So sieht er aus: der Berliner Schlüssel. Er wird auch heute noch eingesetzt, aber seine Funktion dürfte den meisten ein Rätsel sein. Fotografiert habe ich ihn vor einigen Jahren mit meinem Handy im schummrigen Licht einer Berliner Kneipe. (Foto: Mäder)

Messies aufgepasst: Hier wird erklärt, warum ihr möglichst alles aufbewahren solltet. Hobby-Archäologen und Grabräuber der Zukunft werden es Euch danken.

 

Vor einem Jahr bin ich mit einer Journalistengruppe durch Israel gereist. Einer der Höhepunkte war die Manot-Höhle, die man bei Bauarbeiten in der Nähe der libanesischen Grenze entdeckt hatte. In dieser Höhle haben Neandertaler gelebt, bis vor 55.000 Jahren Menschen der Art Homo sapiens zu ihnen stießen. Die Höhle ist voll eingerichtet, sozusagen möbliert der Nachwelt überlassen worden. Mein Kollege Hanno Charisius hat unter dem Titel „Drei Zimmer, Küche, Grab“ über unseren Besuch berichtet. Man kann nicht anders, als sich das Leben anno dazumal auszumalen. „Stellen Sie sich vor, wie das gewesen sein muss“, sagte der Archäologe Israel Hershkovitz: Man wandert aus Afrika aus und trifft auf Menschen, von denen man nichts ahnte. Und weil Klima und Vegetation damals ähnlich waren wie heute, blickt man über die bewaldeten Hügel und stellt sich vor, dort drüben in der menschenleeren Wildnis die Rauchsäule eines Lagerfeuers zu entdecken.

Vor rund 15.000 Jahren wurde der Höhleneingang bei einem Erdbeben verschüttet und die vorzeitliche Wohnung wurde zu einer Zeitkapsel. Die Forschung wird noch einige Jahre in Anspruch nehmen, bevor alles der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann. Für uns haben Hershkovitz und sein Kollege Omry Barzilai aber eine Ausnahme gemacht und uns eine glitschige provisorische Treppe hinab geführt bis zum Grund der Höhle. In der Archäologie wird so akribisch gearbeitet wie in anderen Disziplinen: Aus den Pollen und Samen lässt sich ableiten, was in der Umgebung wuchs und was die Frühmenschen davon in die Höhle brachten. Und wenn die Tierknochen Spuren von Messern aufweisen, kann man schließen, dass die Tiere gegessen wurden. Werkzeuge und Feuerstellen deuten wiederum die Bereiche an, in denen gearbeitet wurde.

Was werden unsere Nachfahren von uns denken?

Aber es ist ein Puzzlespiel mit vielen fehlenden Teilen. Man kennt weder die Menschen noch ihre Kultur – und man muss sich daher vorsehen, zu schnell zu urteilen. Im unteren Teil der Höhle scheint sich Müll gesammelt zu haben; dort liegen auch die Toten. Liegen sie im Müll oder in abgetrennten Grabkammern? Und dann die Werkzeuge: Hat man sie benutzt, oder wollten die Männer damit nur die Frauen beeindrucken? „Unterm Strich müssen wir festhalten: Wir wissen es nicht“, sagte Hershkovitz. Und er erwähnte ein Buch, in dem sich der Autor überlegt, wie es wohl wäre, wenn in der Zukunft Archäologen ein US-amerikanisches Motel ausgraben.

Dieses Buch habe ich mir besorgt, und es ist eine amüsante Lektüre. Es heißt „Motel of the Mysteries“ und wurde 1979 von David Macaulay veröffentlicht (die Washington Post hat es vor einigen Tagen als Kinderbuch beschrieben). Es spielt 2000 Jahre in der Zukunft und erzählt, wie der unbedarfte und auf öffentliche Anerkennung ausgerichtete Hobby-Archäologe Howard Carson bei einer Expedition in den seit langer Zeit verwüsteten und unbelebten nordamerikanischen Kontinent auf ein Motel stößt. Für ihn ist klar: Hier handelt es sich um eine Grabstätte, die mit dem heiligen Siegel „Do not disturb“ verschlossen wurde. In der ersten Grabkammer findet er ein Skelett auf einer zeremoniellen Plattform (dem Bett) mit Blick auf den Altar. Der Altar ist eine Holzkommode mit einem großen Röhrenfernseher der 1980er-Jahre. Er diene der Kommunikation mit den Gottheiten „Movie A“ und „Movie B“, hält Carson fest. Naja, diese Interpretation darf man vielleicht noch gelten lassen, denkt man beim Lesen. Aber dann dreht Carson ab: Leere Flaschen auf der Kommode identifiziert er als Opfergefäße, und zum Schluss legt er sich die Klobrille um den Hals und kniet vor der vermeintlich heiligen Urne, die er in einer innen gelegenen Kammer entdeckt hat: der Toilette.

Wozu ist der Berliner Schlüssel gut?

Gehen wir nicht auch so unbedarft vor, wenn wir beispielsweise die Venusfigur aus Elfenbein betrachten, die Tübinger Archäologen auf der Schwäbischen Alb gefunden haben? Man ist schnell bei rituellen Handlungen, wenn die Dinge nicht fürs Überleben notwendig zu sein scheinen. Wer braucht schon den Torso einer Frau mit üppiger Figur, wenn nicht, um sie als Fruchtbarkeitsgöttin anzubeten – so der Gedankengang (die Pressemitteilung der Universität Tübingen war allerdings viel vorsichtiger). In einem Roman mit dem Titel „Die Venus aus dem Eis“ erzählen der Archäologe Nicholas Conard und der Literaturwissenschaftler Jürgen Wertheimer eine mögliche Geschichte, wie es zu der Venusfigur kam. Eine von vielen möglichen. Gerade die Genauigkeit der Erzählung zeigt, wie ich finde, dass es auch ganz anders hätte sein können. Denn man erkennt, von wie vielen Entscheidungen und Zufällen das Artefakt abhängt.

Mein Lieblingsbeispiel für historische Rekonstruktionen ist aber der Berliner Schlüssel, den der Techniksoziologe Bruno Latour sogar zur Titelgeschichte eines seiner Bücher gemacht hat. Der Schlüssel ist in manchen Berliner Mietshäusern noch im Gebrauch, war aber vor hundert Jahren bekannter als heute. Was werden Archäologen denken, wenn sie diesen Schlüssel mit zwei Bärten einmal ausgraben? Werden sie ihn als rituelles Artefakt klassifizieren, weil sie sich keinen sinnvollen Einsatz vorstellen können? Das wäre weit gefehlt, denn der Zweck ist, dass man diesen Schlüssel durchstecken muss und ihn auf der anderen Seite der Tür erst wiederbekommt, wenn man abgeschlossen hat. Er ist also ein Instrument, um Mietern eine erwünschte Verhaltensweise nahezubringen. Doch die Kultur hat sich vom Gängeln zum Bitten und Mahnen gewandelt. Der Berliner Schlüssel wurde in vielen Fällen durch Schilder ersetzt, in denen mehr oder weniger freundlich daran erinnert wird, die Haustür doch bitte geschlossen zu halten.

Kommentare (1)

  1. #1 Alex
    17. August 2016

    Die Vorstellung ist schon sehr interessant.

    Wir wissen nicht genau was vor 5000 Jahren gemacht wurde.
    Davor gab es keine uns bekannten Schriften.

    Aber in 5000 Jahren wird man alles über uns wissen, unsere Schriften meist in digitaler Form, wird es immer geben, oder sehe ich das falsch ?