„Es ist ein gesundheitspolitischer Skandal, dass wir aktuell keine repräsentative Übersicht darüber haben, wie gesund die Bevölkerung eigentlich ist.“
Gut, seine Beispiele waren nicht die besten, Daten zum Einfluss von sozialer Lage oder Migrationshintergrund auf die Gesundheit liefert das RKI schon seit vielen Jahren. Aber es gibt wirklich Datenlücken, die man endlich einmal schließen sollte. Vielleicht könnte das geplante Bundesinstitut BIPAM ja dabei helfen.
Hier zum Einstieg 10 Themen, die Liste darf in den Kommentaren gerne verlängert werden:
1. Wie viele Menschen werden in Deutschland zwangsweise in psychiatrischen Kliniken untergebracht, wie lange, warum und wie unterscheidet sich das zwischen den Bundesländern?
2. Wie viele assistierte Suizide gibt es in Deutschland und was waren die Beweggründe der Menschen?
3. Wie viele Menschen kommen wegen eines Suizidversuchs ins Krankenhaus?
4. Wie viele Heilpraktiker gibt es in Deutschland und was tun sie?
5. Wie sieht in Deutschland die Verteilung der krankheitsbedingten Frühberentungen nach Berufen aus?
6. Wie hoch sind die Arbeitsunfallraten nach Branchen für die einzelnen Bundesländer?
7. Wie hoch ist kassenartenübergreifend der Krankenstand in den Bundesländern?
8. Wie viele Frauen trinken Alkohol in der Schwangerschaft, ein Gläschen, oder auch mehr? Wie viele Kinder kommen dadurch jährlich mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen auf die Welt?
9. Wie viele Kinder leiden psychisch, weil sie in armen Familien aufwachsen?
10. Wie viel Geld wird auf der Ebene der Bundesländer für Prävention ausgegeben?
Mich persönlich würde außerdem interessieren, wie viele Leute namentlich mehr Landes-Gesundheitsminister als Fußballtrainer kennen. Aber das ist vielleicht eher etwas für Günther Jauch bei „Wer wird Millionär“ als fürs BIPAM.
]]>Wir nähern uns damit sichtlich dem Doppelten der berühmten Zahl 42. Was immer das bedeuten mag. Vielleicht ist Corona aber auch vorher schon Geschichte.
]]>Gestern hat er den Kongress „Armut und Gesundheit“ eröffnet. Den 29. Kongress inzwischen. Im letzten Jahr war Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier da. Das zeigt an, wie relevant der Kongress inzwischen für die Politik geworden ist, dass er aus der Nische der Randgruppenthemen herausgefunden hat, und natürlich auch, dass Politiker versuchen, damit zu punkten. Schon kurz nach Lauterbachs Rede waren einzelne Themen daraus in den Medien, ohne wie sonst so oft begleitet von kritischen Kommentaren.
Daher übernehme ich das an dieser Stelle einmal.
Interessant an seinem Auftritt fand ich, dass er sich einmal mehr vor allem als Wissenschaftler inszeniert hat, und weniger als Politiker. Er hat wie so oft Studien referiert, diesmal eben zur Relevanz sozialer Einflussfaktoren sowie des Klimawandels auf die Gesundheit.
Die Botschaft ans Plenum der Kongressbesucher:innen: Ich bin ganz auf eurer Seite, ich bin einer von euch.
In diesen Rahmen hat er dann einige seiner aktuellen politischen Vorhaben gesetzt und z.B. die geplanten Gesundheitskioske oder die anstehende Krankenhausreform als Antworten auf die soziale Ungleichheit von Gesundheitschancen interpretiert. Den Gesundheitskiosken, die mit dem Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz kommen sollen, ist das in der Tat explizit so ins Auftragsbuch geschrieben. Sie sollen in sozial schwachen Regionen als niedrigschwelliges Angebot der Gesundheitsberatung und der Weitervermittlung ins Versorgungssystem eingerichtet werden. 1000 solche Gesundheitskioske sollen es einmal werden. So sinnvoll ein solches Angebot sein kann, wenn es gut gemacht und gut vernetzt ist: Wie viel Gesundheitskioske zum Abbau sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen beitragen werden, darüber kann man kontrovers diskutieren. Man muss es vielleicht nicht als den berühmten Tropfen auf den heißen Stein schlechtreden, sondern könnte es als einen weiteren Mosaikstein in einem Gesamtbild sehen – leider kennt niemand das Gesamtbild. Viele Kritiker sehen daher in den Gesundheitskiosken nur eine weitere Extrawurst im System, mit neuen Schnittstellen, statt dass die Regelversorgung besser auf die sozial Benachteiligten ausgerichtet würde, z.B. was eine stärkere Steuerung der Niederlassung von Ärzt:innen oder sozialmedizinische Angebote der Gesundheitsämter angeht. Dass Ärzt:innen bevorzugt in wohlhabendere Regionen gehen, ist aus deren Sicht natürlich nachvollziehbar, aber wäre hier nicht über eine Reform des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen zu reden? Ein Minenfeld, Gesundheitskioske sind nicht ganz so brisant.
Etwas merkwürdig war Lauterbachs Einlassung, auch durch die geplante Krankenhausreform würde sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen verringert, weil vor allem in den kleineren, nicht gut ausgestatteten Häusern ärmere Menschen behandelt würden. Gibt es dazu wirklich Daten? Gilt das auch für die vielen kleinen Kliniken in München?
Wie dem auch sei. Hier will ich nur darauf hinweisen, dass ich gerne mehr vom Politiker Lauterbach gehört hätte: Wie stellt er sich eine systematische Strategie zum Abbau sozial bedingter Ungleichheit von Gesundheitschancen vor? Wie dabei die Gewichtung von neuen medizinischen Versorgungsangeboten gegenüber einer besseren Primärprävention durch ausreichende Löhne, gute Bildung, wirksamen Arbeits- und Umweltschutz, die Reduktion von Tabak- und Zuckerkonsum usw.? Hat er wirklich Ideen für eine Nationale Public Health-Strategie oder bleibt es bei einem Bundesinstitut für Prävention „in der Medizin“, also womöglich einem Fokus auf Früherkennung von Krankheiten? Wie gedenkt er, darüber mit dem Finanzminister zu sprechen? Hat er den Bundeskanzler auf seiner Seite? Wie versucht er, die in der Öffentlichkeit mit wenig Aufmerksamkeit gesegneten Public Health-Themen trotz Ukrainekrieg auf die Agenda des Kabinetts zu hieven? Dazu hat Lauterbach leider so gut wie nichts gesagt, einen 10-Punkte-Plan gegen sozial bedingte Ungleichheit von Gesundheitschancen hatte er nicht in der Tasche. Der Politiker Lauterbach blieb im Hintergrund.
Lauterbach hat statt dessen einmal mehr gezeigt, dass er mit der „Epistemisierung des Politischen“ (Bogner) zu punkten versteht. Das Kongress-Plenum hat lange applaudiert. Statt politischer Autorität wollte er wissenschaftliche Autorität ausstrahlen. Sein Job als Minister ist aber ein anderer. Der Verfassungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz urteilt darüber in seinem Buch „Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht“ recht ungnädig (S. 81):
„Sich mit einer politischen Agenda und nicht mit dem eigenen fachlichen Spezialwissen zu identifizieren, ist eine persönliche Befähigung, die nicht alle haben. Ohne das funktioniert kollektive Aggregation und Durchsetzung von Interessen nicht. Politische Agenden in wissenschaftlichem Gewand sind (bestenfalls) schlechte Wissenschaft, wissenschaftliches Spezialistentum im politischen Gewand ist (bestenfalls) schlechte Politik.“
Aus diesem Rollenkonflikt hat Karl Lauterbach bisher nicht herausgefunden und vielleicht ist das mit ein Grund dafür, dass seine Reformen, trotz manch guter Ansätze, nicht so recht vorankommen, in der Gemengelage widerstreitender Interessen zu versanden drohen und er von erfahrenen Beobachtern als „Ankündigungsminister“ eingestuft wird.
]]>Jetzt hat der französische Präsident Macron über den möglichen Einsatz von Bodentruppen Frankreichs oder anderer westlicher Länder in der Ukraine gesprochen, offensichtlich ein Thema auf der Ukraine-Hilfskonferenz am Montagabend in Paris, unter Anwesenheit vieler westlicher Regierungschefs.
Was bedeutet das? Testet Macron die Reaktion Putins auf die Unterstützung der Ukraine bei der Handhabung von Marschflugkörpern und anderer anspruchsvoller Technik durch westliche Soldaten? Will er verklausuliert Scholz in der Frage der Lieferung von Taurus mit höchst unguten Alternativen unter Druck setzen? Ist das als Säbelrasseln einzuordnen, als etwas hilflose Botschaft an Putin, dass man der Ukraine derzeit zwar nicht genug Kriegsmaterial liefern kann und das erst recht nicht mehr nach einem Wahlsieg Trumps, dass man ihm aber trotzdem die Ukraine nicht als Raubgut überlassen will? Oder blicken wir jetzt wirklich in den Abgrund eines großen Kriegs, nur halbwach, als Schlafwandler in einem Alptraum, an dessen Ende einmal mehr ein böses Erwachen in einem zerstörten Europa steht?
Wenn man umschaltet, erfährt man, dass Bayern München Max Eberl als Sportvorstand verpflichtet hat, Cannabis legalisiert wird, der DAX immerhin bei 17.423 Punkten steht und das Wetter am Wochenende ganz schön werden soll. Möge uns wenigstens das erhalten bleiben.
]]>Der neben den kriminologischen Aspekten wohl wichtigste Streitpunkt waren die gesundheitlichen Folgen des Cannabiskonsums. Auch das ist eine Diskussion mit vielen Grautönen. Hier sei nur kurz auf die stationären Fälle hingewiesen: 2022 gab es in Deutschland 17.204 stationäre Behandlungen infolge von psychischen Störungen durch Cannabinoide. Die meisten dieser Behandlungen entfielen auf das Abhängigkeitssyndrom (8.808 Fälle), gefolgt von psychotischen Störungen (4.635 Fälle).
Die Krankenhausfälle mit diesen beiden Diagnosen haben in den letzten 20 Jahren erheblich zugenommen. Das Abhängigkeitssyndrom war 2022 fast 10 mal so häufig wie im Jahr 2000, die psychotischen Störungen waren 6 mal so häufig und die Gesamtgruppe der psychischen Störungen infolge von Cannabinoiden 5 mal so häufig. Würde man die Entwicklung nur bis zum Vor-Coronajahr 2019 betrachten, wäre die Zunahme noch höher.
Von den 17.204 Fällen im Jahr 2022 waren 305 in der Altersgruppe 5 bis unter 15 Jahre, 7.387 in der Altersgruppe 15 bis unter 25 Jahre. Mit zunehmendem Alter werden es dann weniger, in der Altersgruppe 65 und mehr waren es nur noch 70 Fälle.
Das Gesetz sieht in § 43 eine wissenschaftlich unabhängige und ergebnisoffene Evaluation der Folgen vor. Dabei sollen nicht nur Veränderungen des Konsums, sondern auch Kontextfaktoren wie die Prävention evaluiert werden. Nach 2 Jahren ist ein Zwischenbericht vorgesehen, nach 4 Jahren ein umfassender Bericht. In die Evaluation sollen „Sichtweisen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen“ einfließen.
Ich bin gespannt, wer den Evaluationsauftrag erhält, welche Rolle das geplante Bundesinstitut BIPAM dabei spielt, welche Aspekte im Einzelnen evaluiert werden, was dabei herauskommt – und wie es nach den 4 Jahren mit dem langfristigen Monitoring des Cannabiskonsums in Deutschland weitergeht. Interessant dürften auch die unterschiedlichen Entwicklungen in den Bundesländern werden. Absehbar werden ja einige Bundesländer auf einen restriktiveren Vollzug achten, andere vielleicht etwas liberaler vorgehen.
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Edit: Habe im zweiten Satz von „wird“ zum 1.4. in Kraft treten in „soll“ in Kraft treten umformuliert, da es möglich ist, dass das Gesetz den Bundesrat nicht reibungslos passiert.
Die Digitalisierung hält gerade mit Macht Einzug im Gesundheitswesen. Das gilt auch im Bereich der psychischen Gesundheit. Einen regelrechten Boom gibt es derzeit rund um Apps. Manche können bereits auf Rezept verschrieben werden. Wenn Apps erfolgreich vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte geprüft wurden, gelten sie als DiGAs, Digitale Gesundheitsanwendungen, die von Ärzt:innen und Psychotherapeut:innen auf Kosten der Krankenkassen verschrieben werden können. Es handelt sich dann rechtlich um Medizinprodukte. Etwa zwei Dutzend gibt es derzeit zur Unterstützung der psychischen Gesundheit, auch zur Hilfe bei Depressionen.
Als Vorteile werden häufig genannt: Sie können die Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken, sie ermöglichen eine zeitlich flexible Unterstützung, es gibt weniger soziale Hemmschwellen und sie sind kostengünstig. Die Verschreibungskosten gab eine Referentin der Tagung mit 192 – 620 Euro an, wobei die Hersteller im ersten Jahr die Preise selbst festlegen. Die Entwicklungskosten lägen im Bereich zwischen 3 und 4 Millionen Euro. Der Nutzen der DiGAs muss dann nachgewiesen werden, aber das geht einfacher als bei Medikamenten.
Manche der DiGAs greifen auf Verhaltensdaten zurück, z.B. kombiniert mit einer SmartWatch, die Schritte zählt, den Schlaf überwacht oder andere Daten erfasst. Für die Industrie ist das ein Wachstumsmarkt und zusammen mit der Erschließung der Versorgungsdaten und der Entwicklung von KI-Anwendungen herrscht durchaus so etwas wie Goldgräberstimmung. Nach dem Hirnforschungshype jetzt also der Digital- und KI-Hype?
Ob die DiGAs wirklich so uneingeschränkt positiv zu sehen sind, oder ob sie wie alle Mittel Nebenwirkungen haben, ob sie wie auch die herkömmlichen psychosozialen Hilfen in einem Spannungsfeld von Unterstützung und Kontrolle angesiedelt sind – und ob sie eine Mechanisierung, also eine Entmenschlichung der psychotherapeutischen Beziehung bewirken, nur eine Simulation einer menschlichen Beziehung darstellen, das waren die Kernthemen der Tagung in Tutzing.
Einige Studien zeigen, dass Chatbots manches besser können als menschliche Therapeuten, dass sie z.B. manchmal als empathischer wahrgenommen werden. Aber ist Empathie nicht eine ganz spezifische Qualität der zwischenmenschlichen Beziehung? Wie „echt“ ist die künstliche Empathie? Täuscht sie nicht nur etwas vor? Und wenn man das bejaht, weil die KI ja nicht wirklich mitfühlt, ist dieser „digitale Animismus“, wie es einer der Referenten nannte, schlimm? Zählt letztlich bei der psychischen Gesundheit nicht, wie sich die Patient:innen fühlen? Was sonst ist der Erfolgsmaßstab bei einer Depression? Oder wäre das dann wie bei der Homöopathie: wenn die Leute glauben, dass es hilft, dann sollen es die Krankenkassen eben bezahlen?
Auf jeden Fall hat es etwas zu bedeuten, wenn menschliche Therapeuten in Studien als weniger empathisch wahrgenommen werden als eine KI. Man sollte die „menschliche Beziehung“ in Therapien auch nicht zu sehr idealisieren, gerade was die Psychiatrie angeht und nicht nur, was ihre mörderische Vergangenheit angeht.
Das gilt umso mehr, als bislang auch außerhalb von therapeutischen Beziehungen immer der Mensch das absolut Unmenschliche repräsentiert hat. Überhaupt: Ist „Technik“ wirklich das ganz Andere des Menschlichen? Oder ist Technik vielleicht menschlicher als man zunächst glaubt, ein Teil des Menschseins, und die KI projiziert menschliche Fähigkeiten nur in eine neue Realisationsform?
Wie dem auch sei: Menschliche Beziehungen in ihrer Gesamtheit können DiGAs und ihre Verwandten nicht ersetzen. Wir sind keine Zylonen. Aber sie können wohl manche Aufgaben erledigen, die bisher als unhintergehbar in der menschlichen Beziehung zwischen Therapeut und Patient verortet wurden.
DiGAs bzw. andere digitale Produkte werden, das zeichnet sich ab, ihren Platz im Gefüge der psychosozialen Versorgung finden. Man wird im Laufe der Zeit klarer sehen, wofür sie geeignet sind, wofür nicht und welche regulatorischen Leitplanken nötig sind, damit der Nutzen für die Industrie nicht größer ist als der für die Patienten. Dazu sind Studien nötig, vor allem auch industrieunabhängige Studien, die Nutzen und Risiken in konkreten Anwendungsfeldern untersuchen, dabei auch partizipativ Patient:innen und Therapeut:innen einbinden, und dazu sind Gesprächsforen wie die in Tutzing nötig, um die umwälzenden technischen Entwicklungen zu verstehen und einzuordnen. Denn über ihre spezifischen Leistungen hinaus verändern insbesondere KI-gestützte Anwendungen natürlich auch das Selbstbild der Menschen. Dagegen braucht es keine KI, um vorherzusehen, dass das nicht die letzte Tagung zu diesem Thema in Tutzing war.
]]>Gestern hat sich der Verein „Werteunion“ auf einem Schiff auf dem Rhein zur Partei erklärt: Sie hat keinen festen Boden unter den Füßen und wo die Reise hingeht, ist offen. Es grüßt die Loreley.
Zunächst, so heißt es, will man die Lücke zwischen Union und AfD schließen, also die von der Union erklärte „Brandmauer“, die ohnehin keine ist, zur Brücke umbauen. Natürlich ganz unideologisch. Dazu im Gründungsprogramm vom 17.2.2024, erster Abschnitt „Verfassung, Recht und Entideologisierung“:
„Die WerteUnion setzt sich für eine Stärkung der freiheitlichen Demokratie und für ein Zurückdrängen des „Wokismus“ und anderer Ideologien ein, die die freiheitliche Gesellschaft und ihren Zusammenhalt beschädigen. Ein Zwang oder Druck zur Anwendung von Gendersprache und Genderideologie haben in staatlichen Einrichtungen, im öffentlichrechtlichen Rundfunk und in (Hoch-)Schulen nichts zu suchen.“
So kann man mit dem Begriff „Entideologisierung“ ideologische Duftmarken setzen – brückenbauend vom konservativen „bürgerlichen“ bis ins extreme rechte Spektrum. „Endideologisierung“ wäre die bessere Überschrift gewesen.
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk samt jeder staatlicher Finanzierung von Medien soll beseitigt werden. Gewiss wird eine radikale Privatisierung der Medien zur Endideologisierung beitragen. Danach kann man vielleicht auch Finanzverwaltung und Polizei privatisieren, das baut Brücken zu den libertären Freibeutern.
Ein wesentlicher Programmpunkt der neuen Partei ist die Begrenzung der Migration. Ein bisschen völkisches Denken baut schließlich auch Brücken zu Freunden mit alternativen Vorstellungen für Deutschland. Wirtschaftspolitisch wird das abenteuerlich:
„Der partielle Fachkräftemangel und das demographische Problem müssen vor allem durch arbeitsmarkt-, bildungs- und familienpolitische Maßnahmen gelöst werden.“
„Kinder statt Inder“ war mal ein dummer Spruch eines CDU-Ministerpräsidenten, im Jahr 2000. Viele Kinder hat der Rüttgers-Storch nicht gebracht, aber sicher so manchen Inder abgeschreckt. Der Sachverständigenrat Wirtschaft geht davon aus, dass der Arbeitsmarkt in Deutschland eine Netto-Zuwanderung von jährlich 400.000 Menschen braucht. Die Werteunion sollte ein sofortiges Verbot von Kondomen und anderen Verhütungsmitteln fordern. Dann haben wir vielleicht in 30 oder 40 Jahren die biodeutschen Nachwuchskräfte, die wir heute brauchen. Bis dahin führen diese Brücken nach Rechts ins ökonomische Nirgendwo.
Aber wirtschaftspolitischer Sachverstand geht der Werteunion eh ab:
„Der Staat muss sich wieder auf seine Kernaufgaben beschränken. Deshalb muss die Staatsquote deutlich gesenkt werden. Überflüssige Bürokratien und Behörden sind abzuschaffen. Mit der Reduktion der Staatsquote muss eine Senkung der Abgabenbelastung einhergehen. Markt und Wettbewerb dürfen nicht länger durch Bürokratie und immer mehr überhandnehmende Regulierungen und Vorschriften gelähmt werden.“
Das ist nicht Entideologisierung, sondern liberale Ideologie auf Hilfsschulniveau. Die Staatsquote hat mit den Staatsausgaben nur bedingt zu tun, mit „überflüssigen Bürokratien“ praktisch gar nichts. Zwar wird gefällig auch angemerkt, dass der Markt „kein Selbstzweck“ sei, sondern „dem Wohle aller dienen“ soll, aber wie das gehen soll ohne Regulation, darüber verliert die Werteunion lieber keine Worte. Letztlich bleibt es beim Credo aller Marktliberalen: Der Markt wird es schon richten.
In der Klimapolitik ist die Werteunion ganz aus der Zeit gefallen:
„Eine weitere Reduzierung des Kohlendioxidanteils durch Deutschland wird keine messbaren Auswirkungen auf den Klimawandel haben, aber zur Zerstörung oder Abwanderung unserer Industrien und zur Verarmung von Teilen der deutschen Bevölkerung führen. (…) Die WerteUnion fordert, dass so viele der stillgelegten Kernkraftwerke wie möglich wieder in Betrieb genommen werden.“
Beim Thema Wissenschaft positioniert sich die Werteunion als Unwerteunion:
„Entscheidend ist eine freie, offene und kritische Diskussion, bei der es keine Tabus und keine von der Kritik ausgenommenen Theorien geben darf.“
Im besten Fall heißt das, freie Fahrt für die Homöopathie an den Hochschulen, im schlimmsten Fall ist man auch offen für Rassentheorie und Remigrationsforschung. So ganz ohne Tabus.
Abschnitt 11 des Papiers behandelt dann, danach hatte ich eigentlich gesucht, die „Medizinische Versorgung, Gesundheit und Pflege“. Die neue Partei setzt sich für evidenzbasierte Medizin ein – dagegen wird niemand etwas haben, für den Ausbau geriatrischer und palliativer Strukturen in der Pflege und für eine Aufarbeitung von Corona. Fertig. Die Pflegekräfte fallen vom Himmel, Hausärztemangel, Krankenhausreform, Digitalisierung im Gesundheitswesen usw. – wozu Worte über solche Dinge verlieren, wo man sich doch schon zur Genderfrage und zur Migration geäußert hat.
An der Stelle war dann auch ich fertig. Was heute alles so als Partei durchgeht. Das hätte es unter Adenauer nicht gegeben!
]]>Lauterbach: „Die Keupstraße ist mit dem ganzen Umfeld einer der größten Umschlagplätze in Deutschland.“
Polizei: „Wir können das so nicht bestätigen.“
Lauterbach: „Die Aussage tut mir leid, sie entspricht nicht der Realität“
Beim Thema Drogen entsprechen auch sonst Lauterbachs Thesen nicht immer ganz der Realität. Gravierender ist allerdings, dass es am Ende der Legislatur womöglich bei viel wichtigeren Punkten ebenfalls eine Inkongruenz von Aussagen und Realität geben könnte.
]]>Das Ganze hat natürlich auch seine komischen Seiten. Unter den NATO-Staaten gab Luxemburg 2023 gerade einmal 0,7 % seines BIP für Rüstung aus. Das ist u.a. ein Problem des Maßstabs „Anteil am BIP“. Luxemburg hat ein relativ großes BIP – und zudem wenig Platz für Militärflughäfen und Marinestützpunkte. Wie dem auch sei, jedenfalls sind 0,7 % deutlich weniger als 2 %, das Ziel, das sich die NATO-Staaten gesetzt haben.
In Luxemburg ist nach allem, was man hört, trotzdem noch keine Panik ausgebrochen. Die Ostgrenze der NATO bilden Länder, die das 2 %-Ziel erfüllen und dass Putin Luxemburg mit Luftlandetruppen besetzen wird, ist eher unwahrscheinlich. Bedenklicher ist, dass Trump vermutlich gar nicht weiß, dass das Land zur NATO gehört.
Auf Trumps Wissenslücken vertraut man vielleicht auch in Belgien – mit 1,1 % Anteil der Verteidigungsausgaben am BIP ebenfalls fern vom 2 %-Ziel. Aber Belgien hält Trump bekanntlich für eine schöne Stadt. Ob er glaubt, dass sie in Luxemburg liegt, weiß man nicht.
Sich über Trump lustig zu machen, hat angesichts des Ernstes der Lage allerdings immer mehr von Galgenhumor. Putin oder Xi dürften sich durch Trumps Sprüche ermutigt fühlen, nach dessen Wiederwahl einmal auszutesten, was geht. Die Nachkriegsordnung, die bekanntlich in vielen Regionen der Welt ohnehin keine Friedensordnung war, ist aus den Fugen und Kriege sind auch in Europa wieder zu Instrumenten der Fortsetzung von Politik mit anderen Mitteln geworden. Keine rosigen Zukunftsaussichten – und das paradoxerweise in einer Zeit, in der die Menschheit alle finanziellen und technischen Ressourcen hätte, ihre Probleme zu lösen.
]]>Diskussion gerne auch wieder nebenan.
]]>Andererseits steht Karl Lauterbach mit den Daten selbst immer wieder auf Kriegsfuß. Beispielsweise überzeugen die Daten nicht, die er als Begründung für mehr Herzkreislauf-Prävention anführt. Auch sonst sprechen die Daten und der Minister nicht immer die gleiche Sprache.
Jetzt lobt er den Aufbau des neuen Panels „Gesundheit in Deutschland“ am RKI. Es geht um eine Studie mit ca. 30.000 Probanden, repräsentativ für die Bevölkerung ab 16 Jahren und so angelegt, dass sie auch Längsschnittbetrachtungen ermöglicht. Das ist ein guter Ansatz. Aber die Begleitmusik dazu irritiert doch sehr. Lauterbach heute im Ärzteblatt:
„Es ist ein gesundheitspolitischer Skandal, dass wir aktuell keine repräsentative Übersicht darüber haben, wie gesund die Bevölkerung eigentlich ist.“
Weiter heißt es, Lauterbach habe gesagt, dass man doch wissen müsse, wie viele Menschen psychisch oder chronisch krank sind und was Einkommen oder Migrationshintergrund damit zu tun haben. Sehr richtig. Lauterbach:
„Zu diesen Fragen wollen wir endlich belastbare Daten haben.“
Gab es solche Daten denn bisher nicht? Kennt der Minister nicht das Gesundheitsmonitoring am RKI, mit den drei Säulen KIGGS, DEGS und GEDA? Weiß er wirklich nicht, dass dort zu seinen Fragen schon seit Jahren Daten erhoben und in Gesundheitsberichten veröffentlicht wurden? Dass die Gesundheitsberichterstattung in Deutschland inzwischen einen auch international anerkannten Standard hat? Eher mangelt es daran, dass die vorhandenen Daten gesundheitspolitisch zu wenig genutzt werden. Man suche z.B. einmal die Bundestagsdebatten, in denen die Gesundheitsberichte des RKI vom jeweils amtierenden Gesundheitsminister eingebracht, von den Abgeordneten diskutiert und zur Ableitung von Gesetzesvorhaben genutzt wurden.
Vielleicht will Lauterbach aber auch nur seinem neuen Bundesinstitut BIPAM eine Art Zauber des Anfangs in die Wiege legen. Aber ob das dann wirklich so viel mehr ist als das, was es vorher auch schon gab, jedoch seit zwei Jahren nicht mehr weiterentwickelt wurde?
Unklar bleibt auch, was mit den bei KIGGS und DEGS bisher integrierten medizinischen Untersuchungen ist. Gibt es die künftig nicht mehr, sondern nur noch Befragungen? Haben wir dann weniger als bisher? Zumal bekanntlich manche Sachverhalte über Befragungen allein nicht gut zu erfassen sind. Das konnte man im Gesundheitsmonitoring des RKI immer wieder sehen, etwa am Beispiel Adipositas.
Und was ist mit den Kindern? Das Leben fängt ja nicht mit 16 Jahren an und die Kindergesundheit soll doch ein Schwerpunkt des neuen Bundesinstituts werden – hieß es. Bleibt zu hoffen, dass diese Module noch nachgeliefert werden, damit der Datenzauber am BIPAM nicht am Ende zu einem bösen Erwachen führt und belastbare Daten zur Kindergesundheit fehlen. Das wäre dann wirklich ein gesundheitspolitischer Skandal.
]]>Hans Litten hat im sog. „Edenpalast-Prozess“ 1931, bei dem es um einen Überfall einer SA-Truppe auf ein Arbeiter-Tanzlokal in Berlin im Jahr 1930 ging, als Hitler um bürgerliche Stimmen warb, Hitler als Zeugen vorladen lassen, um zu zeigen, dass hinter der bürgerlichen Fassade Hitlers ein Terror-Pate steckt.
Kurz nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wurde Hans Litten verhaftet, er kam bis zu seinem Tod trotz aller Bemühungen seines Umfelds, vor allem seiner Mutter, nicht mehr frei.
Die Feinde der Demokratie muss man als solche bloßstellen, solange sie nicht an der Macht sind. Wenn sie es einmal sind, kostet Engagement nicht nur Zeit und Mut, sondern das Leben, auch das zeigt der Fall Litten. Heute gibt es anders als damals eine breite Unterstützung für Demokratie im Bürgertum, die aktuellen Demonstrationen gegen Rechts führen es öffentlich vor Augen, eine Unterstützung quer durch die politischen Lager, auch wenn manche Politiker die Demonstrationen als „links unterwandert“ delegitimieren wollen. Insofern darf man zuversichtlich sein, dass sich Geschichte hierzulande nicht einfach wiederholt.
Mit dem zivilgesellschaftlichen Engagement gegen Rechts allein ist es aber nicht getan, die Politik muss ihre Hausaufgaben machen und die sozialen Ursachen für rechtsradikales Wählen angehen und dem scheinbar liberalen „The winner takes it all-Denken“ der letzten Jahrzehnte ein Ende setzen.
In Russland gab es leider keinen Edenpalast-Prozess mit dem Zeugen Putin, und das Theaterstück zum Fall Litten würde man dort wohl nicht mehr aufführen können. Und in den USA ist die Zukunft im Moment leider auch in viele Richtungen offen.
]]>Selbststilisierung als Opfer
„Wir waren ja damals in Umfragen sehr gut unterwegs, bis zu 19 Prozent der Bürger konnten sich vorstellen, uns zu wählen, und dann ist die Aufmerksamkeit von uns wieder weggelenkt worden.“
Deep State-Verschwörungstheorien
„Aber ich schließe nicht aus, dass diese Neugründungen teilweise gezielte Knallfrösche sind, um uns den Weg zu verbauen.“
Elitenschelte mit Anbiederung: I’m your voice
„Vor allem die Grünen entfremden sich von der Bevölkerung. Doch auch die FDP ist nicht mehr die Partei der Großbauern, Zahnärzte oder Handwerksmeister. Der heutige FDPler ist ein Grüner mit gelber Krawatte. Nur noch Schickeria.“
„Ich wollte damit ausdrücken, dass gegen die Mehrheit regiert, dass das normale Volk nicht mehr gehört wird.“
Berlin als Verfallsmetapher
„Es ist „auch traurig, was in den vergangenen Jahren aus Berlin geworden ist. (…) Es ist abgeschmiert.“
Politik nach Hausfrauenart
„Die Großmutter weiß, dass man im Herbst Kartoffeln sammeln muss, wenn man den Winter überleben will.“
Die Ausländer als Sündenbock
„Die Milliarden, die jetzt eingesammelt werden durch Agrardiesel, Klinikschließungen oder CO2-Abgabe, wurden für eine verfehlte Migrationspolitik ausgegeben.“
Klare Feindbilder
„Die Grünen sind der parteigewordene Unsinn.“
Absurde Behauptungen mit Duftmarkenfunktion
„Deshalb sage ich auch, dass der Bauern-Soli von Landwirtschaftsminister Özdemir den Hass ganz gezielt auf die Bauern lenken soll.“
Obligatorische Schenkelklopfer:
„Weil ich Kopfschmerztabletten nehme, kann ich ja nicht einfach weitersaufen.“
Selbstverständlich ist Aiwanger gegen die aktuellen Demonstrationen gegen Rechts und versucht sie zu delegitimieren:
„Diese Demos gegen rechts sind vielfach von Linksextremisten unterwandert, von Gruppen, die vom Verfassungsschutz beobachtet werden.“
Man sollte meinen, dass sich diese Rosenkranz-Rhetorik irgendwann totläuft, weil es keiner mehr hören kann. Aber vielleicht spiegelt sich darin auch so viel „gesundes Volksempfinden“ wider, das seit jeher im Kleinhirn vieler Leute lagert und gegen „die da oben“, gegen alles „Linke“ und Urbane mobilisiert werden kann, dass er damit auf Dauer Erfolg hat. Zumindest so lange nicht die großen sozialen Fragen – bezahlbares Wohnen, Pflege, Niedriglöhne usw. – angepackt werden. Die kommen bei Aiwanger übrigens kaum vor, schon gar nicht die Aspekte, für die er als Wirtschaftsminister und Teil der herrschenden Eliten selbst Verantwortung trägt.
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Nachtrag, ein paar Stunden später:
Nach der akuten Krise wurde von verschiedener Seite eine „Aufarbeitung“ gefordert. Etwas unklar blieb, was genau damit gemeint war. Es gab ja reihenweise Evaluationsstudien zu den unterschiedlichsten Aspekten der Pandemiebekämpfung, Gerichtsurteile zu einzelnen Maßnahmen und auch eine Evaluation der Maßnahmen auf der Basis des Infektionsschutzgesetzes.
Die Forderungen nach „Aufarbeitung“ kamen einerseits von Wissenschaftler:innen, die einen kritischen Blick auf die Infektionsschutzmaßnahmen entwickelt hatten, andererseits aus Milieus, die sich zunehmend als querdenkende Fundamentalopposition positionierten. Ein Stück weit mag das ein Reflex auf den zu kurz gekommenen demokratischen Diskurs in der Pandemie gewesen sein.
In letzter Zeit kam die Forderung nach einer Aufarbeitung vermehrt aus der Politik selbst. Gestern hat der Bundespräsident höchstpersönlich eine „ehrliche Aufarbeitung“ gefordert. Die Querdenker wird das aufhorchen lassen: Gab es bisher also keine „ehrliche“ Aufarbeitung? Was wurde vertuscht? Wurden doch die Sterbefälle durch die Infektion aufgebauscht und die infolge der Impfung verheimlicht? So meinte der Bundespräsident es sicher nicht, aber so werden es viele lesen. Nur – was meint er? Steinmeier weiter: „Wir haben wichtige Fragen nicht gestellt.“ Als da seien:
„Was hätten wir, trotz all der Unsicherheit und der Wucht des unbekannten Erregers, besser machen können? Wo sind wir zu streng und vielleicht übervorsichtig gewesen, und wo waren wir zu nachlässig und leichtfertig? Welche Gruppen und Bevölkerungsteile haben besonders unter den Maßnahmen zu leiden gehabt? Wer hätte mehr Hilfe und Unterstützung gebraucht? Wo haben wir mit Maßnahmen zu lange gewartet?“
Wurden diese Fragen wirklich nicht gestellt? Wurden sie nicht längst und immer wieder beantwortet, manche schon über 70 mal? Ist nicht klar, dass wir bessere Kohortenstudien gebraucht hätten, früher Studien zu den psychischen und sozialen Folgen der Pandemie und der Infektionsschutzmaßnahmen? Frühzeitig eine gute gesellschaftliche Diskussions- und Kritikkultur? Weniger akribisch ausdifferenzierte Kontaktverbote, schon gar kein Verbot, auf einer Parkbank zu sitzen oder willkürliche Beschränkungen der Teilnehmerzahl an Beerdigungen? Ist nicht hinreichend erforscht und bekannt, dass die oft genug gegen ihren Willen beschützten alten Menschen in den Heimen, die Kinder und Jugendlichen sowie Menschen in sozial schwierigen Verhältnissen besonders unter den Maßnahmen zu leiden hatten? Dass sie mehr Unterstützung gebraucht hätten, wie auch die Pflegekräfte, die bis heute die vielfach versprochene Aufwertung nicht erhalten haben? Und dass man z.B. in der zweiten Welle zu lange gewartet hat, was mit zu der hohen Zahl an Sterbefällen Ende 2020 beigetragen hat?
Unter welchen Voraussetzungen, mit welchen Ressourcen, mit welchem konkreten Auftrag würde eine politisch auf die Schiene gebrachte „ehrliche Aufarbeitung“ wirklich einen Mehrwert schaffen? Beispielsweise gegenüber dem Bericht der Expertenkommission nach § 5 (9) IfSG? Wer hat deren Bericht überhaupt gelesen? Und wer sollte den Rahmen für eine „ehrliche Aufarbeitung“ vorgeben, beraten durch wen? Ein Auftrag für das BIPAM? Für eine neue Kommission? Für ein Konsortium von wissenschaftlichen Einrichtungen?
]]>Das GVSG ist ein „Omnibusgesetz“. Es fasst mehrere Vorhaben zusammen und ändert auch mehrere Gesetze. Beim GVSG geht es im Wesentlichen um Änderungen im Recht der Gesetzlichen Krankenversicherung, dem SGB V.
Die für die GKV-Finanzen vermutlich wichtigste Änderung, die neu in den GVSG-Entwurf aufgenommen wurde, ist die Entbudgetierung hausärztlicher Leistungen. Lauterbach hatte sie vor kurzem der Ärzteschaft versprochen. Damit gibt es für diese Leistungen keine Obergrenzen mehr, Ärzte müssen nicht mehr befürchten, dass ihre Leistungen nicht mehr voll honoriert werden. Erwartungsgemäß fordern auch die Fachärzte eine Entbudgetierung ihrer Leistungen.
Bereits im vorherigen Referentenentwurf enthalten waren die Pläne des BMG, „Gesundheitskioske“ als niedrigschwelliges Versorgungsangebot einzurichten, die Gründung von „Primärversorgungszentren“ zu fördern – jetzt verschränkt mit den Gesundheitskiosken, und „Gesundheitsregionen“ als Netzwerke zu fördern. Diese drei Vorhaben sollen die Gesundheitsversorgung in der Kommune stärken und haben dem Gesetz seinen Namen gegeben. Zudem wird mit dem GVSG die Möglichkeit der Kommunen, eigene MVZs aufzubauen, erleichtert.
Gesundheitskioske, Primärversorgungszentren und Gesundheitsregionen haben ein großes Potential, die Prävention und die Versorgung vor Ort zu verbessern, es kommt aber darauf an, sie klug mit bereits bestehenden Angeboten zu verbinden, nicht zuletzt dem ÖGD, und keine Parallelstrukturen aufzubauen.
Vielleicht kann ja das BIPAM, für dessen Errichtung demnächst ebenfalls ein Gesetzentwurf vorgelegt werden soll, hier Hilfestellungen zur Zusammenarbeit erarbeiten.
Positiv sind auch die geplanten Neuerungen für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zu bewerten. Die Pflege erhält immerhin endlich ein Antrags- und Mitberatungsrecht in Angelegenheiten, die die Berufsausübung der Pflegeberufe betreffen, die Rechte der Patientenvertretung werden ebenfalls ein wenig erweitert, dito die Mitwirkungsmöglichkeiten der wissenschaftlichen Fachgesellschaften und weiterer Akteure.
Interessant ist des Weiteren, dass die Kranken- und Pflegekassen künftig Daten über ihre Leistungsqualität vorlegen müssen, z.B. über Genehmigungen und Ablehnungen von Leistungen oder über die Bearbeitungsdauer von Anträgen. Man wird abwarten müssen, ob damit wirklich wie beabsichtigt mehr Transparenz zur Leistungsqualität der Kassen verbunden sein wird.
Die Länder werden künftig in den Zulassungsausschüssen nicht mehr nur mitberaten, sondern auch mitentscheiden dürfen, was regionalen Besonderheiten etwas mehr Gewicht geben könnte. Auch hier bleibt abzuwarten, welche Auswirkungen das tatsächlich haben wird.
Darüber hinaus enthält der GVSG-Entwurf eine Reihe von Vorschriften, die in der Öffentlichkeit bisher wenig Aufmerksamkeit gefunden haben, von der Beitragsfreiheit für Waisenrenten bei Freiwilligendiensten über den Hilfsmittelbereich bis hin zu erweiterten Prüfrechten des Bundesrechnungshofs, der künftig auch die Kassenärztlichen Vereinigungen prüfen darf. Nett auch, das 21. Jahrhundert schreitet voran: Mit dem Gesetz sollen die Kassenärztlichen Vereinigungen und ihre Bundesvereinigungen, der G-BA und der Bewertungsausschuss die Möglichkeit zu hybriden bzw. digitalen Gremiensitzungen erhalten. Da hatte man bisher Vorbehalte z.B. bei der Vertraulichkeit und der Rechtmäßigkeit von Abstimmungen.
Das in den letzten Tagen in den Medien und auch hier im Blog heiß diskutierte Verbot, die Homöopathie durch die Krankenkassen finanzieren zu lassen, fährt ebenfalls im GVSG-Omnibus mit. In Art. 1 Punkt 2 des Gesetzentwurfs heißt es zur Änderung von SGB V:
„Dem § 11 Absatz 6 wird folgender Satz angefügt:
Homöopathische und anthroposophische Arzneimittel sowie homöopathische Leistungen sind als zusätzliche Satzungsleistungen im Sinne dieses Absatzes ausgeschlossen.“
In der Begründung dazu steht:
„Die Möglichkeit der Krankenkassen, homöopathische und anthroposophische Arzneimittel sowie homöopathische Leistungen als zusätzliche Satzungsleistungen anzubieten, wird gestrichen. Für die Wirksamkeit entsprechender Arzneimittel und Leistungen liegt keine hinreichende wissenschaftliche Evidenz vor. Die Nutzung von Homöopathika und Anthroposophika sowie homöopathischer Leistungen sollte daher ausschließlich auf der eigenverantwortlichen Entscheidung der Versicherten zur Finanzierung dieser Leistungen beruhen und nicht vom Versichertenkollektiv der Krankenkasse(n) getragen werden. Mit dem in § 140a Absatz 2 Satz 2 enthaltenen Verweis auf § 11 Absatz 6 ist damit auch eine Erstattung homöopathischer und anthroposophischer Arzneimittel sowie homöopathisch-ärztlicher Leistungen im Wege von Verträgen über eine besondere Versorgung nach § 140a ausgeschlossen. Den Krankenkassen bleibt es jedoch unbenommen, nach § 194 Absatz 1a in der Satzung die Möglichkeit zur Vermittlung privater Zusatzversicherungsverträge über diese Leistungen vorzusehen.“
Der Referentenentwurf muss nach der Beschlussfassung im Kabinett natürlich noch durch den Bundestag. Bekanntlich gilt dort das „Strucksche Gesetz“, nach dem kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es hineinging. Das Strucksche Gesetz ist zwar erstens empirisch falsch und zweitens ein bisschen komisch, weil man sich, wenn Beratungen des Bundestags nicht auch zu Änderungen von Gesetzesvorlagen führen würden, den Bundestag sparen könnte. Das Strucksche Gesetz könnte also auch trivialerweise lauten: „Der Gesetzgeber tut (manchmal), was er tun soll.“ Man darf gespannt sein, wie der Entwurf des GVSG zunächst das Kabinett und dann den Bundestag verlässt.
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Nachtrag:
Anpassungsbedarf in Sachen Homöopathie gibt es im SGB V möglicherweise auch bei § 2 (1) Satz 2, § 34 (3) Satz 2, § 35 (2) Satz 1, § 73 (1) Punkt 1 und § 92 (3a) Satz 1.
]]>„Homöopathie macht als Kassenleistung keinen Sinn. Auch den Klimawandel können wir nicht mit Wünschelruten bekämpfen. Die Grundlage unserer Politik muss die wissenschaftliche Evidenz sein.“
Die Wurzel des Übels liegt im Arzneimittelrecht und der dort über den „Binnenkonsens“ aufgebauten Wirksamkeitsfiktion: Für Homöopathika sind nicht die üblichen Wirksamkeitsnachweise mit randomisierten Studien erforderlich, es darf anderes „Erkenntnismaterial“ herangezogen werden, z.B. das homöopathische Schrifttum.
Der Binnenkonsens wurde in den 1970er Jahren durch Lobbyismus ins Arzneimittelrecht gebracht und durch Lobbyismus bis heute darin gehalten, darauf baut letztlich die Möglichkeit der Krankenkassen zur Finanzierung der süßen (wahlweise auch alkoholischen) Mittelchen auf. Vor einigen Jahren wurden bereits die Homöopathie-Wahltarife mangels Nachfrage gestrichen: Mehr für ihre Neigungen bezahlen, wollte das meist gut verdienende Globuli-Klientel nicht. Über die Satzungsleistungen, die derzeit noch bestehende Basis, finanzieren es dagegen alle mit.
Um viel Geld geht es wohl nicht, es kursieren unterschiedliche Angaben, meist im Bereich zweistelliger Millionenbeträge. Insofern sparen die Krankenkassen bei einem Gesamtbudget von derzeit ca. 300 Mrd. Euro rein finanziell gesehen im homöopathischen Bereich. Für sie ist es ein Marketinginstrument im Kampf um junge und gesunde Leute, Risikostrukturausgleich hin oder her. Allerdings würde mit der Streichung ein intellektuelles und ethisches Ärgernis bereinigt. Ansonsten müssen alle Arzneien und Behandlungsmethoden, die die Krankenkassen zahlen, wirksam im Sinne gängiger wissenschaftlicher Standards sein. Es gibt keinen vernünftigen Grund für Ausnahmen und unvernünftige Gründe gäbe es auch dafür, dass die Krankenkassen das Handauflegen, astrologische Gesundheitsberatung oder das Beschwören von Heilgeistern bezahlen. Auch dafür gäbe es Nachfrage, was zugleich das oft vorgebrachte Argument, man müsse doch den Wünschen der Versicherten nachkommen, als das erscheinen lässt, was es ist: kein tragfähiges Argument. Zumal in Zeiten, in den Kassen weder Bagatellarzneimittel finanzieren, egal ob sie wirksam sind oder nicht, noch Brillengestelle, noch guten Zahnersatz und vieles andere, was wirklich hilft, auch nicht.
Um einem Missverständnis vorzubeugen: Dass „die Homöopathie“, die Anwendung der Mittel im Behandlungssetting oder auch zuhause, in manchen Fällen tatsächlich hilft, soll nicht in Abrede gestellt werden. Der Placeboeffekt kann ein mächtiges therapeutisches Agens sein und die Homöopathie mit ihren Glaubenselementen stimuliert vielleicht bei dem einen oder anderen sogar besonders starke Placeboeffekte. Aber der Placeboeffekt ist eigentlich in der Medizin allgegenwärtig – anders als Hahnmanns vermeintliche „geistartige Kräfte“. Deswegen kommt es auf die „Wirksamkeit über Placebo hinaus“ an. Inwiefern man Placebos mehr als bisher in der Medizin nutzen sollte und welche Voraussetzungen dabei zu beachten wären, ist eine andere Diskussion, die Bundesärztekammer hat dazu bereits vor Jahren Empfehlungen formuliert.
Man kann sich fragen, warum Lauterbach ausgerechnet jetzt auf die Idee kommt, die Homöopathie als Kassenleistung zu streichen. Ob er damit, wie manche sagen, von den ganz großen Baustellen im Gesundheitswesen ablenken will? Kann sein, aber zettelt man deswegen einen Krieg mit einer bestens aufgestellten und vernetzten Lobby an? Und das in Zeiten, wo der Ampelregierung ohnehin schon kräftiger Gegenwind ins Gesicht bläst? Da gäbe es sicher sanftere Ablenkungsmittel. Insofern sollte man Lauterbach in diesem Fall, wo er mal etwas zweifelsfrei Richtiges macht, nicht auch noch kritisieren. Die richtig wichtigen Dinge müssen natürlich auch noch angepackt werden.
Man darf gespannt sein, wie weit Lauterbach mit seinem Vorstoß kommt. Die Lobby gibt sich schließlich nicht kampflos geschlagen. So oder so wird die Geschichte beim diesjährigen Homöopathie-Kongress in Lindau am Bodensee für aufgeregte Gespräche sorgen. Ich werde vorsorglich ein Päckchen Dubio C30 in den Bodensee geben, vielleicht wirkt es ja doch.
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Nachtrag 14.1.2024:
Einen guten Übersichtsbeitrag zum Thema Homöopathie an sich hat heute früh der BR online gestellt: “Homöopathie: Bei keiner Krankheit mehr Wirkung als ein Placebo”. Vertiefende Informationen bietet das Informationsnetzwerk Homöopathie.
]]>Die Liste lässt sich problemlos fortsetzen, Satzkette um Satzkette. Viele notwendige oder zumindest sinnvolle Änderungen am Status Quo kosten irgendwen etwas. Niemand will etwas abgeben, schon gar nicht, wenn es so aussieht, als ob man selbst wieder mal die Melkkuh der Nation ist und andere verschont bleiben. Wenn Geld zum Ausgleich da ist, werden Änderungen leichter, wenn das Geld fehlt, kommt es zu harten Verteilungskämpfen, weil dann das, wie es bisher war, zur Pfadabhängigkeit wird und seine restriktive Wirksamkeit voll entfaltet. Dann droht ein destruktives Weiter-so. Bis Vernunft oder Katastrophen zu Auswegen führen.
]]>Nach einer Wahlumfrage kommt die als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD in Sachsen bei der Sonntagsfrage auf 37 %. CDU 33 %, Linke 8 %, Grüne 7 %, SPD 3 % und FDP 1 %.
Bahn, Brücken, Wohnungsbau, Pflege, Energiewende: ein einziges Desaster.
Wer kann die Schrift an der Wand lesen?
]]>Und jetzt? Auch! Der Ministerpräsident von Schleswig Holstein, Daniel Günther, liberale CDU-Zukunftshoffnung: „Diese Chaoten schaden dem eigentlichen Anliegen.“ Ups. Und dann dankt er auch noch den Polizisten vor Ort, dass sie Schlimmeres verhütet haben. Darf der das?
Aiwanger bleibt dagegen auch hier seiner Linie treu, sieht den Mob, wie Trump beim Sturm auf das Kapitol, als lobenswerten Versuch, die „Demokratie zurückzuholen“. Die Bauern sind schließlich gefühlt im Recht. Aiwangers Meinungskommentar:
„Die Schuld für die Bauernwut liegt allein bei der existenzgefährdenden Ampelpolitik. (…) In meinen Augen sind das gezielte gesellschaftspolitische Verschiebungen Richtung links. Man will diese bürgerlichen Bevölkerungskreise schwächen und auch dieses Höfesterben forcieren.“
Ob er sich daran erinnert, was er zu anderen Polit-Feuerwerkern gesagt hat, ist nicht bekannt. Immerhin sind bisher keine Flugblätter der Brüder Aiwanger dazu aufgetaucht. Ministerpräsident Söder hat daher auch keine Fragen an Herrn Aiwanger. Für Landwirtschaft und innere Sicherheit ist der übrigens auch gar nicht zuständig.
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Nachtrag 6.1.2024: Das ganze Interview mit Aiwanger ist bei MSN online.
Sind das „westliche“ Werte? Sind es universalistische Werte? Und werden sie im „Westen“ gelebt oder nur rhetorisch bemüht, oder selektiv gelebt, oder mal mehr das eine, mal mehr das andere? Und wer ist Adressat, wenn diese Werte in Reden in Stellung gebracht werden? Wer sollte Adressat sein? Die autoritären Regime, die Bevölkerungen dort, unsere Regierungen, irgendwelche Eliten, wir selbst?
In der Süddeutschen Zeitung ist heute ein Meinungsartikel von Joachim Käppner: “Wenn wir es wollen“. Es ist eine Art Weckruf mit Durchhalteappell angesichts der aktuellen Kriege und Krisen. Beispielsweise wird Roosevelt zitiert, mit dem Mutmachersatz „Das Einzige, was wir zu fürchten haben, ist die Furcht selbst.“ Ist das so? Müssen wir uns nicht doch auch vor dem Klimawandel fürchten und nicht nur vor unserer Furcht davor? Und ist Putin nur ein Schreckgespenst?
Weiter fordert Joachim Käppner: „Mehr Resilienz wagen“. Dazu verweist er darauf, dass die „Demokratien (…) im stärksten Militärbündnis der Geschichte“ vereint seien. Daher müsse sich „der Westen“ (!) „nicht den Mut nehmen (…) lassen, für die eigenen Werte, für Freiheit und Menschenwürde einzustehen. Diese Werte sind die stärkeren.“
Was bedeutet das? Nach Käppner dies:
„In konkreter Politik kann das bedeuten, dass demokratische Parteien etwa bei Stichwahlen zusammenhalten gegen die AfD. Dass Europa die Ukraine noch viel stärker unterstützt, schon um US-Präsident Joe Biden den Rücken freizuhalten in seinem letzten großen Kampf für die Freiheit.“
Eine seltsame Kombination. Verdeckt sie vielleicht nur die Substanzlosigkeit dahinter? Müsste hier nicht vielmehr stehen, dass das in konkreter Politik bedeutet, Menschen nicht in unsäglichen Pflegesituationen verzweifeln zu lassen, sich um bezahlbaren Wohnraum zu kümmern, dafür zu sorgen, dass im Mittelmeer möglichst niemand auf der Flucht ertrinkt oder in Libyen gefoltert und in der Wüste ausgesetzt wird, den Hunger in der Welt wirksam und nicht nur symbolisch-caritativ zu bekämpfen? Frei nach Feuerbach ist die Menschenwürde kein dem Grundgesetz innewohnendes Abstraktum, sondern das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.
Den wahren Adressaten der Werte sieht Käppner allerdings ohnehin bei uns:
„Am Ende aber sind es die Bürgerinnen und Bürger, welche die Verantwortung dafür tragen, dass die Freiheit überlebt. Niemand nimmt den Wählern diese Verantwortlichkeit ab (…).“
Keine Frage: In einer demokratischen Gesellschaft haben wir alle unsere Verantwortung. In der Familie, in Elternbeiräten, bei der freiwilligen Feuerwehr, in Bürgerinitiativen, am Arbeitsplatz, z.B. im Betriebsrat, und auch bei Wahlen. Das ist das, was den „Werten“ zivilgesellschaftlich von unten zuwachsen kann. Dazu muss das kommen, was nur die politischen Institutionen erreichen können, innen- wie außenpolitisch. Es reicht nicht, „wenn wir es wollen“.
Wenn Joachim Käppner mit seinem Beitrag zivilgesellschaftliche Verantwortung einfordert, gegen eine Lehnstuhldemokratie, ist das sicher gut gemeint. Aber sein Text ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie Werte zur hohlen Phrase verkommen können, wie man sie aus Politikerreden zur Genüge kennt. Als Phrase haben auch die stärksten Werte keine Strahlkraft, nicht nach innen, nicht nach außen, sondern stoßen bei den Putins, Orbans, Erdogans, Modis oder Höckes dieser Welt samt ihrer Gefolgschaft auf Zynismus und Gleichgültigkeit. So wie es auch nicht reicht, als erbauliches Zeichen „unserer Art zu leben“ einen Weihnachtsbaum zu kaufen.
Bert Brechts Satz „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral“ propagiert keine amoralische Welt, sondern weist darauf hin, dass Moral viel damit zu tun hat, ob Menschen zu essen und ein Dach über dem Kopf haben, und dass sie darauf vertrauen können, dass es in der Politik vor allem auch darum geht.
]]>Großes Theater. Nach dem Gender-Sternchen tritt jetzt der Weihnachtsbaum auf die Bühne. Friedrich Merz sieht im Kauf eines Weihnachtsbaums ein zentrales Element der deutschen Leitkultur:
„Wenn wir von Leitkultur sprechen, von unserer Art zu leben, dann gehört für mich dazu, vor Weihnachten einen Weihnachtsbaum zu kaufen”
Eine menschenwürdige Pflege, bezahlbares Wohnen oder der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist vielleicht auch ehrlicherweise nicht als „unsere Art zu leben“ auszugeben. So weit, so gut. Aber musste es ausgerechnet der Weihnachtsbaum sein? Warum nicht Bayern München, das Sauerkraut, die Currywurst, ein dicker BMW oder die Kastelruther Spatzen?
Merz dachte vermutlich integrationspolitisch an die brutalstmögliche Herausforderung für Migrant:innen. Von mir aus auch für Migranten, als generisches Maskulinum gelesen. In vielen ihrer Herkunftsländer hat Nadelholz als Weihnachtsbaum keine Tradition, vermutlich gibt in manchen afrikanischen Ländern gar keine Nordmann-Tannen. Aber dachte er auch an den Senegal? Dort, wo der berühmte fußballspielende Ministrant herkommt, den man nicht mehr loswird? Dort scheint der Weihnachtsbaum, wenn man dem Evangelischen Pressedienst Glauben schenken darf, zur Leitkultur auch der dort lebenden Muslime zu gehören: „Nach dem Essen versammelt man sich um den Weihnachtsbaum, jeder bekommt sein Geschenk.“
Umstellen müssen sich dagegen sicher die Neuseeländer, und ihre Frauen. Mit dem Eisenholzbaum, der dort angeblich an Weihnachten geschmückt wird, kommen sie hier nicht durch. Da ist Merz vor. Unerbittlich. Allerdings werden auf deutschen Weihnachtsbaummärkten auch kaum Eisenholzbäume verkauft. Das erleichtert die Anpassung an die deutsche Leitkultur. Die Australier, ihnen wird eine Vorliebe für Plastikbäume nachgesagt, könnten einfacher integriert werden. Den Plastikbaum, der auch in Deutschland Verbreitung gefunden hat, hat Merz als Zeichen unserer Leitkultur nicht ausgeschlossen.
Der Weihnachtsbaum gilt übrigens in der Tat als deutsche Erfindung. Dummerweise blieb sie nicht exklusiv deutsch. Wikipedia schreibt: „Dieser Weihnachtsbrauch verbreitete sich im 19. Jahrhundert vom deutschsprachigen Raum aus über die ganze Welt.“ Hast du das gewusst, Friedrich?
Auch sonst hat Friedrich Merz die Eignung des Weihnachtsbaums als Prüfstein deutscher Leitkultur möglicherweise nicht sorgfältig recherchiert. Er schreibt:
„Es ist die Art von christlich-abendländisch geprägter kultureller Identität, die sich über Generationen überträgt, von der unsere Kinder geprägt sind, und die sie dann so oder so ähnlich selbst weitertragen.”
Mit dem „so ähnlich“ ist sicher der Plastikbaum gemeint, oder bei fortschreitendem Klimawandel die Weihnachtspalme. Aber ist es eine christliche Tradition? Manche sehen die historischen Wurzeln des Weihnachtsbaums bei den alten Germanen, die Kirche habe den Brauch früher als „heidnisch“ verurteilt. Eine nicht unstrittige These. Noch schlimmer wäre allerdings, hätte der NDR recht: „Auf der Suche nach den Ursprüngen der Weihnachtsbaum-Tradition wird man (…) weniger in der Bibel, sondern eher im Koran fündig“. Leitkulturellabschreckungstechnisch wäre das natürlich ein Totalschaden.
Helfen könnte vielleicht die identitätspolitische Eskalation der Weihnachtsbaumtradition: Müsste es nicht „Christbaum“ heißen? Ist Friedrich Merz hier einer woken Anwandlung zum Opfer gefallen?
]]>Mehr dazu nebenan, auch die Diskussion dazu gerne nebenan.
]]>Lassen wir die Hoffnung nicht untergehen – und tun wir, was in unserer Macht steht, damit das nächste Jahr nicht noch schlimmer wird.
Ich wünsche allen Leser:innen trotz allem eine frohe Weihnacht und alles Gute für das neue Jahr!
]]>Der Bremer Soziologe Nils Kumkar hat nun eine Abhandlung „Alternative Fakten“ in der edition suhrkamp vorgelegt, 333 Seiten stark, ursprünglich 18 Euro im Buchhandel, seit kurzem aber für 4,50 Euro bei der Bundeszentrale für politische Bildung zu bekommen. Die 7-Zeilen-Rezension gibt es ganz umsonst.
]]>Der „Bund für Geistesfreiheit“ hatte schließlich gegen den Kreuzerlass geklagt und vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof nicht Recht bekommen. Auch die Revision vor dem Bundesverwaltungsgericht brachte kein anderes Ergebnis. Das Bundesverwaltungsgericht folgte der Argumentation, auf die sich die Bayerische Staatsregierung zurückgezogen hatte, es gehe doch nur um ein Symbol der historisch-kulturellen Prägung Bayerns:
“Nach dem Kontext und Zweck der Verwendung des Kreuzessymbols identifiziert sich der Freistaat Bayern durch die Aufhängung von Kreuzen nicht mit christlichen Glaubenssätzen. Schon nach dem Wortlaut der im Gesetz- und Verordnungsblatt veröffentlichten Regelung des § 28 AGO soll das Kreuz vielmehr Ausdruck der geschichtlichen und kulturellen Prägung Bayerns sein.”
Dazu der neue Fraktionschef der CSU im bayerischen Landtag, Klaus Holetschek, als Jurist geübt in der Kommentierung von Gerichtsentscheidungen:
„Bayern ist ein Land der Vielfalt, der Toleranz und natürlich auch der Glaubensfreiheit, aber Bayern ist eben auch ein christlich geprägtes Land und es ist richtig, dass der Freistaat dies mit dem Kreuz auch zum Ausdruck bringt.“
Was genau bringt das Kreuz also zum Ausdruck? Man könnte jetzt die Diskussionen von 2018 einfach noch einmal abspulen. Der „Bund für Geistesfreiheit“ sieht die Sachlage wohl ebenfalls unverändert und hat angekündigt, nun vor das Bundesverfassungsgericht gehen zu wollen.
Fortsetzung folgt.
]]>Der BMW i7 ist ein „Ökomobil“, elektrisch. Das Basismodell kostet angeblich 115.000 Euro und schnurrt leise mit 455 PS durch die Landschaft, was aber nicht in der Anzeige steht. Da geht es um „Achtsamkeit für den Augenblick“, zumindest steht das über der Anzeige und Achtsamkeit für das Geld oder gar für die Straße wird damit nicht gemeint sein.
„Der BMW i7 ist ein Fest für die Sinne. Ein ganz besonderes Erlebnis verspricht der optionale BMW Theatre Screen. Elegant fahrt das beeindruckende 31,3-Zoll-Display aus dem Dachhimmel und bietet Entertainment wie im Kino. Mit einer optionalen Soundanlage lassen 4D-Shaker in den Sitzen die Klänge des Soundsystems spürbar werden, während versteckte Lautsprecher in den Kopfstützen in der Lage sind, das Fahrzeug in einen Konzertsaal zu verwandeln.“
Natürlich sind sich die Autobauer auch ihrer ökologischen Verantwortung bewusst. Der Fahrgenuss im Konzertsaal soll schließlich nicht durch ein schlechtes Gewissen getrübt werden:
„Moderner Luxus bedeutet aber auch, den ökologischen Fußabdruck im Blick zu behalten. Im Innenraum des BMW i7 kommen daher sorgsam ausgewählte Materialien zum Einsatz, die maximale Qualitätsstandards mit einem Beitrag zur Nachhaltigkeit kombinieren.“
Unter anderem setzt BMW „aus dem Meer geborgene Fischernetze“ als Ausgangsmaterial für die Bodenverkleidung ein. Ob da sogar noch eine sanfte Brise Meeresluft durch das Auto weht?
„Achtsamkeit für den Augenblick“. Wenn ich dieser Aufforderung folge, auch wenn ich sicher nicht gemeint bin, welche Gedanken kommen mir dann? Auf der Seite 1 die Ampelkrise, u.a. weil durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts das Geld für die Bekämpfung des Klimawandels fehlt. Was tun? Die Reichen sollen nicht stärker besteuert werden, lieber, so Merz und Lindner, soll am Bürgergeld für die Armen gespart werden. Die kaufen eh keine Autos im Luxussegment, die tragen höchstens die Süddeutsche aus.
Ich weiß, es gab immer opulenten Reichtum, zu allen Zeiten. Und immerhin kommt auf den nächsten Seiten in der Süddeutschen nicht auch noch Werbung für Superyachten, sondern der Ukrainekrieg und andere Unheilsnachrichten aus aller Welt. Wenn ich dann ganz achtsam in mich hineinhöre, einen Augenblick, oder zwei, dann empfinde ich doch wieder dieses ungute Gefühl, dass irgendetwas in unserer Gesellschaft gerade nicht stimmt und die Gender-Sternchen wirklich nicht unser größtes Problem sind. Vielleicht gönnen Sie sich auch einmal einen Augenblick der Achtsamkeit dafür.
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Nachtrag: Auf Seite 52 der gleichen SZ-Ausgabe ist ein Interview mit dem Dortmunder Philosophieprofessor Christian Neuhäuser über Reiche und die moralische Problematik exzessiven Reichtums. In die Nähe dieses Interviews wollte man die BMW-Werbung vermutlich nicht platzieren.
„Für Bayern kann ich sagen: Mit uns wird es kein verpflichtendes Gendern geben. Im Gegenteil: wir werden das Gendern in Schule und Verwaltung sogar untersagen.“
Was bedeutet das? Wird nur das Gender-Sternchen verboten oder darf man künftig in amtlichen Dokumenten auch nicht von „Bürgerinnen und Bürgern“ sprechen? In Umsetzung des Bayerischen Gleichstellungsgesetzes sind „Richtlinien für die Wahrnehmung und Organisation öffentlicher Aufgaben sowie für die Rechtsetzung im Freistaat Bayern“ erlassen worden. Dort heißt es unter Punkt 2.5.4:
„Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Muster, Vordrucke, Schreiben und Ähnliches sollen so formuliert werden, dass sie jedes Geschlecht in gleicher Weise ansprechen. Dabei ist jedoch jede sprachliche Künstlichkeit oder spracherzieherische Tendenz zu vermeiden. Nr. 3.4 der Redaktionsrichtlinien gilt entsprechend.“
Und in Nr. 3.4 der „Richtlinien für die Redaktion von Rechtsvorschriften“ wiederum steht:
„Rechts- und Verwaltungsvorschriften sollen so formuliert werden, dass sie jedes Geschlecht in gleicher Weise ansprechen, etwa durch Paarformeln oder geschlechtsneutrale Formulierungen. Dabei ist jedoch jede sprachliche Künstlichkeit oder spracherzieherische Tendenz zu vermeiden. Entscheidende Richtschnur ist die gängige Sprachwirklichkeit, die leichte Verständlichkeit und die inhaltliche Prägnanz. Sparschreibungen und Sonderzeichen zur Geschlechterumschreibung sind unzulässig. Übertriebene Paarformbildung ist ebenso zu vermeiden wie bewusst gesuchte Umschreibungen jenseits der gelebten Sprachwirklichkeit. Geschlechtsindifferent verallgemeinerte männliche Formulierungen sind nach dem natürlichen Sprachgebrauch zulässig, wo es der Alltagssprache entspricht und die Verständlichkeit fördert.“
Das Gender-Sternchen ist also schon verboten. Bürger:innen geht in Rechtsvorschriften auch nicht. Da stellen sich eine Menge Fragen für die Juristen, und vielleicht auch die Juristinnen, die die neue Vorschrift ausarbeiten müssen. Ob „Bürgerinnen und Bürger“ oder „Ärztinnen und Ärzte“ künftig als „übertriebene Paarformbildung“ gelten? Was wird aus den „Studierenden“? Werden die neuen Vorschriften auch die Universitäten mit ihren Leitfäden zur geschlechtergerechten Sprache binden? Was ist mit Städten wie München? München hat, wie Medien schreiben, angeblich seit 1991 eine geschlechtergerechte Sprache in seinen Verwaltungsvorschriften verankert. Sind Klagen gegen Ungleichbehandlung zu erwarten, weil große Unternehmen weiterhin eine geschlechtergerechte Sprache in firmeninternen Leitfäden vorgeben?
Gesellschaftspolitisch mag man auch fragen, was in unseren Regierenden vor sich geht. Ob das eine Art konservativer Nachrüstungsbeschluss zur vielzitierten „cancel culture“ ist, um das identitätspolitische Arsenal zu erweitern, über Bierfeste, Kreuzerlass und Trachtenkult hinaus? Oder nur sprachliche Notwehr gegen das Bürger:innenmeister:innenamt oder ungute Versuche, Tätigkeiten wie „gärtnern“ zu gendern? Bei der Gelegenheit: Ist „ärztlich“ eigentlich eine männliche Form?
Man darf mit dem bayerischen Ministerpräsidenten natürlich auch politisch strategisch fragen: „Haben wir keine anderen Probleme in Deutschland?“, eine Frage aus der gleichen Regierungserklärung. Ein paar wichtigere Probleme fielen mir durchaus ein.
]]>Die nächsten Tage sicherheitshalber immer ein Blick in die Nachrichten: Macht der Bahngewerkschafter Claus Weselsky etwa seine Streikdrohung schon am Wochenende wahr? Beruhigende Nichtnachrichten. Bis Samstag Mittag ein Zug nach München nach dem anderen gecancelt wurde. Meiner auch. Weselsky mutmaßlich unschuldig – Schnee wie nie in Süddeutschland, der Traum aller Skifahrer. Bahnfahrer haben andere Bedürfnisse. Ich konnte ersatzweise in einem Zug nach Zürich mitfahren. Der Plan: Umstieg in Erfurt, Weiterfahrt nach Nürnberg, dann irgendwie Richtung Süden durchschlagen, wird schon was gehen. Stattdessen lt. Bahn-App noch vor Erfurt die Auskunft, dass von Nürnberg aus gar nichts mehr nach Süden ginge. Google wusste mehr, der Hauptbahnhof München war komplett gesperrt. Sogar behördlich.
Optionen: Weiterfahren nach Nürnberg, dort ein Hotel nehmen oder weiterfahren bis Fulda, dann von da nach Würzburg, Übernachtung bei Verwandten und am Sonntag weiter. Letzteres war attraktiver. Allerdings wurde der Zug kurz nach Eisenach mit Steinen beworfen. Von wem auch immer und warum auch immer. Eine Scheibe gesplittert, musste verklebt werden. Dazu musste der Zug in einen Bahnhof mit Bahnsteig auf der richtigen Seite. Bis dahin Schneckentempo, quälend lange. Hätten die nicht den nächsten Zug bewerfen können? Heiliger St. Florian, bitte nicht auf meine Bahn? Gut, das ist moralisch unkorrekt, gestrichen.
In der Folge waren die ICE-Verbindungen von Fulda nach Würzburg Geschichte. Verbleibende Optionen: Von Fulda bis Schlüchtern, dann umsteigen nach Würzburg. Oder weiter bis Hanau, dann umsteigen nach Würzburg. Die Wahl war einfach: Lieber in Hanau einen eventuell ausfallenden Zug überstehen als in Schlüchtern. Also weiter nach Hanau. Der Zug nach Würzburg hatte, aber darauf kam es dann auch nicht mehr an, 45 Minuten Verspätung. Der Rest lief glatt.
Sonntag früh zurück zum Hauptbahnhof Würzburg: Richtung Dachau wurde die Regionalbahn nach Treuchtlingen empfohlen, von dort eine weitere nach Dachau. Wunderbar, gut drei Stunden, was will man mehr. Verschneite Winterlandschaften vom Zug aus anzusehen, ist eine schöne Sache. Der Zug nach Treuchtlingen muss wohl ein Erbstück aus der DDR gewesen sein. Kaputte Türen, Heizung ging lange nicht, 60er-Jahre Ambiente, Apfelschalengeruch. Aber er war pünktlich auf die Minute. So was ist, wie gesagt, kein gutes Omen. Die Wiederherstellung der Ordnung in der Bahnwelt folgte prompt: Der Anschlusszug ging nicht wie angekündigt bis Dachau, sondern, überraschende Ansage, „heute nur bis Ingolstadt“. Dafür wurden die Fahrkarten kontrolliert, so viel Ordnung muss sein. Auf dem Bahnsteig in Ingolstadt stand sogar eine Bahnbedienstete. Für die Frage, ob heute noch was nach Dachau geht, hatte sie allerdings nur ein ratloses Achselzucken. Die Bahn ist nicht schuld am schlechten Wetter, aber für den schlechten Umgang damit kann sie schon was.
Was nun? Zurück nach Würzburg? Hotel in Ingolstadt? Die Entscheidung kam auf Gleisen: Ein ICE aus Hamburg, mit einer Stunde Verspätung, einer der wenigen Fernzüge, die schon wieder nach München durften. Die S-Bahn nach Dachau fuhr lt. Bahn-App zwar nicht, auch sonst keine Bahn, aber die App lockt mit einer Verbindung Straßenbahn plus Bus, nur 53 Minuten von Hauptbahnhof München bis Dachau. Also rein in den ICE. Andere waren auch schon drin, bequemer Stehplatz bis München. Vor München nochmal ein Stopp, die Strecke war teilweise nur eingleisig befahrbar. Dann – endlich: München ist nicht Bielefeld, sondern existiert wirklich. Ganz sicher war ich mir nicht mehr.
Im Hauptbahnhof München Chaos pur, eine zum Obdachlosenasyl umfunktionierte Regionalbahn stand am Dachaubahnsteig, hab mal reingeschaut, ein schwerst alkoholisierter Niederländer mit Verlust der zeitlichen Orientierung erklärt mir, schon zwei Tage da zu sein, an den Bahnsteigen kein Personal, dafür lange Schlangen vor den wenigen Infoschaltern. Aber ich hatte ja meine Straßenbahn. Nur, dass die nicht fuhr. Keine Straßenbahn fuhr. Die Bahn-App wusste es halt nicht. Nicht weiter schlimm, der Bus war auch mit einer U-Bahn erreichbar. Und er fuhr. Sogar 5 Minuten zu früh, ich war auch 5 Minuten zu früh, alles gut. Vom Bahnhof Dachau noch 20 Minuten zu Fuß mit dem Koffer durch den Matsch und schon war ich daheim. 24 Stunden später als geplant. Home, sweet home!
So eine Bahnfahrt ist eines der letzten Abenteuer in Deutschland. Alles ist ungewiss. Man lernt eine Menge Leute kennen und erzählt sich seine Reisebiografie, man sieht, wie unterschiedlich Menschen mit Stress umgehen, man muss ständig neu entscheiden, man lernt zu improvisieren, man wird demütig und dankbar für alles, was nicht noch schlimmer kommt als das, was schon passiert ist. Was will man mehr?
]]>Oder lieber nicht? Das wäre die Position Nida-Rümelins. Nida-Rümelin sieht drei Stufen des Cancelns: Meinungen aus dem Diskurs ausschließen, Personen aus dem Diskurs ausschließen und Personen wegen ihrer Meinungen mit dem sozialen oder physischen Tod bedrohen. In der aktuellen „cancel culture“ sieht er eine Gefährdung der Demokratie, weil die Demokratie auf den möglichst freien Austausch von Meinungen auf Augenhöhe angewiesen sei, um sich selbst eine gut begründete Meinung zu bilden und zu gemeinsam getragenen Entscheidungen zu kommen. Daher sei es wichtig, auch Meinungen auszuhalten, die ganz anders seien als die eigene. Diese Grundüberlegung ausbuchstabierend appelliert sein Buch – 186 Seiten lang – an die Toleranz und dafür, sich um gute Argumente zu bemühen, nicht nur strategische Diskurse zu führen, die allein der Durchsetzung der eigenen Meinung dienen. Am Ende des Buchs gibt es eine kleine Kasuistik von Fällen des Cancelns vom Pharao Echnaton bis heute.
Heute Abend hat die Bayerische Staatsbibliothek in München zu einer Diskussion über seine Thesen und sein Buch eingeladen. Etwa 300 meist ältere und vom Äußeren her eher gut situierte Leute waren da. Bücherleute eben. Nida-Rümelin hat kurz noch einmal seine Kritik an der „cancel culture“ erläutert, danach gab es eine Diskussion mit Johan Schloemann von der Süddeutschen Zeitung und dem Publikum. Das Format ist zwar nicht dafür geeignet, den Austausch von Argumenten auf Augenhöhe zu testen, dazu ist die Asymmetrie zwischen Autor und Publikum in der Regel zu groß, aber die Diskussion war trotzdem interessant und auch ideenreich.
Die Wortmeldungen aus dem Publikum kreisten dabei vor allem um die Frage, was man gegen „cancel culture“ tun könne, wie man Menschen dazu bewegen könne, sich an Argumenten zu orientieren, ob es wirklich nur eine Wahrheit gebe, welche Rolle der “linguistic turn“ in der Philosophie und die Postmoderne bei alldem gespielt haben, oder welche Instanz denn darüber entscheiden solle, welche Meinungen auszuhalten seien und welche nicht. Grenzen gebe es, so Nida-Rümelin, wo ein Gegenüber die demokratischen Werte gar nicht teilt, wo also das gemeinsame Fundament des Diskurses, etwas durch den Austausch von Argumenten klären zu wollen, fehlt. Mit Nazis wolle er beispielsweise nicht diskutieren. Wobei am Ende keineswegs ein Konsens stehen müsse, sondern lediglich die Akzeptanz der Entscheidung nach dem Austausch der Argumente. Für viele Wahrheiten sah Nida-Rümelin keinen Platz. Es gebe eine Realität, nicht viele und man könne eigentlich heute nicht mehr postmodern sein. Die Instanz, die entscheide, was auszuhalten sei, seien wir alle, war seine Antwort auf die Frage nach dem obersten Diskursrichter. Ob das ein tragfähiges Argument ist, könnte man sicher auch diskutieren.
Mich hat der Abend zu der Frage geführt, ob das Beharren auf dem besseren Argument und der Orientierung an der Wahrheit“, so notwendig das einerseits ist, andererseits, wenn es zu sehr zum Maßstab wird, die Lust am Canceln nicht auch anfeuern kann. Vielleicht sind andere Interessen eher zu respektieren als die subjektiv empfundene Unwahrheit eines Gegenübers? Der Staatsrechtler Böckenförde hat nicht umsonst die Leistung des freiheitlichen Rechtstaats darin gesehen, nicht die Wahrheit zu garantieren, sondern den Frieden. Ob die Zivilgesellschaft damit überfordert ist? Oder ihre Verantwortung dafür wieder verstärkt entdecken und wahrnehmen muss?
]]>Bekenne dich!
Die Diskussion darüber, wie die Geschehnisse in Nahost einzuordnen sind, ist verwirrend, mehr noch als die Geschehnisse selbst. Die deutsche Außenministerin hatte kurz nach dem Massaker erklärt, in diesen Tagen seien wir alle Israelis. Sind wir das wirklich? Teilen wir das gleiche Schicksal? Vielleicht sollten alle, die jetzt Israelis sind, eine Woche mit der Kippa durch die Straßen in deutschen Städten gehen, und schauen, was passiert. Selbst die AfD präsentiert sich als Freund Israels, während gleichzeitig die Zahl rechter Gewalttaten gegen Juden in Deutschland zunimmt. Wer sich solidarisch mit Israel erklärt, dem wird von manchen Seiten vorgehalten, das Leid der Palästinenser nicht wahrzunehmen, oder gar, dass sich Israel den Überfall der Hamas selbst zuzuschreiben habe, weil es seit Jahrzehnten Gebiete der Palästinenser besetzt halte und eine Apartheidspolitik verfolge. Andere wiederum verweisen darauf, Israel bombardiere völkerrechtswidrig in Gaza zivile Ziele, habe Strom, Wasser und Versorgung gesperrt, schon tausende von palästinensischen Kindern getötet und bereite womöglich eine neue „Nakba“ vor. Die deutsche Außenministerin hat dennoch nicht erklärt, dass wir in diesen Tagen alle Palästinenser oder Palästinenserinnen seien. Das hat etwas mit „Kontextualisierung“ zu tun, ein Wieselwort, vielseitig in seiner Bedeutung und Funktionalität.
Kontextualiserung
Oft ist damit gemeint, dass das Massaker der Hamas eine Vorgeschichte hat, oder in den Worten des UN-Generalsekretärs Guterres, es sei “nicht im luftleeren Raum erfolgt”. Natürlich nicht. Aber was folgt daraus? Doch sicher nicht, dass das Massaker entschuldbar sei? Rechtfertigt eine schwere Kindheit eine spätere Straftat? Oder trägt sie nur zur Erklärung bei? Kausales Erklären und moralisches Rechtfertigen sind nicht dasselbe, wenn wir Menschen sein wollen und nicht programmierte Maschinen. Und wo endet eine historisch ausbuchstabierte Kontextualisierung? Warum führt sie für die deutsche Regierung bis zum Holocaust, begründet aber vor allem eine Verantwortung für die Sicherheit Israels, die als Folge des Holocausts „deutsche Staatsraison“ sei. Müsste aus dem gleichen Grund nicht auch das Recht der Palästinenser, in einem eigenen Staat zu leben, „deutsche Staatsraison“ sein? Ohne das deutsche Menschheitsverbrechen wäre Israel anders oder gar nicht gegründet worden, hätte es die Nahostkriege vielleicht nie gegeben und auch nicht die Vertreibung der Palästinenser aus ihren Siedlungsgebieten.
Beim Holocaust selbst ist man – hierzulande – mit der „Kontextualisierung“ vorsichtiger, da ist man sich der Gefahr einer damit nur allzu schnell mitlaufenden Relativierung von Schuld bewusster. Aber natürlich ist auch der Holocaust „nicht im luftleeren Raum erfolgt“. Die historische Interpunktion – wo lässt man alles anfangen – ist sie willkürlich? Für manche geht die Kontextualisierung nur bis zur Vorgeschichte der israelischen Besatzungspolitik – oft in Vermengung von Erklärung und Rechtfertigung des Massakers der Hamas. Die wird dann, in den Worten Erdogans, zur „Befreiungsorganisation“. Anders als die kurdischen Organisationen, die sind für ihn „Terrororganisationen“, die bombardiert werden müssen. Eine andere „Kontextualisierung“? Erdogan war gerade Staatsgast in Berlin, wir brauchen ihn, außen- und flüchtlingspolitisch kontextualisiert. Selbst der syrische Schlächter Assad wird – kontextbedingt, die Zeiten sind so – in der Region resozialisiert.
Kolonialismus
Nicht nur Erdogan erklärt den Terrorismus der Hamas zum „Befreiungskampf“. Kontextualisierung ist auch ein Werkzeug postkolonialistischer Argumentationen, begründeter wie irreführender. Terror ist kein Befreiungskampf. Aber, und das „aber“ ist hier notwendig: „Kolonisiert“ Israel nicht in der Tat das Westjordanland und Ostjerusalem? Anfang der 1970er Jahre zählte die jüdische Bevölkerung dort, wenn man Wikipedia glauben darf, gerade einmal 11.000 Menschen, heute ca. 700.000. Die israelische Siedlungspolitik ist international geächtet, von der UNO verurteilt und sie ist gewalttätig. Ein Mosaikstein, der zum Bild gehört, zur „Kontextualisierung“. Aber ist das das ganze Bild?
Universalismus, Tribalismus, Exzeptionalismus
Jedes Leben zählt gleich. Black lives matter, jüdische und palästinensische ebenso. Und ukrainische, auch russische. Der moralische Universalismus kommt so leicht daher. Aber, schon wieder ein „aber“, diesmal andersherum gerichtet, hat der Holocaust nicht aus den Juden in einem makabren Sinn wirklich ein „auserwähltes Volk“ gemacht? Seit Jahrhunderten machen Juden und Jüdinnen die Erfahrung, dass sie nicht dazugehören, dass sie angeblich weniger wert sind als andere Menschen. Bis hin zur fabrikmäßigen Vernichtung. Und jetzt erneut die Erfahrung, Opfer zu sein, nur weil man jüdisch ist, ganz gezielt, nicht als „Kollateralschaden“ eines Befreiungskampfes. Rechtfertigt das vielleicht doch Israels Beharren darauf, dass man sich nicht mehr darauf verlassen will, als Teil der Menschheitsfamilie Anspruch auf Schutz und Achtung zu haben, sondern das als Staat Israel mit allen Mitteln und gegen alle Bedrohungen durchsetzen zu müssen – für das eigene Volk, auch gegen andere Völker, universalistisches Völkerrecht hin oder her? Man mag einwenden, dass das auf Dauer gar nicht gehen kann, aber auch zweitausend Jahre Verfolgung sind eine lange Dauer. Haben andere eine vergleichbar andauernde Erfahrung des Ausgeschlossenseins aus der Menschheitsfamilie? Vielleicht die von Versklavung, Apartheid und ebenfalls von andauerndem Rassismus betroffenen Menschen schwarzer Hautfarbe? Wie gerechtfertigt ist das partikularistische Bestehen darauf, in einer besonderen Rolle zu sein und am Ende doch nicht alle Leben gleich zählen zu lassen? Ab wann schlägt die Quantität der Opfererfahrungen um in eine Qualität des Andersseins?
Ergo?
Antworten müssen die Menschen in Israel und Palästina finden. Und wir auch. Als Menschen, die wir keine Israelis sind und keine Palästinenser wurden.
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Zum Weiterlesen:
In der aktuellen Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik gibt es eine Reihe lesenswerter Beiträge zum Nahostkonflikt, u.a. das Editorial von Albrecht von Lucke, eine Widerrede von Seyla Benhabib zum kürzlichen hier schon erwähnten Papier „Philosophy for Palestine“ oder einen Artikel von Jörg Armbruster zum „Strudel der Wut“ in der Region, in dem er an die Doppelmoral des Westens in Völker- und Menschenrechtsfragen erinnert.
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Kollaborativ, Open Access und gleichzeitig Work in Progress – ein Mitmach-Lehrbuch
Laura Arnold
Gesundheitsberichterstattung (GBE) – dabei geht es um kontinuierlich aufbereitete Informationen und Daten zum Gesundheitszustand oder auch zur Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Was genau sich hinter dem Begriff verbirgt, wie man die GBE fundiert und ansprechend gestaltet und welche Ziele damit vor allem auf kommunaler Ebene im Gesundheitsamt erreicht werden sollen, ist jedoch insbesondere Einsteigern und Einsteigerinnen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) oft unklar. Die lange Zeit äußerst überschaubare Landschaft verfügbarer Lehrbücher über die verschiedenen Aufgabenbereiche des ÖGD waren hier zugegebenermaßen nicht gerade förderlich.
Um diese Lücke zu schließen, hat sich 2020 eine Gruppe von Fachleuten zusammengefunden und auf eher ungewöhnliche Weise ein Open-Access-Lehrbuch zur Gesundheitsberichterstattung geschrieben. Ungewöhnlich deshalb, weil das Lehrbuch als Book Sprint entstanden ist: Das zehnköpfige Autor:innen-Team hat sich im Juli 2020 für mehrere Tage zum kollaborativen Schreiben getroffen. Inhalte wurden festgelegt, Texte geschrieben, gegengelesen, kommentiert und überarbeitet. Technisch war das durch die kollaborative Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Editor möglich – was im Sommer 2020 vor dem vielerorts erfolgten coronabedingten Umstieg auf virtuelle Formate durchaus noch etwas Besonderes darstellte. Nach drei arbeitsintensiven Präsenztagen war die Grundlage für das erste GBE-Lehrbuch geschaffen, die weitere Ausgestaltung und redaktionelle Überarbeitung der Texte erfolgte remote.
Nach einigen Corona-Pausen und zahlreichen redaktionellen wie gestalterischen Feinarbeiten ist im September 2023 nun die erste Version des Open-Access-Lehrbuchs zur GBE erschienen. Es steht allen Interessierten kostenlos zum Download zur Verfügung. Das Besondere an dem Buch ist, dass Überarbeitung und Aktualisierung bereits eingeplant sind. Die aktuelle Version 1.0 verstehen wir, die Autor:innen, als ein lebendiges Werk, das zukünftig durch die Mitwirkung der Fachcommunity weiterentwickelt und kontinuierlich verbessert werden soll, wie es andere kreative Lehrbuchansätze auch schon erfolgreich vorgelebt haben.
Die Aufgaben der GBE sind vielfältig und wir hoffen, mit dem Lehrbuch den Einstieg zu erleichtern. Angesicht der Vielzahl fachlicher wie technischer Entwicklungen gibt es noch zahlreiche Bereiche, die in Zukunft ergänzt werden können – ein Kapitel über das Schreiben eines Gesundheitsberichts als Book Sprint etwa, das dann am allerliebsten aufbauend auf einem ersten Erfahrungsbericht! Und wenn Sie Ideen haben, können Sie sie uns hier in den Kommentaren gerne wissen lassen.
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Hier geht’s zum Lehrbuch:
• Online im Browser
• E-Book zu Download
• DOI: 10.61163/b001v100
Am 4. Oktober hatte das Bundesgesundheitsministerium seine Eckpunkte für ein Bundesinstitut für öffentliche Gesundheit vorgestellt. Unter dem etwas sperrigen und wenig zukunftszugewandten Namen „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) soll es zum 1.1.2025 an den Start gehen.
In der Fachöffentlichkeit sind die Eckpunkte des BMG überwiegend ungnädig aufgenommen worden, einer kritischen Stellungnahme folgte die nächste. Gestern hat nun auch das Zukunftsforum Public Health eine Stellungnahme zusammen mit 17 anderen Organisationen veröffentlicht, darunter die wichtigsten Public Health-Fachgesellschaften in Deutschland. Der Tenor dieser konzertierten Aktion der Public Health-Community folgt im Wesentlichen den bereits vorliegenden Stellungnahmen, begründet die Kritik aber etwas ausführlicher.
Man wird sehen, was davon noch Eingang in das Gesetzesvorhaben findet. Das BMG arbeitet mit Hochdruck an der Vorlage eines Gesetzentwurfs. Bisher kursiert nur ein Referentenentwurf, sozusagen ein erster verwaltungsinterner Aufschlag, der sicher noch verändert wird.
Referentenentwurf
Dieser Entwurf folgt in der grundsätzlichen Ausrichtung den Eckpunkten des BMG vom 4. Oktober. Allerdings ist er inhaltlich recht offen angelegt, so dass durchaus Spielräume für eine Berücksichtigung der Anliegen der Fachgesellschaften bestehen.
Im Einleitungsabschnitt heißt es:
„Ein wesentlicher Schwerpunkt der Arbeit des Bundesinstituts liegt auf der Prävention und der Bekämpfung der nicht übertragbaren Erkrankungen und der Unterstützung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik auf Bundesebene (Gesundheit in allen Politikbereichen – „Health in all Policies“). Dieser bringt erstmalig auf Bundesebene wissenschaftliche und zielgruppenspezifische Erkenntnisse sowie deren begleitender Kommunikation und Evaluation unter einem Dach zusammen.“
§ 2 konkretisiert dies wie folgt:
“Das Bundesinstitut nimmt folgende Aufgaben wahr und unterstützt das Bundesministerium für Gesundheit insbesondere bei der
o Stärkung der Prävention, insbesondere von nicht übertragbaren Erkrankungen, der Gesundheitsförderung und der Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung,
o Stärkung der Öffentlichen Gesundheit durch Kooperation und Vernetzung mit nationalen und internationalen Akteuren der Öffentlichen Gesundheit,
o Unterstützung der evidenzbasierten, zielgruppenspezifischen Gesundheits-, Risiko und Krisenkommunikation im Zuständigkeitsbereich des Bundesministeriums für Gesundheit und Information und Aufklärung der Öffentlichkeit über nicht übertragbare und übertragbare Krankheiten,
o Erhebung, Konsolidierung, Integration, Bereitstellung und Analyse von Daten mit Relevanz für die Öffentliche Gesundheit, die Gesundheitsberichterstattung, die Evidenzgenerierung, die frühzeitige Identifikation gesundheitlicher Bedarfe, die Entwicklung und Evaluation von Maßnahmen, o wissenschaftlichen Forschung und Zusammenarbeit mit Institutionen auf europäischer und internationaler Ebene,
o Unterstützung bei der Entwicklung von Leitlinien und Standardvorgehensweisen.“
Health in all Policies
Das eröffnet Möglichkeiten, um beim Aufbau des BIPAM über einige der rückwärtsgewandten Stellen, die im Anschluss an die Pressekonferenz des BMG vom 4. Oktober viel Kritik auf sich gezogen haben, z.B. die Akzentuierung eines rein medizinischen Ansatzes mit den Schwerpunkten Krebs, Herzkreislauferkrankungen und Demenz, hinwegzukommen und Anschluss an moderne Public Health-Konzepte zu gewinnen.
Allerdings werden die Instrumente dazu im Gesetzestext nicht angelegt. Man sieht das Problem, kann es aber nicht lösen: So wird im Referentenentwurf in Abschnitt A („Problem und Ziel“) zu Recht festgestellt, dass die Aufgaben der Öffentlichen Gesundheit auf Bundesebene auf verschiedene Ressorts verteilt sind, und in Abschnitt B („Lösung“) wird wie oben zitiert auf den Health in all Policies-Ansatz verwiesen. Der konkrete Regelungsbereich wird dann aber doch wieder eng gefasst: „Der Gesetzentwurf betrifft die Aufgaben des BMG und seiner Geschäftsbereichsbehörden“ und: „Die Aufgaben anderer Einrichtungen des Bundes im Bereich der Öffentlichen Gesundheit bleiben davon unberührt.“
Wie das Spannungsfeld zwischen Ressortzuständigkeit und Health in all Policies aufzulösen ist, z.B. durch eine verbindliche Kooperationsstruktur der Ressorts, bleibt somit offen. In der Gesetzesbegründung heißt es nur: „Die Vorschrift eröffnet auch ressortübergreifend die Möglichkeit – ohne weitere Gesetzesänderung – das Bundesinstitut mit der Durchführung weiterer Aufgaben zu beauftragen (…).“ Entweder wurde im Vorfeld nicht mit den anderen Ressorts gesprochen oder es konnte keine konkrete Übereinkunft zur Zusammenarbeit erzielt werden.
Der ÖGD
Gleiches gilt für das Verhältnis zu den Bundesländern in ÖGD-Angelegenheiten. Auch hier wird festgestellt, dass der ÖGD in der Zuständigkeit der Länder liegt. Die angestrebten Vernetzungsfunktionen für den ÖGD werden in der Gesetzesbegründung konkreter benannt: Es soll eine Plattform für Öffentliche Gesundheit geben, eine ÖGD-Netzwerkstelle, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen und Leitlinien für den ÖGD, des Weiteren soll die Digitalisierung weitergeführt werden. Damit das erfolgreich umgesetzt werden kann, ist eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Ländern nötig. Wie diese strukturell unterstützt werden könnte, welche Instrumente dafür beim BIPAM vorgesehen sind, dazu steht im Referentenentwurf (noch) nichts. Etwas lapidar heißt es an einer Stelle nur, das Gesetz habe „keine Auswirkungen auf die bestehenden Bund-Länder-Kompetenzen“ und „Die Leitlinien dienen dabei der Orientierung und sind als freiwilliges Angebot des Bundesinstituts zu verstehen.“ Dies dürfte mit Blick auf den Bundesrat formuliert sein.
Etwas schmalbrüstig sind in der Einleitung des Entwurfs die fachlichen Referenzen angelegt. Hier werden nur die vier Berichte des Beirats für den Pakt für den ÖGD und das Gutachten des Sachverständigenrats Gesundheit und Pflege genannt. Einschlägig wären hier aber auch Stellungnahmen zum Präventionsgesetz, die Leopoldina-Stellungnahme Public Health in Deutschland, die ZfPH-Eckpunkte für eine nationale Public Health-Strategie, oder, etwas spezieller, mit Blick auf die Lehren aus Corona der Bericht des Sachverständigenausschusses nach § 5 Abt. 9 IfSG. Dass all das keine Rolle spielt, spiegelt möglicherweise wider, dass Public Health-Akteure, anders als andere Interessensgruppen, im BMG wenig Gehör finden. Der Gesetzentwurf sieht (bisher) auch nicht die Einrichtung eines wissenschaftlichen Beirats vor.
Wissenschaft und Politik
Ein weiteres Problem, das sich schon in den Formulierungen im Koalitionsvertrag abgezeichnet hatte, hat sich im Referentenentwurf verfestigt: Das BMG hat die Dienst-, Fach- und Rechtsaufsicht über das BIPAM. Dies dürfte die Möglichkeiten des BIPAM, wissenschaftlich unabhängig zu arbeiten, einschränken. Bei Fachbehörden, deren wissenschaftliche Arbeit überwiegend naturwissenschaftlicher Art ist, ist das weniger bedenklich als bei Fachbehörden, die sozialwissenschaftliche und kommunikationswissenschaftliche Aufgaben wahrnehmen sollen. Hier ist die Abgrenzung zwischen wissenschaftlicher Analyse und politischem Framing erheblich schwieriger (instruktiv dazu: Gärditz/Linzbach, Gesundheitswissen aus Behördenhand, 2022). Sofern das im endgültigen Gesetzestext nicht noch anders geregelt wird, sollte hier eine interne Organisationsrichtlinie zum wissenschaftlichen Arbeiten am BIPAM für Klarheit sorgen. Dies gilt insbesondere auch vor dem Hintergrund, dass das BIPAM vom RKI die Surveillance nichtübertragbarer Erkrankungen sowie die darauf gestützte Gesundheitsberichterstattung übernehmen und gleichzeitig für Kommunikation und Kampagnen zuständig sein soll.
Mit Blick auf solche Schwachstellen des BIPAM-Konstrukts ist es bedauerlich, dass dem Gesetzentwurf zufolge eine Evaluation explizit nicht vorgesehen ist.
Neben diesen inhaltlich wichtigen Punkten sind noch handwerkliche Nacharbeiten nötig, beispielsweise fehlt in der Liste der Folgeänderungen anderer Gesetze, die durch die Auflösung der BZgA und den Aufgabenübergang vom RKI zu ändern sind, das Krebsregistergesetz oder § 20d (4) SGB V, aber das dürfte dem frühen Entwurfsstadium geschuldet sein.
Und nun?
In den nächsten Wochen wird es Abstimmungen mit den anderen Ressorts, den Ländern und den Verbänden geben. Insofern bleibt zu hoffen, dass die eingangs angesprochenen Spielräume noch genutzt werden, damit das neue Bundesinstitut nicht endgültig als „verpasste Chance für Public Health in Deutschland“ gesehen werden muss, wie das Zukunftsforum Public Health seine Stellungnahme betitelt hat, sondern wenigstens kleine Schritte in die richtige Richtung gegangen werden. Für die großen Sprünge fehlen offensichtlich Geld und politischer Wille.
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Eine fortgeschriebene Liste aller mir bekannten relevanten Statements zum Bundesinstitut findet sich hier: [Link].
Heute hat in der Süddeutschen Zeitung Nina von Hardenberg den PKV-Regionalatlas unter der Überschrift „Land lohnt sich für Ärzte“ aufgegriffen. Basis ist offensichtlich, wie schon in der sommerlichen Pressemitteilung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft, die Anlass meines ersten Blogbeitrags war, eine Aktualisierung des PKV-Regionalatlas 2019.
Frau von Hardenberg schreibt, dass der Atlas „der SZ exklusiv vorliegt“. Allerdings berichtet der Münchner Merkur heute ebenfalls, vielleicht liegt ihm die PKV-Broschüre ebenfalls „exklusiv“ vor. Für andere Bundesländer gibt es auch solche Atlanten mit entsprechender Pressebegleitung.
Weiter schreibt Frau von Hardenberg:
„Die Studie schlüsselt die Umsätze mit Privatpatienten erstmals nach Städten, Landkreisen sowie Regionen auf. Es zeigt sich, dass die Landärzte keinen Grund zu klagen haben.“
Dass die ihr vorliegende Studie „erstmals“ die Umsätze nach Städten und Landkreisen aufschlüsselt, ist nicht ganz richtig, es gab ja bereits den Regionalatlas Bayern 2019. Und ob die Landärzte keinen Grund zu klagen haben, mögen sie selbst sagen.
Sie folgt der Argumentation des PKV-Verbands weiter und stellt die gängigen Befunde über die Effekte von vielen PKV-Versicherten und Ärzteniederlassungen infrage:
„In der Diskussion über den Ärztemangel wird oft behauptet, dass der höhere Privatpatientenanteil und die damit verbundenen besseren Verdienstmöglichkeiten die Ärzte in die Städte lockten.“
Hier wäre es gut gewesen, Frau von Hardenberg hätte die Diskussion dazu zur Kenntnis genommen und wäre darauf eingegangen. Der Bericht der Wissenschaftlichen Kommission für ein modernes Vergütungssystem bestätigt beispielsweise die bekannte Stadt-Land-Verteilung von PKV-Erlösen:
Und was den Zusammenhang von Privatversicherten und Niederlassungen angeht, kann man einer zwar schon etwas älteren, aber vom Grundsatz her noch gültigen Studie von Sundmacher & Ozegowski entnehmen, dass dieser Zusammenhang nicht nur behauptet wird, sondern nachweisbar ist (S. 35):
„Insgesamt stützt unsere Analyse die These, dass der Anteil der PKV-Versicherten an der Gesamtbevölkerung die Standortwahl niederlassungswilliger Ärzte in relevantem Ausmaß mitbestimmt. Eine hohe PKV-Versichertendichte geht insbesondere mit einer höheren Facharztdichte einher. Die Korrelation des Anteils Privatversicherter und der Arztdichte kann in dieser Analyse unabhängig von dritten Faktoren wie der Präsenz von Universitätsklinken, der Attraktivität einer Gegend sowie dem geschätzten medizinischen Bedarf betrachtet werden.“
Mehr noch: Die regionale Verteilung des Anteils an PKV-Versicherten lässt eine in Bayern besonders ausgeprägte regionale Dichte von PKV-Versicherten im Wohlstandsgürtel in Südbayern erkennen. Das müsste bei einer Analyse von Stadt-Land-Unterschieden unbedingt beachtet werden.
Im PKV-Regionalatlas werden Stadt-Land-Unterschiede dagegen in origineller Weise analysiert. Die SZ folgt dem PKV-Verband auch hier kritiklos:
„Vor allem aber leben in Bayern in der Stadt gar nicht mehr Privatpatienten als auf dem Land. Es ist ein Anliegen der Studie, mit diesem gern zitierten Missverständnis aufzuräumen. In der Diskussion über den Ärztemangel wird oft behauptet, dass der höhere Privatpatientenanteil und die damit verbundenen besseren Verdienstmöglichkeiten die Ärzte in die Städte lockten.“
Nur, hat sie recherchiert, ob das wirklich ein Missverständnis ist? Man weiß es nicht. Schon der – online zugängliche – Regionalatlas 2019 hat die gleiche Argumentation vorgebracht. Schaut man dort in Tabelle 3 mit einer Auflistung des PKV-Marktanteils für die bayerischen Landkreise und Städte, so reibt man sich etwas verwundert die Augen. Dort werden den Landkreisen siedlungsstrukturelle Regionstypen des Bundesinstituts für Bau- Stadt- und Raumordnung (BBSR) zugeordnet. 1 für städtische Regionen, 2 für Regionen mit Verstädterungsansätzen, 3 für ländliche Regionen.
Allerdings ist das die Klassifikation der 18 Raumordnungsregionen in Bayern, bei der das BBSR bestimmte Kriterien anlegt, die eine größere Region kennzeichnen. Wenn man das einfach auf alle Kreise und Städte in den jeweiligen Regionen überträgt, wie es der PKV-Regionalatlas gemacht hat, bekommt beispielsweise der Landkreis Erding die 1 des Großraums München, dafür die Stadt Bamberg mit ihren immerhin fast 80.000 Einwohner:innen die 3, also „ländlicher Raum“, weil in der Raumordnungsregion keine Großstadt liegt. Regensburg mit seinen 150.000 Einwohner:innen erbt immerhin die 2 der umgebenden Planungsregion. Augsburg mit ca. 300.000 Einwohner:innen bekommt aber auch nur eine 2.
Von den 25 kreisfreien Städten in Bayern sind nach diesem Schema 16 (!) dem Regionaltyp 3, ländlicher Raum, zugeordnet, nur 5 dem Regionaltyp 1, städtische Region. Es gibt in Bayern nur zwei Raumordnungsregionen vom Regionaltyp 1 – der Großraum München und der Großraum Nürnberg. Man hätte mit BBSR-Daten auch feinere siedlungsstrukturelle Einordnungen vornehmen können, Erding wäre dann z.B. als ländliche Region eingestuft worden.
Vielleicht ist das ja in der aktuellen Version des Regionalatlas bereits berücksichtigt, wenn nicht, ist die Differenzierung nach Regionaltypen auf Kreisebene sinnbefreit, und ebenso die daran geknüpften Aussagen über Stadt-Land-Unterschiede.
Allerdings ist rund um die Städte der Marktanteil der PKV in der Tat oft etwas höher als in den Städten selbst: viele Besserverdiener wohnen im Einfamilienhaus im Grünen. Das kennzeichnet aber eben nicht die ländlichen Regionen insgesamt.
Am Ende des Artikels wird die Katze aus dem Sack gelassen:
“Die Studie ist für die PKV damit auch ein Argument gegen die immer wieder geforderte Zusammenlegung von gesetzlicher und privater Krankenversicherung.”
Darum also geht es. Aber wie tragfähig ist das Argument? Einmal unterstellt, die Daten im PKV-Regionalatlas gäben die Einkommensverhältnisse in Bayern korrekt wieder: Entfallen damit alle anderen, stärkeren Argumente für die Beseitigung dieser fast weltweit einmaligen Parallelstruktur in der Vollversicherung? Und müsste aus der Studie dann nicht die Forderung folgen, alle finanziellen Förderprogramme für Niederlassungen im ländlichen Raum zu streichen? Schließlich hätten doch, so Frau von Hardenberg, „die Landärzte keinen Grund zu klagen“? Diese Forderung erheben aber – zu Recht – weder der PKV-Verband noch Frau von Hardenberg.
Frau von Hardenberg zitiert vielmehr zum Abschluss noch aus dem Koalitionsvertrag von CSU und FW:
“Wir stehen zu gesetzlicher und privater Krankenversicherung. Eine Einheitsversicherung lehnen wir ab.”
Es wäre guter Journalismus gewesen, an der Stelle zumindest darauf aufmerksam zu machen, dass im Grundsatzprogramm der FW etwas ganz anderes steht und bei den FW einmal nachzufragen, wie dieser Widerspruch bewertet wird.
Stattdessen übernimmt Nina von Hardenberg die Argumentation des PKV-Verbands völlig kritiklos. Sie stellt den Daten des PKV-Verbands keine anderen Befunde gegenüber, sie hinterfragt weder die Daten noch die damit verbundene politische Strategie. Das war kein Glanzstück des Medizinjournalismus.
]]>Ein Nebenprodukt der Verwirrungen aus dem letzten Jahr ist ein Ableger von Gesundheits-Check: ein neues Blog „Leben und Geld“. Dort werden künftig vor allem Beiträge mit ökonomischen Inhalten erscheinen. Hier auf Gesundheits-Check bleibt alles beim Alten.
]]>Vor drei Wochen sagte Außenministerin Baerbock: „In diesen Tagen sind wir alle Israelis“. Man versteht die Emotion hinter dieser Kennedy-Anleihe, aber der Satz ist in jeder Hinsicht Unsinn. Uns haben keine Hamas-Kommandos überfallen und wir müssen keine zivilen Opfer bei unseren Reaktionen im Gaza-Streifen verantworten. Zumindest noch nicht. Israels Sicherheit, so betonen deutsche Politiker:innen derzeit bei jeder Gelegenheit, sei „deutsche Staatsraison“. Ein Satz, der alles zu rechtfertigen scheint, als stünde er in Artikel 1 im Grundgesetz. Habeck sprach von „uneingeschränkter Solidarität“ mit Israel, und bei „Lanz“ formulierte er als Konsequenz daraus den vieldeutigen Satz „Die Solidarität mit Israel schließt natürlich auch militärische Unterstützung mit ein.“ Natürlich. Was wäre das sonst für eine „uneingeschränkte Solidarität“. Aber ist damit die Lieferung von Helmen gemeint oder der Einsatz deutscher Soldaten? Sind wir alle Israelis in diesen Tagen, uneingeschränkt? The Germans to the front?
Man darf gespannt sein, was sich die deutsche und die türkische Seite angesichts solch gegensätzlicher Positionen vor oder nach dem obligatorischen Händeschütteln zu sagen haben – und was man uns danach sagt. Weltpolitik findet – wieder einmal – ohne die Menschen statt, die ausbaden müssen, was sich die Weltenlenker einfallen lassen. Man nimmt uns unsere Verantwortung ab. Allerdings ist es nicht nur schwer, sich Gehör zu verschaffen, es ist auch schwer, wie schon beim Ukrainekrieg, die eigene Verantwortung bei diesen mörderischen Geschehnissen überhaupt vernünftig zur Sprache zu bringen, ohne falsche Parteinahmen und ohne falsche Neutralität. Eine aufgeklärte Friedensbewegung täte not. Trotzdem sollte es zum zivilgesellschaftlichen Teil der deutschen Staatsraison gehören, den Dingen nicht einfach sprachlos oder gar achselzuckend ihren Lauf zu lassen, z.B. der demonstrativen Artikulation von Hass auf unseren Straßen untätig zuzusehen. Das zumindest ist unsere Verantwortung. Ob die Weltenlenker der ihren gerecht werden, wird man sehen, auch bei Erdogans Besuch in Berlin.
]]>Rechtspopulisten stellen den Klimawandel infrage, zumindest die Rolle des Menschen dabei, Sexismus ist für sie eine linke Erfindung, eine Ideologie, um angestammte Rollen von Männern zu delegitimieren, gipfelnd in der „Gender-Ideologie“, die sich anmaßt, von Bürgerinnen und Bürgern zu sprechen, wo doch das generische Maskulinum alle einschließt, ähnlich beim Rassismus, und bei Gesundheitsthemen, z.B. dem Nichtraucherschutz oder der Ernährung, versuchen die „woken Linken“, den „normalen“ Menschen umzuerziehen, weg von seinen natürlichen genussfreudigen Anlagen pro Qualm und Schweinshaxe. Und alles zusammen dient dazu, die Menschen zu unterwerfen und globalistischen Eliten, hierzulande war’s bis vor kurzem die uckermärkische Merkeldiktatur, gefügig zu machen.
Dabei kommt ein narratives Werkzeug zum Einsatz, das die Rechtspopulisten von eben jenen „woken Linken“, die sie so vehement bekämpfen, übernommen haben: der Opferstatus. Während Frauen, Nichtweiße, LGBTQ oder Menschen mit Behinderungen tatsächlich aus einer Opferrolle heraus Anerkennung und Teilhabe einfordern, ist die rechte Opferrolle eine, die ihre emotionale Energie aus dem gefühlten Verlust von Dominanz bezieht und sich rechtspopulistisch gut ausbeuten lässt.
Ein Meister dieser Strategie war Donald Trump. Der republikanische Gouverneur von Florida, Ron DeSantis, eifert ihm gelehrig nach. In der aktuellen Ausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ beschreibt Ella Müller, Programmleiterin im Washington-Büro der Heinrich Böll-Stiftung, wie geschickt DeSantis die Klimakrise für seinen Kulturkampf nutzt. Einerseits kann er die Augen vor den Folgen des Klimawandels in Florida nicht mehr verschließen und bringt milliardenschwere Anpassungsmaßnahmen auf den Weg, andererseits führt er den ideologischen Kampf gegen die „woken Linken“ auch beim Thema Klimawandel unvermindert weiter. Müller verweist z.B. auf das 2021 verabschiedete Preemption Over Restriction of Utility Services-Gesetz, das es Kommunen verbietet, ganz auf erneuerbare Energien umzusteigen (ebd. S. 63): „Jede Form von Subvention oder politischer Förderung erneuerbarer Energien wird hier zur illegalen Diskriminierung fossiler Brennstoffe erklärt.“ Des Weiteren sei Pensionsfonds in Florida verboten, ihre Investments aus fossilen Brennstoffen abzuziehen.
Die Opferrolle ist dabei ein unverzichtbares Werkzeug, weil sie eine solche Politik auch gegen die Mehrheit der Bevölkerung in Stellung bringen kann. Müller schreibt, auch in den USA gebe es eine deutliche Mehrheit für Klimaschutz und für mehr Förderung in diesem Bereich. Der linksgrün versiffte Mainstream, der auch hierzulande immer wieder bemüht wird. Die Opferrolle unterstützt eine strategische antidemokratische Politik.
Zu eben jenem Ron DeSantis sind vor wenigen Monaten prominente CSU-Politiker:innen gefahren, um sich „zu informieren“: Andreas Scheuer, Dorothee Bär und Florian Hahn. Scheuer hat sich danach unverblümt zum Politikkonzept von DeSantis bekannt: „Ich teile die Analysen von DeSantis.“
Klimaleugnen ist nicht einfach Ausdruck eines intellektuellen Unverständnisses, was in der Welt vor sich geht. Exxon wusste bereits vor Jahrzehnten, dass die Dekarbonisierung der Wirtschaft nötig ist und hat eine am Vorbild der Tabakindustrie geschulte Desinformationsstrategie verfolgt. Es geht um den gezielten Schutz etablierter Geschäftskonzepte und der damit verbundenen Machtstrukturen – mit der Opferrolle als frontenstabilisierendes Narrativ auch für die eigene Anhängerschaft, oder in den Worten Müllers (S. 64):
„Die Aufregung über eine mögliche staatliche Regulierung von Abgasen, Heizungen oder Gasherden dient auf Fox News, bei rechten Thinktanks und bei republikanischen Politikern dazu, die konservative Basis in dem Gefühl zu bestätigen, von einer linken Übermacht belagert zu werden.“
Diese Inszenierung funktioniert auch in Bayern, wie zuletzt Aiwangers demagogische Erdinger Rede im Juni eindrücklich demonstriert hat, und sie funktioniert natürlich auch über Bayern hinaus. Möge, was Bayern angeht, die Vernunft in der CSU die Oberhand über DeSantis-Zauberlehrlinge wie Scheuer & Co. behalten.
]]>Die Coronakrise mit ihren Sonderlasten, z.B. für Impfstoffe, hat der Prävention nun eine Scheinblüte beschert: Im Jahr 2021 ist der Anteil der Prävention an den Gesundheitsausgaben auf 6,5 % gesprungen, gegenüber 3,4 % im Jahr 2020. Oder in absoluten Zahlen: Für 2021 weist das Statistische Bundesamt 30,7 Mrd. Euro Ausgaben in der Prävention aus, 2020 waren es mit 15,0 Mrd. Euro gerade mal halb so viel. Daten für 2022 liegen noch nicht vor.
Mit dem neuen „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) will Gesundheitsminister Lauterbach der Prävention auch bei den nichtübertragbaren Krankheiten, vor allem den Herzkreislauf-Krankheiten, mehr Rückenwind verschaffen. Man wird an den Säulen dieses Diagramms in den nächsten Jahren ablesen können, ob es einen „Wumms“ gab oder nur ein laues Lüftchen.
]]>„Weltweit arbeiten staatliche Akteure, Social-Media-Unternehmen, Universitäten und Nichtregierungsorganisationen verstärkt daran, die Bürger zu überwachen und ihnen ihre Stimme zu nehmen. Diese groß angelegten und koordinierten Bemühungen werden manchmal als “industrieller Zensurkomplex” bezeichnet.“
Google weiß zum Begriff „industrieller Zensurkomplex“ zwar jenseits der aktuellen Deklaration nichts zu berichten*, aber dass es viele Länder gibt, in denen die Meinungsfreiheit nicht viel wert ist, darüber muss man nicht diskutieren. Nur werden sich Länder wie der Iran, China oder Russland durch so eine Deklaration gewiss nicht beeindrucken lassen. Sie sind wohl auch nicht gemeint. Den „industriellen Zensurkomplex“ verorten die Unterzeichner:innen vermutlich eher in den westlichen Ländern und dort wiederum vor allem in den Ländern mit einer lebendigen Zivilgesellschaft.
Im Grunde ist die Erinnerung daran, dass die Demokratie vom Meinungsstreit lebt, auch nicht verkehrt. Viele Debatten, von Corona über das Gendern bis hin zum Ukrainekrieg, sind zuweilen durch eine Hypermoral geprägt, die den Gewinn an Einsichten durch den Austausch an Argumenten erschwert und mitunter auch berufliche Karrieren beschädigen kann. Aber gehen wir wirklich einer weltweiten Zensurgesellschaft entgegen?
Schaut man sich die Unterzeichner:innen an, so fällt auf, dass es sich um eine ausgesprochen illustre Runde handelt. Da finden sich Leute wie Julian Assange oder Edward Snowden, die durch ihre Veröffentlichungen geheimer Dokumente bekannt geworden sind, der mit kritischen Einlassungen zur politischen Entwicklung nie sparsame Philosoph Slavoj Žižek, der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis oder der Filmemacher Oliver Stone, aber auch Figuren wie Ulrike Guérot, die es in der letzten Zeit diskursiv aus der Kurve getragen hat, reihenweise Leute wie Mathias Bröckers, Robert Cibis oder Robert Malone, die obskurantistische und verschwörungstheoretische Positionen vertreten, und auch Leute, die zum ideologischen Dunstkreis des erzreaktionären Gouverneurs DeSantis gehören, oder der Schweizer Weltwoche, die sicher ein ganz eigenes Verständnis von Meinungsfreiheit haben.
Die Buntheit der Unterzeichner:innen wird im Deklarationstext explizit betont:
„Als Unterzeichner dieser Erklärung haben wir grundlegende politische und ideologische Meinungsverschiedenheiten. Aber nur wenn wir uns zusammentun, können wir die eindringenden Kräfte der Zensur besiegen, damit wir weiterhin offen debattieren und uns gegenseitig herausfordern können.“
Allerdings dürfte der Kreis der Unterzeichner:innen so bunt sein, dass es die Glaubwürdigkeit des Anliegens schlicht zerstört. Manche werden es sicher mit der Deklaration ganz ernst meinen, vielen dürfte es aber vor allem darum gehen, ihre obskuren – und zuweilen andere herabwürdigenden – Ansichten frei und ungestört verbreiten zu können, manchen vielleicht auch nur um ihr Desinformations-Business.
Die Deklaration ging, wie die Unterzeichner:innen schreiben, aus einer Tagung im Juni in London hervor. Wer diese Tagung organisiert hat, wer eingeladen hat, wer sie finanziert hat, erfährt man auf der Seite der Deklaration nicht.** Sie hat – Stand heute – auch kein Impressum. Dabei wäre es doch gut zu wissen, wer da aktiv ist. Dubiose Deklarationen, die vorgeben, sich für die Freiheit einzusetzen, gibt es schließlich genug, so manche initiiert von amerikanischen rechtslibertären Think Tanks, die alles andere als die Freiheit des Wortes oder der Wissenschaft im Sinn haben.
Aber vielleicht ist das in dem Fall ja auch nur ein Hauch von Verschwörungstheorie – die Deklaratisten sollte es nicht stören, so viel Meinungsfreiheit muss sein, oder in der klassischen Formulierung: Das wird man doch noch sagen dürfen. Oder müssen.
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* Nachtrag 22.10.2023: Zum englischen Original “Censorship-Industrial Complex” wird google fündig, aber das scheint meist auch aus dem Umfeld des Mitinitiators der Deklaration, Michael Shellenberger, zu kommen.
** Noch ein Nachtrag 22.10.2013: Bei der Tagung hat es sich augenscheinlich um diese gehandelt: https://censorshipindustrialcomplex.org/blog-4-1/live-in-london-censorship-industrial-complex-exposed
]]>Ob es in naher Zukunft wieder eine Wende zum Besseren gibt oder ob es noch schlimmer wird? Viele der unguten Zustände sind absehbar morgen nicht vorbei. Autokraten geben die Macht nicht ohne Not wieder her, und Regionen, in denen Armut und Krieg Einzug gehalten haben, kehren oft für Jahre und Jahrzehnte nicht zu Frieden und Wohlstand zurück.
Vorbeugen ist besser als Heilen. Zumindest in Demokratien haben alle Einfluss darauf, wie es weitergeht. Insbesondere tragen in Demokratien alle Verantwortung dafür, die Macht nicht in die Hände von Verbrechern fallen zu lassen. Haben die Putins, Ortegas oder Assads das einmal geschafft, bleibt oft nicht viel mehr als auf abtrünnige Eliten zu hoffen, oder, wie seinerzeit in der DDR, auf die Sklerotisierung und Ermüdung der Diktatur, auf das Eintreten einer revolutionären Situation.
Darüber, wer zu den Verbrechern und Verführern gehört und wer nicht, mag manchmal keine Einigkeit bestehen. Aber manchmal ist es auch einfach: Wer ständig von der Größe und Ehre der Nation redet, hat sichtlich anderes im Sinn, als sich um die Umwelt, um bezahlbares Wohnen, gute Schulen oder eine menschenwürdige Pflege zu sorgen. Für die Größe und Ehre der Nation wurden schon immer Menschen in Gefängnisse gesteckt oder in Kriege geschickt, Krieg für bezahlbares Wohnen oder mehr Pflegekräfte gab es noch nie.
Ludwig Erhards Motto „Wohlstand für alle“ verbindet das Versprechen auf ein Leben ohne Armut mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit. Unter diesen Voraussetzungen hat es die Demokratie als die gemeinsame Sorge um das Wohlergehen aller leichter. Die neoliberale Aufteilung der Welt in Sieger und Verlierer lässt die Demokratie dagegen erodieren. Und den Frieden in der Welt auch.
Nach einer neuen Umfrage liegt die AfD deutschlandweit bei 23 %, die Ampelparteien zusammen bei gerade mal 33 %, die Union bei 29 %. Wie es weitergeht, ist – auch – unsere Verantwortung.
]]>1. Das neue Institut soll „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ (BIPAM) heißen und zum 1.1.2025 an den Start gehen. Der Errichtungsbeauftragte Dr. Nießen wird das neue Institut aufbauen und die alte BZgA abwickeln.
2. Das RKI wird im Wesentlichen auf Infektionskrankheiten beschränkt, die im Aufbau befindliche KI-Abteilung bleibt beim RKI. Neuer Präsident des RKI wird Prof. Schaade, der bisherige Vize-Präsident.
3. Das neue BIPAM soll sich auf Krebs, Demenz und Herzkreislauferkrankungen konzentrieren und dazu Daten erheben und Maßnahmen vorschlagen.
4. Der Haushalt des BIPAM wird noch verhandelt.
Zum Hintergrund hat Lauterbach erläutert, das Gesundheitswesen in Deutschland sei vergleichsweise teuer, trotzdem sei die Lebenserwartung nur europäisches Mittelmaß und die sozialen Unterschiede bei der Lebenserwartung seien groß. Ein Grund dafür sei, dass die „Vorbeugemedizin“ in Deutschland nicht ausreichend sei. Hier solle das neue Institut mit den drei Schwerpunkten Krebs, Demenz und Herzkreislauferkrankungen helfen, diese würden mehr als 75 % der Sterbefälle in Deutschland ausmachen.
Dem BMG ist mit den genannten Punkten eine Überraschung gelungen. Mit so einem Konstrukt haben vermutlich nicht viele gerechnet. Man wird abwarten müssen, was daraus wird und welche konkrete Rolle es im Public Health-Bereich spielen wird. Dass die Prävention gestärkt werden soll, ist ein Ziel, das man nur begrüßen kann. Aber vieles an dem BIPAM-Konstrukt ist recht befremdlich.
Sprachlich fällt auf, dass ein „Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin“ einem Public Health-Anspruch schon vom Titel her nicht gerecht wird. Die Medizin leistet natürlich einen wichtigen Beitrag zu Public Health, aber die WHO spricht nicht umsonst von „Health in all Policies“. Public Health und Prävention sind ressortübergreifende Aufgabenstellungen. Möglicherweise hat Lauterbach die Engführung „in der Medizin“ bewusst gewählt, weil er im Kabinett keinen ressortübergreifenden Public Health-Ansatz erreichen konnte – oder es vielleicht gar nicht versucht hat.
Der Begriff „Vorbeugemedizin“ ist nicht nur antiquiert, auch hier ist wieder nur die Medizin angesprochen. Bewusst oder nicht, man weiß es nicht.
Die Auswahl von drei Krankheiten als prioritären Handlungsfeldern, statt der Adressierung von Risikofaktoren, könnte ebenfalls Ressortzuständigkeiten geschuldet sein. Für Krankheiten ist das BMG zuständig, für die zugrunde liegenden Risikofaktoren nur teilweise, und vor allem da, wo das Gesundheitsverhalten adressiert wird. Bei den Verhältnisfaktoren, z.B. der sozialen Lage, der Umwelt, den Arbeitsbedingungen, dem Verkehr, der Bildung usw., sind andere Ressort betroffen und wären einzubeziehen. Die haben ihre eigenen „Präventionsbehörden“, wie die BAUA oder das UBA.
Die Aussage Lauterbachs, auf die drei Krankheitsgruppen entfielen „mehr als 75 %“ der Sterbefälle in Deutschland, ist sachlich falsch. Im Jahr 2021 waren es 62 %. Der Anteil der drei Krankheitsgruppen an allen Sterbefällen geht kontinuierlich zurück. 75 % waren es im Jahr 1998. Grund für den abnehmenden Anteil ist die rückläufige Zahl der Sterbefälle infolge von Herzkreislauferkrankungen.
Ob man für eine Prioritätensetzung in der Prävention überhaupt die Sterbefälle nehmen sollte, darüber lässt sich trefflich streiten. Krebs, Demenz und Herzkreislauferkrankungen sind – im statistischen Durchschnitt – typische Alterserkrankungen. Ist ihr Anteil hoch, bedeutet das auch, dass die Menschen im Durchschnitt recht alt werden. Für die Prävention wären andere Parameter zielführend, z.B. die verlorenen Lebensjahre. Krebs und Herzkreislauferkrankungen wären hier zwar immer noch vorn, aber dann kämen beispielsweise auch die Unfälle ins Blickfeld. Wieder eine Frage der Ressortzuständigkeit? Oder geht es am Ende auch darum, dass Krebs, Demenz und Herzkreislauferkrankungen höchst interessante Felder für die Pharmaindustrie sind? Dazu passt, dass Lauterbach mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz für Forschungszwecke auch den Zugriff der Pharmaindustrie auf die Daten der Krankenversicherung erleichtern will. Das wäre immerhin ein konsistenter Ansatz, wenn auch nicht aus Public Health-Sicht. Aber das ist zugegebenermaßen Kaffeesatzleserei und vielleicht tut man dem ganzen Vorhaben damit Unrecht. Man wird sehen.
Das RKI ist seine – auch vom Bundestag 2007 bestätigte – Rolle als Public Health-Institut los, zumindest was die themenübergreifende Perspektive betrifft. Es ist wieder wie vor hundert Jahren auf ein Institut für Infektionskrankheiten zurückgeschnitten. Dabei hat die Coronakrise eigentlich unmissverständlich klar gemacht, dass Infektionskrankheiten immer die Gesellschaft als Ganzes betreffen und als Public Health-Herausforderungen, nicht nur als Infektionsschutzaufgabe, verstanden werden müssen.
Problematisch ist der Übergang der Epidemiologie nichtübertragbarer Krankheiten vom RKI an das neue BIPAM. Das RKI soll dem Koalitionsvertrag zufolge künftig „wissenschaftlich unabhängig“ arbeiten, das BIPAM wird eine dezidiert politische Behörde. Die Erhebung und Auswertung von epidemiologischen Daten wäre daher besser beim RKI verblieben. Warum die im Aufbau befindliche KI-Abteilung beim RKI verbleibt, ist unklar, vielleicht wird auch sie auf Infektionskrankheiten fokussiert.
Wie schon absehbar, wird das neue Institut aus dem Bestand von BZgA und RKI aufgebaut. Ob damit mehr Power für die Prävention generiert werden kann und eine substanzielle Ressourcenstärkung folgt, bleibt abzuwarten. Der Haushalt des neuen Instituts muss im nächsten Jahr mit dem Finanzminister verhandelt werden – sofern diese Bundesregierung bis dahin noch existiert.
Insgesamt fällt auf, dass die vielen Stellungnahmen der Verbände und Fachgesellschaften praktisch keine Spuren in der Konzeption des neuen Instituts hinterlassen haben. Die Konzeption wurde auch nicht mit den Ländern oder den im Public Health-Bereich aktiven Fachgesellschaften diskutiert. Vielleicht waren vertraulich einzelne Personen eingebunden, aber ein Public Health-Institut hätte man besser nicht in einer Geheimoperation vorbereitet.
Man wünscht dem Errichtungsbeauftragten viel Glück. Möge er das Beste aus der Sache machen, damit es am Ende nicht zu der bitteren Diagnose kommt, Operation geglückt, Patient tot.
]]>Das Thema kann man identitätspolitisch angehen, als Aufforderung zu einem Bekenntnis in der einen oder anderen Richtung, meist dem alten Schema „Freiheit oder Sozialismus“ folgend, oder man kann sich einzelne ökonomische Argumente ansehen und ihre Tragfähigkeit diskutieren.
Letzteres will ich hier wieder einmal mit Blick auf eine Pressemitteilung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. (vbw) vom 1. August 2023 tun. Dort heißt es:
„Insbesondere im ländlichen Raum tragen die Mehrerlöse, die niedergelassene Ärzte durch Privatversicherte erzielen, dazu bei, die Qualität der Versorgung zu verbessern. Würden diese mit der Einführung einer Bürgerversicherung wegfallen, käme es zu einer deutlichen Verschlechterung bei der Versorgung.“
Zur Begründung wird angeführt:
„Dieser PKV-typische Mehrumsatz entsteht, weil Privatpatienten für viele Leistungen höhere Honorare entrichten als sie bei gesetzlich Versicherten anfallen. Die zusätzlichen Finanzmittel können Ärztinnen und Ärzte, Therapeuten und Krankenhäuser in Fachpersonal oder moderne Praxisinfrastruktur investieren. Davon profitieren somit alle Patientinnen und Patienten.“
Richtig ist natürlich, dass Privatversicherte in der Regel mehr Geld beim niedergelassenen Arzt lassen als gesetzlich Versicherte. Eine ganz andere Frage ist allerdings, ob für die Ärzte insgesamt mit einer Bürgerversicherung weniger Geld zur Verfügung stünde. Wenn die Beiträge der Privatversicherten in eine Bürgerversicherung fließen würden, würde das Beitragsaufkommen ja nicht kleiner, es würde nur anders verteilt. Und wenn sie auch noch einkommensabhängige Beiträge entrichten würden, würde das Beitragsaufkommen sogar größer.
Nur nebenbei, weil in den Passus auch die Krankenhäuser angesprochen werden: Bei den Krankenhäusern ist die DRG-Finanzierung für privat und gesetzlich Versicherte gleich, daran würde sich durch eine Bürgerversicherung also nichts ändern. Gesetzlich Versicherte können sich zudem durch eine private Zusatzversicherung auch Einzelzimmer und Chefarzt-Behandlung kaufen, wobei Letzteres nicht immer empfehlenswert ist.
Der Passus in der vbw-Pressemitteilung suggeriert zudem, dass die PKV die Versorgungsinfrastruktur auch für die gesetzlich Versicherten im ländlichen Raum sichert. Das ist aber angesichts von fast 90 % gesetzlich Versicherten in der Bevölkerung eine etwas eigenwillige Sichtweise, umgekehrt wird eher ein Schuh daraus. Die große Zahl der gesetzlich Versicherten und der Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen sorgt dafür, dass auch die privat Versicherten im ländlichen Raum einen Arzt in Wohnortnähe haben. Ganz davon abgesehen, dass für Investitionen der Krankenhäuser ohnehin nicht die Krankenversicherung zuständig ist, das ist Aufgabe der Länder. Allerdings kommen die Länder dieser Verpflichtung immer weniger nach, so dass die Investitionen der Krankenhäuser aus den Behandlungserlösen querfinanziert werden. Das ist ein Streitpunkt von vielen bei der aktuellen Krankenhausreform.
Die Aussagen in der vbw-Pressemitteilung stützen sich auf den PKV-Regionalatlas Bayern, darauf deutet dieser Passus der Pressemitteilung hin:
„Im ländlichen Landkreis Wunsiedel erzielen die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte von Privatversicherten Mehrerlöse im Realwert von durchschnittlich 81.755 Euro pro Jahr, in den Praxen im Großraum Nürnberg sind es demgegenüber „nur“ 52.841 Euro.“
Solche „Realwert“-Kennziffern werden im PKV-Regionalatlas Bayern präsentiert. Sie sollten aufzeigen, wie viel Mehrumsatz unter Berücksichtigung von Kostenstrukturen in den Praxen anfällt. Die Daten aus dem PKV-Regionalatlas sind in der Tat beeindruckend. Demnach würden Ärzte im ländlichen Raum deutlich mehr von den PKV-Einnahmen profitieren als Ärzte in den Städten:
Woher in der vbw-Pressemitteilung die Werte für Wunsiedel und den „Großraum Nürnberg“ kommen, ist unklar. Der PKV-Regionalatlas weist für den Landkreis Wunsiedel 67.656 Euro aus, nicht 81.755 Euro, und die Daten für die Region Nürnberg lassen sich im PKV-Atlas ebenfalls nicht finden. Der PKV-Regionalatlas ist von 2019. Falls der vbw neuere Daten von der PKV erhalten hat, wären die großen Unterschiede zu den Daten 2019 ein Hinweis auf die Instabilität der Daten.
Was auch immer die Daten beschreiben, es wirkt befremdlich, wenn z.B. die kreisfreie Stadt Landshut mit 22.275 Euro den geringsten „Realwert“ aufweist, der Landkreis Landshut mit 182.904 Euro den höchsten, also das 8-fache der Stadt. Wie kann das sein? Auch in anderen Regionen gibt solche erheblichen kleinräumigen Differenzen. Unterschiedliche Kostenstrukturen in Stadt und Landkreis Landshut stehen nicht dahinter, die im PKV-Regionalatlas ebenfalls ausgewiesenen Nominalwerte unterscheiden sich der gleichen Größenordnung (Landkreis Landshut 170.026 Euro versus Stadt Landshut 19.603 Euro). Plausibel wären große Kostenstrukturunterschiede unmittelbar benachbarter Regionen ohnehin nicht.
Im PKV-Regionalatlas werden mit den Daten gesundheitspolitisch hoch relevante Thesen begründet (S. 47):
„Das Vorurteil, dass im ländlichen Raum einzelne Privatversicherte als „Trittbrettfahrer“ die von der GKV flächendeckend finanzierte medizinische Infrastruktur nutzen, ist mit Blick auf die Höhe des Realwertes der altersadjustierten Mehrumsätze auf dem Lande als substanzlos zu betrachten.
Darüber hinaus widerlegt der PKV-Regionalatlas Bayern einen weiteren populären und politischen Irrtum. Dass nämlich für die Standortentscheidung medizinischer Leistungserbringer insbesondere der Anteil der Privatversicherten von Relevanz sei und es deshalb zu einer Ungleichverteilung der Ärzte zwischen Stadt und Land käme. Die Regionalergebnisse für Bayern zeigen in diesem Zusammenhang in eine vollständig andere Richtung.“
Die Daten für Stadt und Landkreis Landshut sind dafür ein exemplarischer Prüfstein. Wenn allein der Mehrumsatz durch die PKV-Patienten im Landkreis in einer solchen Größenordnung liegen soll, wie hoch muss dann der Gesamtumsatz sein? Arbeiten im Landkreis Landshut nur Radiologen, oder Ärzte auf deren Einkommensniveau? Und bedarf es dann wirklich noch einer finanziellen Niederlassungsförderung für den ländlichen Raum?
Die Daten sind, wie gesagt, beeindruckend. Aber die Gesundheitspolitik braucht belastbare und überzeugende Daten. Sind sie es?
]]>Unwahr ist, dass Hubert Aiwanger das Grundsatzprogramm als „alte Jugendsünde“ bezeichnet und vorgibt, sich nach so vielen Jahren auch nicht mehr an jedes Detail erinnern zu können. Er habe es jedenfalls nicht geschrieben und distanziere sich in jeder Form von seinen Inhalten.
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Nur nebenbei angemerkt: In den BBB-Nachrichten sprechen sich neben Hubert Aiwanger auch Markus Söder (CSU), Katharina Schulze (Grüne), Florian von Brunn (SPD) und Martin Hagen (FDP) für die Beibehaltung des Nebeneinanders von gesetzlicher und privater Krankenversicherung aus. Nur Adelheit Rupp (Linke) fordert eine Krankenversicherung, in die alle einzahlen. Frau Rupp war von 2003 bis 2013 für die SPD im Bayerischen Landtag und auch mal stellvertretende Vorsitzende der Bayern-SPD. Jetzt vertritt sie bei dem Thema also das Grundsatzprogramm der Freien Wähler in einer linken Splitterpartei. Bayern ist bunt.
Unwahr ist, dass er damit zeigen wollte, was er unter „Alternative für Deutschland mit Substanz“ versteht.
]]>Vermutlich werden um die 6 Mio. Besucher:innen aus aller Welt, samt und sonders adrett in Landhausmode gekleidet, kulturelle Aneignung hin oder her, das Fest besuchen und Bier ohne Ende trinken. Während der Wiesn, wie das Fest auf bairisch heißt, ist die Alkoholprävention ausgesetzt. Im Gegenteil, da werben im Landtagswahlkampf sogar Oppositionsparteien für ungehemmten Lösemittelkonsum.
Der Oktoberfeststatistik zufolge wurden im letzten Jahr 5,6 Millionen Maß Bier ausgeschenkt. Allerdings ist nicht klar, ob damit eine Maßeinheit von je einem Liter oder eine Maßeinheit von je einer Krugfüllung, also einem Liter minus X, gemeint ist. Der Preis pro Maß liegt in diesem Jahr zwischen 12,60 Euro und 14,90 Euro, bezogen auf die Krugfüllungseinheit. Fast genauso viel kostet der Liter Wasser, etwa 10 Euro. Im Supermarkt kostet ein Liter Bier ca. 2 Euro. Wiesn-Ökonomen sehen hier einen wirtschaftlichen Anreiz zur Finanzierung des Initialrausches im Supermarkt, dann Wiesnbesuch zur Aufrechterhaltung des Promille-Pegels. Für manche ist der Rausch ohnehin der Naturzustand während der Wiesn. Den Bayern schadet das nicht, die saufen angeblich seit 1000 Jahren folgenlos, wie Hubert Aiwanger vor kurzem festgestellt hat. Allerdings können sich manche dann nicht mehr so gut an ihre Jugend erinnern.
Wie Gäste aus dem Ausland das Bier vertragen, weiß man nicht. Vielleicht sind die mit drei Maß Bier wirklich nicht mehr fähig, Auto zu fahren. Bei Polizeikontrollen wurden im letzten Jahr 572 verkehrsuntüchtige Verkehrsteilnehmer erwischt, torkelnde Fußgänger nicht mitgerechnet, 284 waren absolut fahruntüchtig, 311 Führerscheine wurden einkassiert. Kurioserweise gab es 2022 auch 184 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit illegalen Betäubungsmitteln, vor allem wegen Cannabis. Saufen erlaubt, kiffen verboten. Diese drogenpolitische Dialektik versteht man problemlos nach der zweiten oder dritten Maß. Angeblich ist Karl Lauterbach so auf die Idee zur Cannabislegalisierung gekommen.
Bis zum 3. Oktober geht die Wiesn 2023. Dann werden wir auch wissen, wie viele Tonnen gebrannter Mandeln diesmal verzehrt wurden. 41 Tonnen waren es im letzten Jahr.
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Zum Weiterlesen: Oktoberfest-Statistik
Das hat sich in den letzten 10 Jahren spürbar geändert. Eine Serie von Krisen, von der EHEC-Krise über die Flüchtlingskrise bis zur Coronakrise hat gezeigt, dass der ÖGD ein unverzichtbares Element von Public Health ist. Dabei ist es auch nicht bei Lippenbekenntnissen zum ÖGD geblieben. Die Gesundheitsministerkonferenz hat bereits 2018 ein Leitbild für den ÖGD verabschiedet, das dem ÖGD ein zukunftsfähiges Gesicht gegeben hat, verbunden mit Entwicklungsperspektiven. Das Leitbild geht auf eine Anregung von Sybille Scriba aus Mecklenburg-Vorpommern zurück, wurde in ihrem Auftrag durch eine länderübergreifende Arbeitsgruppe unter der Federführung Bayerns ausgearbeitet und durch die Akademie für öffentliches Gesundheitswesen in Düsseldorf „unter die Leute“ gebracht, sprich, in die ÖGD-Reformdiskussion. Dieses Leitbild ist ein Referenzpapier nicht nur für viele programmatische Publikationen, sondern auch für den „Pakt für den ÖGD“ geworden, mit dem bis 2026 insgesamt 4 Mrd. Euro in den Ausbau des ÖGD investiert werden, sowohl was die überfällige Digitalisierung angeht als auch die Finanzierung von zusätzlichem Personal.
Ein wichtiger Punkt sowohl im Leitbild als auch im Pakt ist die Stärkung der Verbindung von Wissenschaft und ÖGD. Fast alle Aufgaben des ÖGD sind heute hochgradig wissenschaftsbasiert und darauf angewiesen, wissenschaftlich unterstützt zu werden. Inzwischen gibt es an einigen Universitäten die ersten „ÖGD-Professuren“, es gibt, unterstützt durch den Pakt, viele gemeinsame Forschungsvorhaben von ÖGD und Universitäten und es gibt – konsequenterweise – seit Frühjahr 2023 eine wissenschaftliche Fachgesellschaft des ÖGD, die „Deutsche Gesellschaft für Öffentliches Gesundheitswesen“ (DGÖG). Sie wurde vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) gegründet.
Kurioserweise kam es kurz darauf zu einer zweiten wissenschaftlichen Fachgesellschaft des ÖGD, der „Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin“ (DGÖGB), ins Leben gerufen von altgedienten ÖGDlern.
Hintergrund ist ein Streit darum, welchen Einfluss Nichtärzt:innen in einer wissenschaftlichen Fachgesellschaft des ÖGD haben sollen. Die DGÖG ist hier liberaler, die DGÖGB restriktiver. Auf ihrer Internetseite heißt es:
„Die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Öffentliche Gesundheit und Bevölkerungsmedizin sind Ärztinnen und Ärzte, die in der Bevölkerungsmedizin oder im Öffentlichen Gesundheitswesen tätig sind oder waren, Forschungserfahrene sowie Studierende der Medizin.“
Wer Mitglied werden will, muss Arzt oder Ärztin sein, oder, jetzt kommt’s, Folgendes bestätigen: „Ich bin nicht Arzt, kann jedoch Forschungserfahrung nachweisen“.
Ich habe großen Respekt vor dem Kenntnisreichtum von Ärzt:innen in den örtlichen Gesundheitsämtern, die ein wirklich großes Themenspektrum bearbeiten müssen, von umweltmedizinischen Fragestellungen über den Infektionsschutz bis hin zur Schulgesundheitspflege. Aber „Forschungserfahrung“ gehört im Regelfall nicht zu den Stärken der Ärzt:innen im ÖGD, zumindest nicht in den örtlichen Gesundheitsämtern. Die Forschung im ÖGD wird zu einem erheblichen Teil durch Sozialwissenschaftler:innen und Gesundheitswissenschaftler:innen getragen, von denen es aber bisher nur sehr wenige in den örtlichen Gesundheitsämtern gibt. Der Pakt für den ÖGD will das ändern, die DGÖGB steht hier offensichtlich in einer anderen Ecke.
Hinzu kommt, dass das ÖGD-Leitbild die Multiprofessionalität im ÖGD als besondere Stärke hervorhebt. Der ÖGD ist nicht nur eine ärztliche Organisation und er nimmt nicht nur ärztliche Aufgaben wahr. Ärzt:innen stellen etwa ein Fünftel der gut 21.000 Beschäftigten im ÖGD, etwa ebenso viele kommen aus der Sozialpädagogik und ein Zehntel sind Hygieneinspektor:innen. Sozial- und Gesundheitswissenschaftler:innen stellen, wie gesagt, nur einen marginalen Anteil. Leider ist die im Rahmen des Pakts für den ÖGD vom Statistischen Bundesamt auf der Basis der Klassifikation der Berufe 2010 durchgeführte Personalerhebung 2020 und 2021 nicht sehr ergiebig, was die Aufschlüsselung der nichtärztlichen akademischen Berufe im ÖGD angeht, dafür ist die KldB 2010 nicht sonderlich gut geeignet.
Sowohl für die Stärkung der Wissenschaftlichkeit im ÖGD als auch die Weiterentwicklung der Multiprofessionalität und Interdisziplinarität im ÖGD ist das Signal, das die DGÖGB mit ihrer standespolitischen Ausrichtung aussendet, fatal. Anders als die Bundes- und Landesbehörden des ÖGD sind die örtlichen Gesundheitsämter ohnehin nicht üppig mit wissenschaftlichen Ressourcen ausgestattet, eine Aufsplitterung in zwei Fachgesellschaften ist denkbar dysfunktional.
Beide Gesellschaften wollen in der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AMWF) mitarbeiten, der Organisation, die in Deutschland u.a. die Qualität der Leitlinienerstellung in der Medizin sichern soll. Sofern man bei den Protagonisten der DGÖGB Angst gehabt haben sollte, dass nichtärztliche Wissenschaftler:innen dort zu viel Einfluss auf die Entwicklung von Leitlinien für ärztliche Tätigkeiten nehmen könnten, so hätte man das über Leitlinien-Ausschüsse der Fachgesellschaft regeln können.
Manchmal kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als ob der ÖGD ein besonderes Talent hat, sich selbst im Wege zu stehen.
]]>Das war der Mainstream des Denkens der Postmoderne und ihrer philosophischen Vorläufer von Nietzsche bis Feyerabend. Ihnen ging es darum, scheinbar objektive Beschreibungen zu „dekonstruieren“, die dahinterliegenden Prägungen und Machtmechanismen aufzudecken. Das hat unser Verständnis von Wahrheit und Wissen vertieft, aber zugleich oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, in die Sackgasse relativistischer Positionen geführt, die ihren eigenen Geltungsanspruch untergraben.
Manche postmoderne Autor:innen, wie Bruno Latour, haben sich später wieder eines Besseren besonnen, aber die Erbschaft des postmodernen Denkens findet sich bis heute nicht nur in rechten, sondern auch in linken, gerechtigkeitsorientierten, Konzepten wieder: in Teilen der Gender Studies, postkolonialen Theorien oder in der Critical Race Theory. Dort werden Geltungsansprüche von Aussagen mitunter aus konkreten Diskriminierungserfahrungen oder der Zugehörigkeit zu einer Opfergruppe abgeleitet und als privilegierte Erkenntnisposition gegen das Mitsprechen und Mitdenken anderer Menschen in Stellung gebracht.
Die Philosophin Susan Neiman nennt das „Stammesdenken“. Sie verwehrt sich dagegen, dass solches Stammesdenken das moderne linke Denken sei: Links ist nicht woke, Hanser Verlag, Berlin, 175 Seiten, 22 Euro. Dazu wieder zum „Anteasern“ eine 7-Zeilen-Rezension.
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Zum Weiterlesen:
• Amartya Sen: Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt. München 2007.
• Paul Boghossian: Angst vor der Wahrheit. Frankfurt 2013.
• Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Berlin 2022.
• Bruno Latour: Elend der Kritik. Zürich/Berlin 2007.
• Thomas Nagel: Der Blick von nirgendwo. Frankfurt 1992.
Und Aiwanger selbst, der größte Bierzeltredner aller Zeiten nach Franz Josef Strauß, findet keine angemessene Sprache zu alldem, bemüht Erinnerungslücken, schweigt in einer Sondersitzung des Landtags, entschuldigt sich formal, ohne sagen zu können, für was, und stilisiert sich zum Opfer einer „Schmutzkampagne“. Trumpismus light, in Niederbayernformat.
So weit, so bekannt und oft genug durchdekliniert. Die beiden offenen Punkte, Aiwangers Vergangenheit, für die er ja durchaus Nachsicht nach vielen Jahren der Unauffälligkeit in Sachen Antisemitismus in Anspruch nehmen könnte, und seine Sprachlosigkeit zur Sache, die keine Nachsicht verdient, werden wohl noch eine Weile offene Wunden für die Freien Wähler und die CSU darstellen. Was daraus bei der Landtagswahl am 8. Oktober wird, und was das wiederum für einen Kanzlerkandidaten Söder bedeutet, wird man sehen.
Einen Aspekt, der auf die Tiefendimension dieser Geschichte abzielt, will ich hier allerdings doch noch zur Diskussion stellen. Es imponiert, wie sehr sich Aiwangers Anhänger mit ihm solidarisieren und ihm im identitätspolitischen Reframing des Konflikts folgen, der Inszenierung einer Auseinandersetzung der „normalen“ Menschen mit den linksgrünen Eliten und Medien, vom Bierzeltredner-Lehrling Merz so formuliert: „Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.“
Identitätspolitische Debatten sind oft, vielleicht immer, personalisierend verkürzte Debatten um tiefere gesellschaftliche Probleme, ähnlich wie Verschwörungstheorien. Ist auch die Aiwanger-Geschichte so zu lesen? Wie eine psychoanalytische Problemverschiebung? Erhitzen sich die Gemüter hier derart, weil die Gesellschaft auf die wirklich drängenden Fragen – Frieden in der Welt, Klimawandel, bezahlbares Wohnen, Pflege usw. – (noch) keine tragfähigen Antworten findet und die nicht mögliche Verständigung dazu auf identitätspolitische Konflikte verschoben wird? Dort gibt es greifbare Feindbilder, man kann Schuld zuweisen, die eigene Starrheit durch Opfer- oder Anklägerrollen legitimieren, die Notwendigkeit einer gemeinsamen Suche nach Lösungen durch Abgrenzungen und Spaltungen verdrängen.
Anders formuliert: Ist die Aiwanger-Geschichte Symptom einer politischen Reformblockade? Erregen wir uns lieber über Aiwanger – und er gibt dazu natürlich auch reichlich Anlass, weil uns die notwendigen Veränderungen in der Gesellschaft überfordern, uns in unserer Weiter-so-Identität herausfordern?
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Zum Weiterlesen:
• Blogbeitrag „Radikaler Universalismus“ – eine Rezension in sieben Zeilen.
• Amartya Sen: Die Identitätsfalle. München 2007.
• Susan Neiman: Links ist nicht woke. Berlin 2023.
Am Montag war „Gillamoos-Montag“. Da sind Politiker aller Couleur nach Abensberg zum Gillamoos gepilgert. Auch Friedrich Merz. Dafür hat er sich extra in Schale geworfen und ist verkleidet im Bayern-Jankerl aufgetreten. Signal: Ich bin einer von euch, nur mit Privatflugzeug. „I am your voice“ in Kleinformat. Wie weit Merzens Mimikry geht, ob er z.B. beim Besuch eines Klosters als Mönch geht, weiß man nicht.
Er wiederum wusste offensichtlich nicht, wo er war und trat mal wieder in ein Merz-Näpfchen. Merz im Anbiederungsmodus: “Nicht Kreuzberg ist Deutschland, Gillamoos ist Deutschland.”
Da regen sich die multikultidegenerierten Berliner natürlich wieder auf. Dabei gilt, siehe oben, im Bierzelt erstens eine eigene Wirklichkeit, zweitens hat Merz, wie es laut ZDF aus CDU-Kreisen heißt, doch nur eine soziologisch-statistische Feststellung getroffen: „Die Aussage vom Gillamoos beziehe sich darauf, dass ausweislich der offiziellen Bevölkerungsstatistik etwa sieben von zehn Bürgern in Deutschland in Dörfern und Städten unter 100.000 Einwohnern lebten.“ Das stimmt, auch wenn man nicht ganz versteht, was das mit dem Gillamoos zu tun hat.
Der Gillamoos ist nämlich gar keine Gemeinde, sondern ein Jahrmarkt in Abensberg. Abensberg ist ein Städtchen in Niederbayern, Aiwanger-Land. Aber man soll nicht zu pingelig sein. Am Ende hat man sonst noch ein Problem mit alten Nazi-Flugblättern, über die sich eigentlich ja auch kein normaler Mensch aufzuregen braucht. Und wenn Trump Belgien für eine schöne Stadt hält, dann darf Merz auch den Gillamoos für einen schönen Ort halten. Ist er ja auch irgendwie, halt anders.
An Besucher:innen mangelt es nicht, von 300.000 spricht die Stadt Abensberg. Da kommt das mit den sieben von zehn Bürger:innen nicht mehr ganz hin. Auch egal. Merz wollte ja nur gegen die Großstädter polemisieren. Und in Deutschland leben nun mal 100 % der Menschen in Gemeinden unter 5 Millionen Einwohner:innen, der Größenklasse, in die auch Abensberg mit seinen ca. 14.000 Einwohner:innen fällt, die Frauen mitgezählt. Damit wäre auch dieses Problem bravourös gelöst.
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