Aber es kommt noch schlimmer.
5. Wann kollabiert die Wellenfunktion?
Betrachten wir noch einmal unser erstes Experiment mit dem Photon. Ich wandle das Experiment ein bisschen ab, indem ich den halbdurchlässigen Spiegel senkrecht stelle. Dann wird das Photon entweder durchgelassen oder zum Anfang zurückreflektiert:
Die dicke Linie zeigt das ankommende Photon, das dann nach A und/oder B läuft, wo es gemessen wird.
Bei der Messung kollabiert seine Wellenfunktion. Nehmen wir (ohne Beschränkung der Allgemeinheit, wie die MathematInnen sagen) an, wir messen das Photon bei A. Wir bauen unsere Apparate so, dass die Messung an beiden Orten genau gleichzeitig stattfindet (im Ruhesystem der Messapparate, die relativ zu einander stillstehen). Weil die Messungen gleichzeitig waren, können wir nicht sagen, ob es die Messung bei A oder die bei B ist, die die Wellenfunktion kollabieren lässt, beides passiert gleichzeitig.
Um das etwas besser darstellen zu können, zeichne ich hier ein Raum-Zeit-Diagramm des Versuchs. Die Zeitachse läuft nach oben. (Ja, ich war etwas schlampig, das Photon müsste genau unter 45° laufen, was es nicht ganz tut, weil ich gerade erst lerne, wie inkscape funktioniert…) Alles, was auf einer horizontalen Achse liegt, passiert in so einem Diagramm gleichzeitig. Das Photon trifft also auf den Spiegel und hat dann eine Wahrscheinlichkeit für beide Richtungen (wobei ich jetzt kurze Pfeile nehme, um zu zeigen, wo die Wellenfunktion des Photons nicht Null ist), bis es schließlich bei A gemessen wird und die Wellenfunktion kollabiert:
Wenn ich mich auf den Standpunkt stelle, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist, dann ist sie am Ort B kurz vor der Messung noch nicht kollabiert – das Photon hat noch eine Wahrscheinlichkeit, hier gemessen zu werden. Die Wellenfunktion ist hier also nicht Null – das wird sie erst, wenn ich bei A gemessen habe. Einen winzigen Moment vor dem Messereignis ist die Wellenfunktion also am Ort B noch nicht Null, deswegen sitzt dort noch ein kleiner Pfeil.
Leider gibt es mit dieser Ansicht ein kleines Problem: Wir leihen uns mal wieder eine Space-Jet bei Perry Rhodan und brettern mit hoher Geschwindigkeit von B nach A. Nach den Regeln der Relativitätstheorie sind jetzt die Messungen bei A und B für mich nicht mehr gleichzeitig, sondern die Messung bei A findet vor der Messung bei B statt. So sieht das im Raumzeit-Diagramm aus (die Regeln für das Hantieren mit solchen Diagrammen habe ich hier mal erklärt):
In Grün ist jetzt eingezeichnet, wie die Zeit- und Ortsachse für denjenigen aussehen, der im Raumschiff sitzt. Von den Apparaten A und B aus gesehen ist seine Zeitachse nach links gekippt, weil er sich ja nach links bewegt; die Regeln der Relativitätstheorie sagen, dass deshalb diejenigen Ereignisse, die für ihn gleichzeitig aussehen, auf einer passend nach rechts unten gekippten Achse liegen.
In diesem Bezugssystem findet die Messung A vor der Messung bei B statt – es ist eindeutig die Messung bei A, die die Wellenfunktion kollabieren lässt, die Messung bei B bestätigt nur das, was wir schon wissen. Einen winzigen Moment vor dem Messereignis bei B (rechts oben) ist deshalb im grünen Bezugssystem die Wellenfunktion schon kollabiert und hat den Wert Null. Für den Beobachter im grünen Bezugssystem müssten wir den letzten Photonenpfeil rechts oben also entfernen.
Umgekehrt lässt sich auch ein Bezugssystem finden (dazu muss ich nur in die andere Richtung fliegen), in dem die Messung bei B vor der Messung bei A stattfindet – in diesem Bezugssystem ist es also die Messung bei B, die den Kollaps verursacht, nicht die bei A, und ich müsste entsprechend den Photonenpfeil links oben weglassen (das zeichne ich jetzt aus Faulheit nicht).
Wichtig ist hier, dass sich kein messbarer Widerspruch ergibt – denn um das Ergebnis der Messung bei B zu erfahren, wenn ich mich bei A befinde, muss erst einmal ein Signal von B nach A geschickt werden, und das läuft mit Lichtgeschwindigkeit. Wenn das Signal aber bei mir ankommt, dann kann ich rekonstruieren, wann die Wellenfunktion bei B kollabiert sein muss, damit alles stimmt. Die Quantenmechanik und die Relativitätstheorie stehen also nicht in direktem Widerspruch zueinander und alle Beobachter sind sich vollkommen einig darüber, was sie gemessen haben (und alle werden für alle Messprozesse immer dieselben Vorhersagen machen).
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