In der Nähe von Stuttgart wurden in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts viele Knochen aus der Triaszeit, der ersten Periode des Erdmittelalters gefunden. Darunter auch ein seltsamer Zahn von immerhin 10 Zentimetern Länge, ein paar Schädelfragmente und weitere Knochen. Georg Friedrich Jäger gab dem zugehörigen Tier den Namen Mastodonsaurus (zum Namen gleich noch mehr.) und ordnete ihn den Sauriern zu. (Unter “Saurier” verstand man damals so ziemlich alles, was urtümlich war und irgendwie reptilienartig aussah.) Kurze Zeit später wurden weitere Knochen gefunden und man erkannte, dass es sich um ein großes urzeitliches Amphibium handelte.


Um 1840 fand man in England ähnliche Schädelknochen zusammen mit einem Hüftknochen und einem Wirbel. Und damit begann die Geschichte des Mastodonsaurus kompliziert zu werden.

Der Paläontologe Richard Owen (bekannt als Erfinder des Wortes “Dinosaurier”) nahm an, dass Schädel, Knochen und Wirbel zusammengehörten. Allerdings war der Hüftknochen im Vergleich zum Schädel sehr groß – der Schädel entsprach in seiner Länge etwa dem eines Krokodils von zwei Metern Länge, die Hüftknochen allerdings hätten zu einem Krokodil mit etwa sieben bis acht Metern Länge gepasst. Owen erklärte dies dadurch, dass das Tier eine Art gigantischer Frosch gewesen sei, der also entsprechend große und muskulöse Hinterbeine gehabt hatte. Ein Bild dieses “Monsterfrosches” dürfte jeder schon mal gesehen haben, der sich für Dinosaurier interessiert, denn das folgende Bild fehlt in nahezu keinem Dinobuch:

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Von Philip Henry Delamotte – https://www.theguardian.com/books/gallery/2017/jul/19/paleoart-the-strange-history-of-dinosaurs-in-art-in-pictures#img-4, Gemeinfrei, Link

Vorne links im Bild sieht man den Monsterfrosch mit seinen großen Beinen.
Ein schönes Foto des aufgestellten Modells habe ich im Blog von “Jurassic Albatros” gefunden:

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Man erkennt die froschartigen Hinterbeine sehr schön.

Um die Sache noch komplizierter zu machen, änderte Owen nebenbei noch den Namen von Mastodonsaurus. Jäger hatte diesen Namen gewählt, weil er übersetzt “Zitzenzahnsaurier” bedeutet – ein passender Name für den zu benennenden Zahn, der eine seltsam geformte Spitze hatte:

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(Bild aus Moser, Schoch 2007, Referenz s.u.)
Zwei solche großen Zähne saßen im Unterkiefer – der Oberkiefer hatte entsprechende Öffnungen, durch die die Zähne hindurchpassten.

Owen fand den Namen Mastodonsaurus jedenfalls doof – er erinnerte zu sehr an den Riesenelefanten Mastodon. (Obwohl das angesichts der Größe des “Monsterfrosches” ja auch nicht unpassend war.) Deshalb schlug er einen neuen Namen vor “Labyrinthodon”: Labyrinthzahn. (Damals war man mit dem Umbennenen von unpassenden Namen für Urzeitviecher wesentlich freizügiger als heute, wo man sich an die strengen Nomenklaturregeln des ICZN hält. So wurde der Urwal Basilosaurus zuerst für ein Reptil gehalten – deswegen auch der Name “Königsechse” – und dann erstmal in “Zeuglodon” umbenannt, als man erkannte, dass es kein Reptil war; heute heißt er aber wieder Basilosaurus. )

Der Name Labyrinthzähner war allerdings auch ganz gut gewählt – man hatte nämlich ein paar Jahre vorher gemerkt, dass die Zähne des Mastodonsaurus (und seiner Verwandten) im Querschnitt ein sehr kompliziertes Muster aus Zahnschmelz und Zahnbein hatten:

Labyrinthodon Mivart.png
Gemeinfrei, Link

Über den Sinn dieser Anordnung kann ich nur spekulieren – Literatur habe ich dazu nicht gefunden (falls jemand ein Paper weiß, wäre ich sehr interessiert). Ich vermute aber, dass diese Anordnung mechanisch günstig ist, um die Biegefestigkeit und -steifigkeit zu erhöhen, ähnlich wie in einem Verbundwerkstoff. Der hochfeste, aber spröde Zahnschmelz sorgt für die Steifigkeit, das weniger feste, aber nachgiebigere Zahnbein (Dentin) sorgt für die Verformbarkeit und stoppt Risse. (So ist es auch in unseren Zähnen – der Zahnschmelz außen ist oft mikrorissig, aber die Risse werden an der Grenzfläche zum Zahnbein gestoppt; da gibt es eine spezielle Mikrostruktur, aber wenn ich das jetzt noch diskutiere, dann komme ich nie zum Krokomander, irgendwie erzähle ich lauter Nebengeschichten…)

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannte man schließlich, dass Owen einem Irrtum aufgesessen war und dass die Knochen zu einem anderen Tier gehören mussten. (Es dauerte allerdings noch bis 1997, bis diese Knochen systematisch untersucht werden, s. das Paper von Benton und Gower.) Thomas Henry Huxley, der als “Darwins Bulldogge” Owen nicht besonders mochte (weil Owen die Darwinsche Evolutionstheorie ablehnte), sagte “Ich würde Geologen… davor warnen anzunehmen, dass es irgendeine Evidenz dafür gibt, dass Labyrinthodontier froschartige Tiere waren”. (Übersetzt aus dem Paper Benton/Gower.)

Froschähnlich sollten die Labyrinthodontier wie Mastodonsaurus also nicht sein. Interessanterweise aber scheint sich das “Froschkonzept” in den Köpfen festgesetzt zu haben. Bei Rekonstruktionen verzichtete man zwar auf die langen Froschbeine, der Rest des Körpers erinnerte aber sehr stark an einen Frosch. Ein paar tolle Bilder, die das belegen, habe ich in einer Veröffentlichung des Naturhistorischen Museums Schleusingen gefunden:

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Das obere stammt aus dem Jahr 1926, das mittlere von 1932. Das untere der drei Bilder hat es mir besonders angetan: es stammt aus dem Buch “Leben in der Urzeit”, das von dem berühmten Künstler Zdenek Burian illustriert wurde. Dessen Ölgemälde sind aus heutiger Sicht zwar oft fehlerhaft, aber immer noch beeindruckend. Wieviele Stunden ich als Kind diese Bilder angesehen habe, weiß ich nicht mehr, aber den Mastodonsaurus mit seinem riesigen Kopf fand ich immer besonders faszinierend.

Allerdings kann man sich schon die Frage stellen, wie ein solches Tier eigentlich gelebt haben soll – die winzigen Stummelbeinchen dürften ja kaum zum Laufen gereicht haben und der Schwanz war sicher auch nicht besonders gut zum Schwimmen geeignet.

Neuere Untersuchungen zeichnen ein ganz anderes Bild des Mastodonsaurus. Hier eine Skelettrekonstruktion aus der Arbeit von Moser und Schoch (die sich vor allem mit der kniffligen Nomenklatur befasst):

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Auf den ersten Blick sieht der “neue” Mastodonsaurus aus wie ein Krokodil – deshalb wird er auch gelegentlich “Krokomander” genannt, eine Mischung aus Krokodil und Salamander. Bei genauerem Hinsehen erkennt man natürlich deutliche Unterschiede: Die meisten Zähne sind beispielsweise viel kleiner als bei einem Krokodil, der Schädel ist flacher und hat auch nicht die reptiltypischen Schädelöffnungen, die Beine sind kleiner und schwächer als bei einem Krokodil. Auch der “Krokomander”-Mastodonsaurus war an Land vermutlich kein guter Läufer, während Krokodile ja durchaus einen Menschen überholen können. Gefressen hat er vermutlich alles, was er erwischen konnte – neben Fischen sicher auch unvorsichtige Saurier oder andere Amphibienverwandte, von denen es in der Trias reichlich gab. Fressfeinde dürfte er nicht gehabt haben – ausgewachsene Mastodonsaurier waren über fünf Meter lang. Aus dem ursprünglichen Riesenfrosch und dem plumpen kurzbeinigen Monster ist also am Ende doch ein ziemlich “schnittiges” und dynamisch aussehendes Lebewesen geworden. Perk hat mich auf das schöne Rekonstruktionsbild (auch bei Wikipedia) aufmerksam gemacht (in dem der Mastodonsaurus allerdings mal wieder an Land hockt):

Mastodonsaurus
Von ДиБгд in der Wikipedia auf Russisch – Übertragen aus ru.wikipedia nach Commons., Gemeinfrei, Link

Den Mastodonsaurus finde ich – neben seiner wechselvollen Rekonstruktionsgeschichte – noch aus einem anderen Grund interessant: Oft spricht man ja beim Überblick über die Erdgeschichte vom “Zeitalter der Amphibien”, “Zeitalter der Reptilien”, “Zeitalter der Säugetiere” usw. Die Triaszeit, in der der Mastodonsaurus lebte, lag im Erdmittelalter, dem Zeitalter der Reptilien. Die ökologische Nische, die heute die Krokodile besetzen, hatten damals aber nicht nur Reptilien inne (obwohl es solche auch gab, beispielsweise die Phytosaurier), sondern auch Mastodonsaurus und seine Verwandten.


MARKUS MOSER and RAINER SCHOCH
REVISION OF THE TYPE MATERIAL AND
NOMENCLATURE OF MASTODONSAURUS
GIGANTEUS (JAEGER) (TEMNOSPONDYLI) FROM
THE MIDDLE TRIASSIC OF GERMANY
Palaeontology, Vol. 50, Part 5, 2007, pp. 1245-1266

Michael J. Benton, David J. Gower
Richard Owen’s Giant Triassic Frogs: Archosaurs from the Middle Triassic of England
Journal of Vertebrate Paleontology 17(l):74-88, March 1997

KLAUS-PETER KELBER, Würzburg
Lebensbilder der Unterkeuperzeit im Spiegel der paläontologischen Forschung
Veröffentlichungen Naturhist. Museum Schleusingen, 24 | 2009 | 41–66

Einen tollen Überblick über die Triaszeit mit ihrer wechselvollen Fauna gibt es in dem Buch “Dawn of the Dinosaurs” von Nicholas Fraser – jedem Paläontologie-Enthusiasten sehr zu empfehlen.

Kommentare (12)

  1. #1 perk
    12. Januar 2011

    schade dass du das moderne rekonstruktionsbild vom jurassic albatross nicht noch eingebunden hast.. ich find den kontrast recht drastisch und besser erkennbar als am skelett

  2. #2 MartinB
    12. Januar 2011

    Hast du total recht, hätte ich tun sollen und habe es jetzt getan, danke.

  3. #3 Thierbach
    12. Januar 2011

    Mir ist Owen zuerst in B.Brysons “Kurzer Geschichte” begegnet und hauptsächlich wegen seines…na ja, schwierigen Charakters in Erinnerung geblieben.

  4. #4 binE
    12. Januar 2011

    Oh, Zdenek Burian! Seinen T-rex (oder Allosaurus?) im Gewitter habe ich auch andächtig nachgemalt. Mit heutigem Wissen sähe er wohl eher aus wie ein Hühnchen nach dem Baden 😉

    (Falls der jetzt doppelt ist, weil du erst freischalten musst, dann loesch ihn bitte)

  5. #5 Heterodyne
    13. Januar 2011

    “Leben der Urzeit” und “Menschen der Urzeit”. Hach! Insgesamt habe ich wohl Wochen über diesen beiden Büchern verbracht – und schau sie immer noch gerne durch. Sehr atmosphärische, einprägsame Bilder. Ich glaube, die Texte habe ich nie gelesen 😉 bzw immer nur sporadisch, weil ich von den Bildern so gefesselt war.
    Ich finde es ja sehr spannend, wie sich unser Bild vergangener Zeiten (und deren Lebewesen) immer wieder durch neue Erkenntnisse wandelt. Die Federn sind ja so ein letzter Schrei, der ziemlich viele der “Echsen” in ziemlich anderem Licht erscheinen läßt (Deinonychus zB)
    Aber jetzt gerate ich ins schwafeln 😉 Danke für den Artikel!

  6. #6 YeRainbow
    13. Januar 2011

    toller Artikel!

  7. #7 MartinB
    13. Januar 2011

    @alle
    Danke. Schön dass auch die Paläoontologie-Artikel euch gefallen – sie werden laut unserer Seitenstatistik nämlich tendenziell wesentlich weniger gelesen als Physikartikel (hat mich auch überrascht), dabei machen sie besonderen Spaß beim Schreiben.

  8. #8 Heterodyne
    13. Januar 2011

    Wie bitte? Die werden weniger gelesen? Das überrascht mich. Da get’s schließlich um DINOS!

  9. #9 perk
    14. Januar 2011

    hmm unique readers oder seitenaufrufe?

  10. #10 MartinB
    14. Januar 2011

    @perk
    beides anscheinend.
    Der Monsterfrosch wurde in den letzten Tagen überraschend oft gelesen, aber z.B. der Artikel über Sarahsaurus oder Pakosuchus wurden zu ihrer Zeit weniger besucht (angeklickt sowieso, weil’s da ja keinen Kommentarzoff gibt). Es gibt also wohl einen guten teil Sb-leser, die Physik spannender finden als Dinos (Kopfschüttel).

  11. #11 perk
    14. Januar 2011

    ich find physik auch spannender als dinos aber bei den scienceblogs eher wegen der nachfolgenden kommentardiskussionen

  12. #12 Andreas P.
    14. Januar 2011

    sehr interessant, bitte mehr davon