachs Aussage für absichtlich falsch, also ein Lüge halten. Als Mitglied der Kommission D ist er an der Zulassung(!) homöopathischer Präparate auch in jüngster Zeit beteiligt. Möglich macht das eine Übergangsregelung des Arzneimittelgesetzes von 1976, die unverständlicherweise nie beendet wurde. Für dieses Prozedere reicht bei Homöpathika als “Evidenz” eine “Monographie” von anno dunnemals, in der auf 1 Blatt Papier nichts weiter drinsteht, als dass die Ursubstanz X nach homöopathischer Überlieferung gegen Symptom Y eingesetzt wird. Punkt. So nachlesbar in alten Bundesanzeigern. Der Antragsteller darf für sein D6-Zeug dann mit “zugelassen”, “wirksam bei Y” und “Wirksamkeit vom BfArm geprüft” werben, wobei letzterer Satz perfide, aber leider nicht falsch ist.

  6. #7 Spritkopf
    28. Mai 2020

    Homöopathie, das ist kein totes Pferd mehr, von dem man vielleicht mal absteigen sollte. Das ist ein Skelett, von dem die Würmer schon vor langer Zeit das letzte Fitzelchen Fleisch heruntergeschabt haben.

    Aber wie heißt das Sprichwort noch gleich? “Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, sorge für einen bequemen Sattel – es könnte ein langer Ritt werden!”

  7. #8 noch'n Flo
    Schoggiland
    29. Mai 2020

    @ Spriti:

    Genialer Spruch – von wem stammt der?

  8. #9 Spritkopf
    29. Mai 2020

    @Flo

    Laut Tante Google von einem Frank Menzel. Mehr weiß ich auch nicht.

  9. #10 Kyllyeti
    29. Mai 2020

    Also ich schwör auf Equus mortuus C30.
    Damit dringst du geistig in Regionen vor, in denen noch nie ein Mensch zuvor war
    (und das allerdings auch aus guten Gründen).

  10. #11 2xhinschauen
    29. Mai 2020

    Bei Remedia gibt es Globuli aus Tyrannosaurus Rex. Ist das tot genug?

    https://www.remedia-homoeopathie.de/tyrannosaurus-rex/a863

    • #12 Joseph Kuhn
      29. Mai 2020

      @ 2xhinschauen:

      Hilft vermutlich gegen Aussterben. Die Firma wirbt übrigens damit, dass sie ein “eigenes Labor für Qualitätssicherung und Forschung” hat. Also, bitte erst mal ganz unbefangen an die Sache rangehen. Es könnte doch sein, dass die noch einen alten Tyranno-Schinken im Kühlschrank hatten.

  11. #13 2xhinschauen
    29. Mai 2020

    Also, bitte erst mal ganz unbefangen an die Sache rangehen

    Unbedingt! Dafür spricht auch, dass Remedia trotz 5000+ Präparaten im Angebot einige aus der Gruppe der Imponderabilien wie Positronium, Nordlicht und Vakuum anders als andere Lieferanten explizit /nicht/ verkauft, Zitat: “Dieses Mittel wird in der homöopathischen Literatur erwähnt, klassische HomöopathInnen und ApothekerInnen distanzieren sich jedoch davon. Dieses Mittel ist bei Remedia nicht erhältlich.” Da T.Rex da offenbar nicht dazugehört, muss es die interne Seriösitätsprüfung ja bestanden haben.

    Leider habe ich noch keine Arzneimittelprüfung und auch keine Information über den Herstellungsprozess gefunden. Da ist Remedia gewiss nicht weniger kreativ als der werte Wettbewerb.

    Sachdienliche und ernstgemeinte Hinweise sind sehr willkommen.

  12. #14 rolak
    29. Mai 2020

    Ich weiß gar nicht, was ihr habt – es gibt doch tonnenweise Knochen von diesen Viechern.
    Und bei dem immens kleinen Rohstoffbedarf der Branche bräuchte man doch nur mal eben mit der Nagelfeile ins Naturkunde-Museum…

  13. #15 Spritkopf
    29. Mai 2020

    @rolak

    Viel zu kompliziert. Man nimmt einen 32-Zoll-Monitor und zeigt darauf formatfüllend dieses Bild.

    Vor den Monitor wird eine Flasche mit 500 ml Alkohol-/Wasserlösung gestellt. Diese muss dort eine Nacht lang verbleiben. Die Qualitätssicherung von Remedia passt auf, dass das ausschließlich bei Vollmond geschieht.

    Und – presto! – hat man eine Dilution von Tyrannosaurus rex D1.

  14. #16 rolak
    30. Mai 2020

    Viel zu

    Da kannste mal sehen, was für ein im StandartSystemdenken materialistischster Art gefangener Betonkopf ich bin, Spritkopf – dabei hätte es mir klar sein sollen, wird doch der richtig trockene Martini hergestellt, indem der Wodka über Nacht neben dem Wermut steht.

    Das mit der angemessenen Namensgebung ist übrigens anscheinend ebenfalls jenseits meines Horizontes: statt ‘Primasprit 96%’ ein vages ‘Alkohol-/Wasserlösung’ – welch raffinierte Andeutung einer intentionellen Mischung. Mit den Zahlen hätteste aber aufpassen müssen: geheimnisvolle Verhältnisse à la 329ml (π²ml Alc/”) signalisieren intensivst erprobte Erfahrungswerte, althergebrachte Einheiten (in memoriam Hahnemann zB sächsische Malter je Elle) eine zutiefst verwurzelte Tradition.

  15. #17 RPGNo1
    30. Mai 2020

    @2xhinschauen

    Bei Remedia gibt es Globuli aus Tyrannosaurus Rex.

    https://www.remedia-homoeopathie.de/tyrannosaurus-rex/a863

    Das Mittel KANN nicht wirken oder es wird falsch eingesetzt, da es inkorrekt deklariert ist.

    Echsen (Lacertilia; auch Sauria MacCartney 1802) sind in der klassischen zoologischen Systematik eine Unterordnung der Schuppenkriechtiere (Squamata).

    Ein T-Rex ist keine Echse.