Unterschiedliche Forscher kamen beim Aufstellen von Stammbäumen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen – ein Merkmal, das der eine für sehr wichtig hielt, fand eine andere vielleicht eher unwichtig und berücksichtigte es deshalb weniger als ihr persönliches Lieblingsmerkmal. Das Erstellen von Stammbäumen auf diese Art war also in gewisser Weise eine Kunst – es gab keine klaren Regeln dafür, und wenn zwei Forscher unterschiedliche Stammbäume aufstellten, war es eigentlich unmöglich zu entscheiden, wer von beiden recht hatte.

Und noch ein weiteres Problem machte den Forscherinnen Kopfzerbrechen: Wenn man eine Art irgendwo auf eine Linie des Stammbaums setzt (wie den Iguanodon im Bild oben), dann impliziert das ja, dass diese Art ein Vorfahr der nachfolgenden Arten ist. So ziemlich alle Tierarten, die man plausibel auf solche Verbindungslinien setzen konnte, hatten aber auch spezielle Merkmale, die weder die vermutlichen Vorfahren, noch ihre Nachkommen hatten, Merkmale, über die diese Art allein verfügte.

Iguanodon hatte beispielsweise nur zwei Fingerglieder am vierten Finger, während sowohl Camptosaurus als auch Ouranosaurus drei hatten. Wäre Iguanodon also ein direkter Nachfahre von Camptosaurus und ein Vorfahre von Ouranosaurus, dann wäre zunächst ein Fingerglied verloren gegangen und hätte sich dann wieder entwickelt. Das ist zwar möglich, macht es aber ein bisschen unwahrscheinlich, dass es tatsächlich diese Art war, die genau auf der Verbindungslinie im Stammbaum lag. Wahrscheinlicher ist, dass es eine noch unbekannte iguanodon-ähnliche Art gab, die noch drei Fingerglieder hatte und aus der sich dann sowohl Iguanodon als auch Ouranosaurus entwickelten. Auf einigen Stammbäumen sieht man deshalb die Arten nicht genau auf den Verbindungslinien sitzen, sondern an kurzen Seitenästen.

Die Evolution ernst nehmen
Die Kladistik versucht, diese Probleme zu lösen und das Erstellen von “Stammbäumen” (genauer gesagt, “Kladogrammen”) auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Nach meinem Verständnis beruht sie letztlich darauf, die Evolution in gewisser Weise ernster zu nehmen, als man es vorher tat. Dazu verwendet man folgende Grundprinzipien:

1. Plesiomorphien können nicht zur Gruppierung dienen
Eine “Plesiomorphie” ist ein Merkmal, das die Vorfahren der gerade untersuchten Tiergruppe auch schon besaßen. Untersuchen wir zum Beispiel die Säugetiere, dann ist das Vorhandensein von 5 Zehen ein plesiomorphes (manchmal sagt man auch “primitives” oder “basales”, wobei “primitiv aber, wie schon erwähnt, nicht so gern gesehen ist) Merkmal. Will man deshalb beispielsweise die Verwandtschaft zwischen einem urtümlichen Säugetier wie Morganucodon, einem Pferd, einer Katze und einem Menschen klären, so ist es nicht hilfreich, den Menschen, die Katze und Morganucodon in eine gemeinsame Gruppe zu stecken, weil sie das basale Merkmal “5 Zehen” teilen. Es ist klar, dass die Pferde irgendwo auf dem Entwicklungsweg vom Morganucodon ihre Zehen verloren haben, aber ob sie das taten, bevor oder nachdem sich die Entwicklungslinie der Menschen oder Katzen abspaltete, lässt sich nicht sagen – beides ist möglich. In der Mitte des 20. Jahrhunderts verwendeten die Paläontologen häufig Klassifikationen, in denen Tiere aufgrund geteilter basaler Merkmale zusammengefasst wurden, wie beispielsweise die oben erwähnten “Thecodonten”, die in keinem älteren Dinobuch fehlen, aber in neueren höchstens noch als historische Fußnote vorkommen.

(Aber Achtung: Wenn man Kladistik mit dem Computer betreibt, dann werden zur Analyse alle Merkmale verwendet, auch Plesiomorphien. Das sehen wir weiter unten genauer.)

2. Zwischenformen können nie sicher identifiziert werden
Schon Darwin schrieb viel über die Spärlichkeit der Fossilien. Nur ein wirklich winziger Bruchteil aller Tiere wird als Fossil erhalten und auch tatsächlich gefunden. Das macht es unwahrscheinlich, dass man jemals einen genauen Vorfahren einer späteren Tiergruppe finden wird; normalerweise hat jede fossile Art irgendwelche speziellen Merkmale, die weder ihre Vorfahren noch ihre Nachfahren haben (sogenannte “Autapomorphien”, wie die Zahl der Fingerglieder beim Iguanodon). Das war ja auch der Grund, warum einige der klassischen Stammbäume die “Zwischenformen” eben nicht direkt auf die Verbindungslinien setzten. Natürlich kann es tatsächlich mal vorkommen, dass eine Art keine Autapomorphien hat und deswegen wirklich als exakter Vorfahr einer anderen in Frage kommt – man kann das aber natürlich niemals wissen, weil man die Abwesenheit von Autapomorphien schlecht beweisen kann (vielleicht hatte die Art ja rosa Punkte entwickelt). Man sollte deshalb niemals annehmen, dass man tatsächlich einen genauen Vorfahren gefunden hat, weil das letztlich keine wissenschaftlich überprüfbare Aussage ist.

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Kommentare (34)

  1. #1 Radicchio
    18. Juni 2011

    das ist ein super interessanter artikel. danke!

    aber hier musste ich schmuzeln: »(Die Anführungsstriche verwende ich hier, weil diese Sprechweise zwar früher üblich war, heute aber wegen ihres implizit wertenden Klangs nicht mehr so gern gesehen ist.)« political correctness für dinosaurier_innen? was mich zu der frage führt, warum man heutzutage wertungen zu vehement auszusprechen vermeidet … BTT

  2. #2 MartinB
    18. Juni 2011

    @radicchio
    Ja, das erinnert ein bisschen an “political correctness” – hat aber auch einen wissenschaftlichen Hintergrund: Ein Schnabeltier ist zum Beispiel eben nicht primitiver als ein Mensch, auch wenn es einige basale Merkmale hat, die der Mensch nicht hat. Die Sprechweise mit “primitiv” kann gedanklich schnell in die Irre führen, deswegen sollte man sie vermeiden.

  3. #3 Rainer
    18. Juni 2011

    Gestattest du mir ein paar Anmerkungen?

    „Der zweite Unterschied ist die Zeitachse – Stammbäume haben eine, Kladogramme meist nicht. (Es gibt auch Ausnahmen, die sind aber eher selten, und auch in diesen geht die Zeitachse nicht in die zu Grunde liegende Analyse ein.)“

    Jain. Kladogramme, die mit molekulargenetischen Methoden erstellt werden, können oft mit einer molekularen Uhr kalibriert werden und haben dann meist auch eine Zeitachse. Scheidet bei Sauriern allerdings aus naheliegenden Gründen aus. 😉

    „Man berücksichtigte zusätzlich auch die Zeit, zu der die Tiere lebten – ein Tier mit sehr “primitiven” Merkmalen konnte natürlich kein Vorfahr eines Tieres mit “fortschrittlichen” Merkmalen sein.“

    Du meinst es sicher anders herum – „fortschrittlich“ kann kein Vorfahr von „primitiv“ sein! (Ausser wenn das „fortschrittliche“ Merkmal anschliessend rückgebildet wurde.) Das gilt aber in der Kladistik immer noch – eher noch mehr als früher! Ich würde sogar sagen, dass das Besondere der Kladistik darin liegt, dass man erstmals die zeitliche Abfolge des Erwerbs evolutiver Neuigkeiten konsequent berücksichtigt hat. Jede Plesiomorphie war früher mal eine Apomorphie und kann dort auch zur Gruppierung dienen, aber danach nicht mehr. Man bringt also die Merkmale in die wahrscheinliche Reihenfolge ihrer Entstehung und übersetzt das in ein Kladogramm.

    „heutzutage sieht man [die Thecodonten] eher als “wastebasket taxon” (Mülleimer-Gruppe) an, also als ein Sammelsurium von nur lose miteinander verwandten Arten“

    Das finde ich etwas irreführend. Natürlich sind (oder besser waren) die Thecodonten alle sehr nahe miteinander verwandt. Aber einige von ihnen waren eben noch näher mit ihren Nachfahren, den Dinosauriern, verwandt, als mit den übrigen Thecodonten. Und das erkennt man daran, dass sie bereits Merkmale hatten, die später auch die Dinos, aber eben nicht die anderen Thecodonten und deren Nachfahren besassen.
    Man könnte die Thecodonten immer noch als Verwandtschaftsgruppe auffassen. Dann müsste man aber alle Dinosaurier (incl. Vögel), Flugsaurier und Krokodile (und vermutlich weitere ausgestorbene Archosaurier) mit einbeziehen. Das macht nur wenig Sinn, denn diese Gruppe hat schon einen Namen: Archosaurier.

    „Als zweites brauchen wir eine “Outgroup” (sagt man das im Deutschen auch so oder kennt jemand die Übersetzung?)“

    Aussengruppe – so hab ich’s jedenfalls an der Uni gelernt. Sorry dass es so trivial ist. 😉

    „(Falls jemand fragt, was die geschweiften Klammern bedeuten – da bin ich leider überfragt. Falls jemand Bescheid weiß, bin ich wie immer für einen Kommentar dankbar.)“

    Das sollte aus der Originalarbeit hervorgehen. Intuitiv erschliesst sich mir das nicht.

    Bin gespannt auf den zweiten Teil.

    Rainer

  4. #4 MartinB
    18. Juni 2011

    @Rainer
    Danke für die Hinweise und das genaue Lesen.

    Den Hinweis zur Zeitachse und zur Außengruppe habe ich eingebaut.

    “Du meinst es sicher anders herum”
    Nein, da fehlte eine Zeitangabe, das primitive Tier sollte später leben und deswegen als Vorfahr nicht in Frage kommen, die ist jetzt aber drin.

    Das mit den Thecodonten wird dann hoffentlich im zweiten Teil klarer – ursprünglich sollte das alles in eins abgehadelt werden, aber das wurde zu lang.

  5. #5 SethSteiner
    19. Juni 2011

    Ein wirklicher sehr langer, sehr informativer Bericht der bestimmt einiges an Arbeit gekostet hat. Danke dafür, es hat sich gelohnt. Man liest sich gerne da durch 😀

  6. #6 MartinB
    19. Juni 2011

    @SethSteiner
    Danke.
    Die Hauptarbeit war es, den Artikel zu kürzen 🙂
    Eigentlich hätte ich noch viel mehr schreiben können – ein Teil davon wandert in Teil 2. Und eine Autapomorphie von Iguanodon auszuknobeln war auch nicht leicht…

  7. #7 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    Bei der Anwendung der Kladistik auf Sprache gibt es aber ein Problem:
    Ganze Teile können “künstlich” , wie zB im Mittelalter vom Lateinischen ins Deutsche, oder in Zeiten des Kolonialismus, von einer anderen Sprache transferiert werden. Gibt es dafür eine Methodik in der Kladistik?

  8. #8 MartinB
    20. Juni 2011

    @RalphUlrich
    Da bin ich total überfragt, bin leider kein Linguist (wieso haben wir eigentlich keinen Linguisten bei ScienceBlogs?).

  9. #9 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    @MartinB, die Frage war nicht konkret bezogen auf Linguistik. Das andere Beispiel sind ja Bakterien (EHEC!), die Gensequenzen austauschen können. Meine Frage ist:
    Gibt es für die Kladistik Methoden, die sie anwendbar für Fälle der Multi-Inheritence machen. ZBeisp könnte man auch eine kladistische Grafik der Software Betriebsysteme machen. Im Softwarebereich gibt es aber wie bei den Bakterien auch den Sonderfall, dass ganze Teile aus einem anderen Baumzweig hinüber in einen anderen Zweig kopiert werden (der ip Stack von Windows ist glaube ich aus der Unix Entwicklung).
    Um diese zusätzlichen Abstammungslinien darzustellen bräuchte die Kladistik zusätzliche Symbole!

  10. #10 MartinB
    20. Juni 2011

    @Ralph
    Stimmt, an horizontalen Gentransfer hatte ich nicht gedacht.
    Eine google-scholar-Suche nach “cladistic horizontal gene transfer” gibt immerhin 7000 Treffer, einige sehen ganz gut aus, z.B.

    Efficient algorithms for lateral gene transfer problems
    Hier gibt’s sogar ein pdf:
    https://citeseerx.ist.psu.edu/viewdoc/download?doi=10.1.1.101.9778&rep=rep1&type=pdf

  11. #11 Ralph Ulrich
    20. Juni 2011

    @MartinB, in deinem Pdf Link werden die kladistischen Zweige nicht als Linien, sondern als Röhren dargestellt, in denen

    andersfarbige Linien verlaufen, die austreten und in andere Zweige wechseln um horizontalen Gentransfer darzustellen.

    Ok, aber das ist eher eine Hilfstechnik als eine wirkliche Erweiterung der Technik, denn das wichtige Feature der Drehsymetrie der Bäume bleibt auf der Strecke.

  12. #12 Philipp G.
    20. Juni 2011

    Im Softwarebereich gibt es aber wie bei den Bakterien auch den Sonderfall, dass ganze Teile aus einem anderen Baumzweig hinüber in einen anderen Zweig kopiert werden

    Meines Wissens nach (auch wenn das aus einem mehrere Jahre zurückliegenden Praktikum stammt, und damit mit Vorsicht zu genießen ist), hilft da hauptsächlich eine genaue Analyse des genetischen Codes:

    – Ist das Verhältnis der Basenpaare zueinander ähnlich?
    DNA-Basenpaarungen sind immer AT und CG. Es unterscheidet sich aber zwischen verschiedenen Arten von Lebewesen. D.h. wenn man in der Sequenz von einem Bakterium ein Gen findet, in dem das Verhältniss anders ist als in der Gruppe, dann liegt der Verdacht auf horizontalen Gentransfer nahe.

    – Passt die Leserichtung zur Umgebung im Genom?

    Gene können in beiden Richtungen auf dem Genom liegen.

    – Ist die Codon-Verteilung ähnlich oder ganz anders wie im Rest der Gruppe?

    Der genetische Code ist degeneriert: Er besteht aus Code-Triplets von Basenpaaren, es gibt 4 Basenpaare, und es müssen insgesamt 20 Aminosäuren+Stop verschlüsselt werden. Daraus folgt, das es mehr DNA-Codons gibt als Aminosäuren, die meisten Aminosäuren haben mehrere Codons. Die meisten Lebewesen benutzen die selbe Codesonne, und können alle existierenden Codons ablesen, benutzen aber nicht den kompletten Satz, bzw. einige Codons seltener als andere. Das ist spezifisch für jede Bakterienart.

    – Ist der Code für einige Gene auch aus anderen Gruppen von Bakterien bekannt, und wenn ja, wie nahe verwandt ist er?

    Das ist ein bisschen stumpf. Wenn man z.B. weiß, das ein Gen “eigentlich” in einer Gruppe vorkommt, und nicht in der Untersuchten, dann weiß man, das ein horizontaler Gentransfer stattgefunden hat. Beispiel ist das Shigella-Toxin, das der gerade aktuelle EHEC-Stamm hat. Da weiß man, das es durch einen Phagen zwischen verschiedenen E.coli-Stämmen hin- und herwandert.

    So, das war nicht mehr als eine kurze Einführung. Es gibt da mit Sicherheit noch wesentlich mehr Dinge, auf die man achten kann, aber damit kenne ich mich nicht mehr wirklich aus.

  13. #13 Geoman
    20. Juni 2011

    Ich denke, man kann sagen, dass die Kladistik in der Frühphase der Entstehung des Lebens und später bei Hybridisierungen und Endosymbiosen versagt oder sich ganz weit von der Wirklichkeit entfernt. Die kladitische Revolution scheint mir schon aus diesen Gründen viel zu schematisch oder etwas einfältig zu sein.

  14. #14 Geoman
    20. Juni 2011

    Hier noch eine erhellende Abbildung zur frühen Entstehung des Lebens:

    https://www.astrobio.net/articles/images/genetransfer.gif

  15. #15 binE
    20. Juni 2011

    Die geschweifte Klammer koennte bedeuten, dass bei diesem Taxon beide Merkmalszustaende auftreten.

    Ansonsten Hut ab fuer den Artikel. Cladistik ist nix, was man sich so nebenbei mal anschaut und dann wiedergeben kann.

  16. #16 Philipp G.
    21. Juni 2011

    Ich denke, man kann sagen, dass die Kladistik in der Frühphase der Entstehung des Lebens und später bei Hybridisierungen und Endosymbiosen versagt oder sich ganz weit von der Wirklichkeit entfernt. Die kladitische Revolution scheint mir schon aus diesen Gründen viel zu schematisch oder etwas einfältig zu sein.

    Ne, einfältig ist das nicht. Das ist ein ziemlich ausgeklügeltes System, das die Evolutionsgeschichte auf jeden Fall besser wiederspiegelt als die klassischen Stammbäume.
    Der Beginn des Lebens ist mit einer biologischen Theorie sowieso nur schwer fassbar – da befindet man sich genau an der Schnittstelle zwischen Biologie und Chemie.
    Und trotzdem kommt man da mit Kladistik ganz gut weiter: Fortpflanzungsfähigkeit ist ein sehr schönes kladistisches Merkmal. Ebenso “hat eine Zellmembran” und “hat keine Zellmembran”.
    Und wieso sollte die Endosymbiontentheorie eine Schwierigkeit darstellen?
    “Hat Endosymbionten” ist eine erstklassige Autapomorphie für Eukaryoten.
    Ebenso wie “Hat nur Mitochondrien” eine prima Abgrenzung der Pflanzen (im weitesten Sinne) gegen alles andere als outgroup ist.

    Klar, man muss dann noch einen Pfeil von den Proteobakteria (bzw. den Cyanobakteria) zu den Eukaria malen.
    Aber man kann dank der Merkmale (und der Sequenzen) der Endosymbionten auch eine kladistische Analyse von ihnen machen. Und sie in die bekannten Kladogramme einordnen.

    Aber damit fällt das System nicht zusammen.

  17. #17 Belles Lettres
    21. Juni 2011

    Ich komme aus der Sprachgeschichte und Ursprachenrekonstruktion. Klassische Stammbäume und das Strahlenmodel (Ursprache mit Ausbreitung in alle Richtungen) waren bis weit ins 20. Jahrhundert aktuell, beim Indogermanischen vor allem das Kentum-Satem-Modell. Dabei geht es darum, wie die späteren Sprachen die Zahl der k-Laute von Urindogermanisch drei auf zwei reduziert haben. Hier war augenfällig, daß die Westhälfte des heutigen indogermanischen Sprachgebiets die Kentum-Reduktion aufwiesen und die Osthälfte die Satem-Reduktion.

    Daraus folgerte man, daß sich das Urindogermanische zunächst in zwei Gruppen gespalten hätte, bis man vor einem Jahrhundert das Tocharische auf chinesischem Staatsgebiet fand (die östlichste idg. Sprache), das sich allerdings als Kentum-Sprache erwies. Shit happens.

    Man dachte früher auch, daß zwei Sprachen, die dasselbe Merkmal aufwiesen, das andere Sprachen nicht haben, aus einer gemeinsamen Vorstufe hervorgegangen sind. Ein Beispiel ist die Hauchdissimilation im Griechischen und Indischen. Die Sprachen stehen sich räumlich recht nahe, aber lautgesetzlich kann man nachweisen, daß sich dieses absonderliche Merkmal in beiden Sprache unabhängig voneinander entwickelt hat. Beide Sprachen haben im Gegensatz zu anderen sowohl behauchte Konsonanten und die grammatikalische Redupikation erhalten, was universell zu Dissmilation führen muß: Wenn zwei behauchte Konsonanten aufeinandertreffen, wird der vordere enthaucht.

    Man ging früher davon aus, daß sich eine Sprache ohne Einflüsse aus ihrer Vorstufe entwickelt hat. Inzwischen weiß man, daß kaum eine Sprache ohne Sprachkontakt entstanden ist. Das Germanische ist da sogar ein extremes Beispiel. Unser ganzes Tempussystem und die Verbalbeugung als System ist alteuropäisch und nur die Formen indogermanisch.

    Was ein Gesamtkladogramm des Indogermanischen sowie die Rekonstruktion des Urindogermanischen und seine räumliche Lokalisierung betrifft: Kladogramme macht man meist nur für eine Forschungsfrage und nur partiell. Gesamtkladogramme sind oft noch altmodische Stammbäume zur Orientierung für Anfänger.

    Merkmalsaddition gilt in der Indogermanistik als grob unseriös. Solche Zahlenspiele werden immer nur von Fachfremden angestellt. Das liegt an vielen Umständen: Nur Lautgleichungen können zum Beispiel Sprachverwandtschaft und Abstammung nachweisen, nicht aber grammatikalisch oder semantisch gleiche Merkmale. Dennoch können grammatikalische Merkmale Hinweise geben. Aber wie soll man ihre Wichtigkeit numerativ bewerten?

    Zudem ist es schon sehr schwierig, die Bedeutung und Nähe von Einzelsprachen zur Ursprache sachlich zu beurteilen, wodurch sämtliche Versuche, das mit Zahlen zu operationalisieren, willkürlich sind.

    Wir haben auch das Problem, daß wir Urindogermanisch nicht wie einen Dinosaurier ausgraben, sondern nur rekonstruieren können. Diese Rekonstruktion wurde aus den drei Kardinalrekonstruktionssprache Altindisch, Griechisch und Lateinisch erstellt. Sie ist der Punkt, wo sich die Extrapolationslinien der Lautgleichungen in der Vergangenheit treffen, und zwar verdächtigerweise ziemlich scharf. So scharf sogar, daß das Urindogermanische widerspruchsfrei wie die Ursprache selbst aussieht, was aber nicht sein kann. Nicht in die Rekonstruktion einbezogene Sprachen wie Gotisch oder Hethitisch lassen sich dagegen nicht millimetergenau in das Modell einpassen.

  18. #18 MartinB
    21. Juni 2011

    @BellesLettres
    Danke für den ausführlichen Kommentar – Linguistik ist schon spannend, schade dass ich davon wenig verstehe.

    Tolle Internet-Seite übrigens. Super fand ich besonders das hier:
    https://www.belleslettres.eu/artikel/sinn-machen-make-sense-anglizismus.php

  19. #19 Bey
    21. Juni 2011

    @Martin
    Klasse! Danke.

    @BellesLettres
    Bin ich erleichtert!
    Endlich habe ich (Ihre) Worte, mit denen ich mein Unbehagen wegen des “Sinn-Machens” ausdrücken und begründen kann. Halleluja!

  20. #20 Rainer
    21. Juni 2011

    “Die geschweifte Klammer koennte bedeuten, dass bei diesem Taxon beide Merkmalszustaende auftreten.”

    Stimmt. Jetzt fällts mir wieder ein. Ich hatte das mit dem Fragezeichen verwechselt, das jedoch bedeutet, dass das Merkmal nicht vorkommt (oder aus dem Fossilmaterial nicht bekannt ist) und daher nicht beurteilt werden kann.

  21. #21 MartinB
    21. Juni 2011

    Danke!

  22. #22 Geoman
    22. Juni 2011

    MartinB schrieb:

    “Auch Schnabeltiere sind ein Beispiel – sie legen Eier wie urtümliche Säugetiere, obwohl die meisten heutigen Säugetiere das nicht tun. (Trotzdem ist es irreführend, Schnabeltiere als “lebende Fossilien” zu bezeichnen – sie haben sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt wie andere Arten auch.)”

    Von welchen “urtümlichen Säugetieren” weiß man denn, dass sie Eier legten, außer den wenigen heute bekannten und noch lebenden Kloakentiere? Und warum sind Kloakentiere “urtümliche Säugetiere”, wenn voll ausgebildete Merkmale von Säugetieren wie z. B. das wärmedämmende Fell oder komplexe Gehörknöchelchen aufweisen. Schnabeltiere sind keine urtümlichen Säugetiere im Sinne von Übergangsformen, sondern ganz sicher Mosaikformen oder “animals of all time” wie es ein Monotremata-Experte ausdrückte.

    Ich bezweifele auch, dass sie sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt haben, wie andere Arten auch. Hochspezialisierten Merkmale der Schnabeltiere (wie z. B. der elektrosensible Tastschnabel) waren laut Fossilfunden schon in der Kreidezeit vorhanden. Ihre Evolution ist also völlig anders verlaufen, als die der Beutel- und Plazentatiere, die sich zwar zu Beginn der Kreidezeit aufspalteten, deren Radiation und Spezialisierung aber erst im Tertiär erfolgte.

  23. #23 MartinB
    22. Juni 2011

    @geoman
    “Und warum sind Kloakentiere “urtümliche Säugetiere”, wenn voll ausgebildete Merkmale von Säugetieren wie z. B. das wärmedämmende Fell oder komplexe Gehörknöchelchen aufweisen.”
    Habe ich nie geschrieben – ich habe geschrieben, dass Schnabeltiere Eier legten wie ursprüngliche Säugetiere, nicht, dass sie urtümliche Säugetiere sind.
    Wann genau der Übergang zur Lebendgeburt kam, weiß ich nicht, ist wohl auch fossil schwer herauszufinden – spielt aber keine Rolle, denn dass die ersten Säugetiere bzw. ihre Vorfahren Eier legten, ist klar.

    “Ich bezweifele auch, dass sie sich seit der Kreidezeit genauso weiterentwickelt haben, wie andere Arten auch.”
    Genauso sollte ja auch nur heißen: Auch die sind nicht in der Kreidezeit stehengeblieben, wie man das manchmal liest – über die Rate der Evolution habe ich nichts sagen wollen.

  24. #24 Wohnungsheinz
    22. Juni 2011

    Ich liebe Dinosaurier – das ist so ein faszinierendes Thema… unglaublich, was damals so abging 😉

  25. #25 Geoman
    22. Juni 2011

    @ MartinB

    Ich möchte hier nochmal ganz explizit auf das Phänomen hinweisen, dass viele ‘Zwischenformen’, die uns von den Evolutionsbiologen oder Paläontologen als ursprüngliche oder Übergangsformen präsentiert werden, in Wahrheit besser als Mosaikformen beschrieben werden können, weil sie voll ausgebildete Merkmale verschiedener Taxa besitzen.

    Und dass es irreführend sein soll, Schnabeltiere als lebende Fossilien zu bezeichnen, weil sie irgendwie seit der Kreidezeit evolviert sind, gefällt mir auch nicht, wenn Du damit ausdrücken willst, dass es im Grunde genommen keine “lebenden Fosilien” gibt.
    Die gibt es aber sehr wohl, was heißen soll, dass man ohne diesen Begriff die Vielfalt des Lebendigen kaum angemessen beschreiben kann. Denn zwischen einem ostafrikanischen Buntbarsch der explosiv evolviert und einem Krokodil, das sich seit Urzeiten morphologisch kaum verändert hat, gibt es einen gravierenden – uns bezüglich des Evolutionsmechnismus – nicht bekannten Unterschied.

  26. #26 MartinB
    22. Juni 2011

    @geoman
    Ich zitere mal Wiki, besser könnte ich’s auch nicht:
    “Die Bezeichnung ist insofern irreführend, als sie die Vorstellung nahe legt, seit der Fossilisation ihrer Vorläufer vor Millionen Jahren habe keine evolutionäre Veränderung der Arten mehr stattgefunden, und die heute lebenden Vertreter würden exakt den fossil belegten Arten gleichen. Doch auch diese sind zwangsläufig evolutionären Veränderungen unterworfen. So waren zum Beispiel die fossilen Quastenflosser Bewohner der Flachmeere und Küsten; die heutigen Arten leben demgegenüber in der Tiefsee und haben sich diesem Lebensraum angepasst. Ebenfalls findet Evolution praktisch ständig auf zellulärer und molekularbiologischer Ebene statt, was aber an Fossilien nicht untersucht werden kann. Der Begriff bezieht sich deshalb ausschließlich auf den morphologischen Bauplan.”

  27. #27 Theres
    22. Juni 2011

    @Geoman
    Du schriebst

    Denn zwischen einem ostafrikanischen Buntbarsch der explosiv evolviert und einem Krokodil, das sich seit Urzeiten morphologisch kaum verändert hat, gibt es einen gravierenden – uns bezüglich des Evolutionsmechnismus – nicht bekannten Unterschied.

    Vielleicht der, dass es keinen Grund gibt, in der Umwelt des Tieres z.B., der Veränderungen notwendig macht. Damit wäre er bekannt. Das Krokodil hat sich äußerlich kaum verändert, weil es gut angepasst und als Art erfolgreich ist. Das genügt doch. Wie es genetisch aussieht, weißt du vermutlich so wenig wie ich. Gene werden auch so selten versteinert 😉
    Das Schnabeltier wurde in Nischen zurückgedrängt und selten. Die Vermehrungsrate eierlegender Säuger ist niedriger als die der Lebendgebärenden, soweit ich mich erinnere auch die der Beuteltiere, weshalb Konkurrenz durch eingeschleppte Säuger in Australien ein Problem ist.

  28. #28 Geoman
    24. Juni 2011

    Die Leugnung stark abweichender Evolutionsgeschwindigkeiten und der Existenz ›lebender Fossilien‹ ist meistens einem (dogmatisierten) darwinistischen Evolutionsbegriff oder -mechanismus geschuldet. Unter lebenden Fossilien versteht man üblicherweise rezente Arten, die während langer geologischer Zeitspannen wenig oder keine evolutiven Änderungen zeigen.

    Da dies meistens anhand des Vergleiches mit dem Fossilbefund nachgewiesen wird, steht natürlich die morphologische Stagnation im Vordergrund. Von Darwinisten wird deshalb eingewandt, dass der morphologische Befund nicht ausreiche, um die artliche Identität festzustellen. Dieses Kriterium ist aber praktisch bei keinem ›lebenden Fossil‹ erfüllbar. Der Paläontologe Erich Thenius bemerkt dazu in seinem Buch »Lebende Fossilien«:

    »Deshalb aber die Existenz ›lebender Fossilien‹ überhaupt zu leugnen, hieße das Kind mit dem Bade ausschütten. Eine derartige Ansicht wird hauptsächlich von jenen Evolutionsbiologen vertreten, die ein weitgehendes Stagnieren der Evolution bei manchen Gruppen nicht wahrhaben wollen (…).«

    Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht. Für die ist aber charakteristisch, dass sie von den Grundfunktionen oder -strukturen, also den Eigenschaften eines Organismus weitgehend abgekoppelt ist.

    Was die unterschiedlichen Lebensräumen des kreidezeitlichen und rezenten Quastenflossers angeht, so müssen dem keine evolutiven Veränderungen zu Grunde liegen. Es kann sich dabei auch um Lücken in der geologischen Überlieferung oder anthropogen verursachte Änderungen der Küstenökologie handeln (z. B. Überfischung) .

    Zudem habe ich aus meinem Botanik-Studium in Erinnerung, dass die Esche sowohl in Auen als auch an Trockenhängen, also ganz feuchten und ganz trockenen Standorten gedeiht, ohne das man genetische Unterschiede feststellen konnte. Manche Arten haben einfach eine große ökologische Bandbreite, die sich offenbar auch in der Bevorzugung von Extremstandorten zeigen kann.

  29. #29 MartinB
    24. Juni 2011

    @geoman
    Ich sehe das Problem nicht – wenn sich die Umwelt nicht ändert, gibt es keinen Selektionsdruck in richtung auf eine mophologische Änderung, deswegen können beispielsweise Krokodile ihren Bauplan über zig-Millionen Jahre stabil halten.
    Das ist mit der Evolutionstheorie nicht nur vereinbar, sondern von ihr vorhergesagt.

    “Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht.”
    Vom Wort Platitüde mal abgesehen habe ich damit kein Problem – das ist doch auch genau das, was in dem Wiki-Zitat steht.

  30. #30 Geoman
    24. Juni 2011

    Das ist ja gerade der darwinistische oder selektionistische (Größen-)Wahn, zu behaupten, dass Krokodile lebende ‘Fossilien’ seine, weil sich ihre Umwelt seit Jahrmillionen nicht geändert habe. Das glaubt doch heute kein ernsthafter Evolutionsbiologe mehr. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die darwinistische Evolutionstheorie seit 150 Jahren vorgibt, Dinge erklären zu können, die sie bei objektiver Betrachtung nicht erklären kann.

  31. #31 Theres
    24. Juni 2011

    @Geoman
    Du sagtest: “Man könnte der Plattitüde vom immerwährenden evolutiven Wandel einen guten Sinn abgewinnen, wenn man sie auf die (neutrale) molekulare Evolution bezieht. Für die ist aber charakteristisch, dass sie von den Grundfunktionen oder -strukturen, also den Eigenschaften eines Organismus weitgehend abgekoppelt ist.”
    Hm?
    Wie bitte entsteht ein Lebewesen ohne seine Gene, also der Phänotyp aus dem Genotyp ohne Moleküle und damit auch ohne molekulare Evolution, im weitesten Sinne? Da ist nichts abgekoppelt. Außerdem ist nicht jede molekulare Veränderung neutral, nur die meisten.

  32. #32 kleinmauswiesel
    8. Mai 2013

    hey, super artikel, toll erklärt!! hilft mir grade sehr beim lernen auf die diplomprüfung bio 🙂 obwohl die dinonamen vll etwas verwirrt haben beim lesen… auf alle fälle vielen lieben dank für den artikel!!

  33. #33 MartinB
    8. Mai 2013

    @kleinmauswiesel
    Freut mich, aber:
    Was kann denn an Dino-Namen verwirrend sein? Hätte ich alles mit diesen komischen haarigen Lebewesen mit 7 Halswirbeln erklären sollen? Die interessieren doch keinen 😉

  34. #34 super bright leds
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    1. Oktober 2013

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