Wenn ich allerdings annehme, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist, dann habe ich ein Problem: Welchen Wert hat sie denn nun direkt vor der Messung bei B? Ist sie schon zu Null kollabiert (wie das grüne Bezugssystem sagt) oder noch nicht (wie im schwarzen System)? Auf diese Frage gibt es keine eindeutige Antwort. Da ich die Wellenfunktion nicht direkt messen kann (ich kann natürlich direkt vor der Messung bei B eine andere Messung machen, aber dann ändere ich den Versuchsaufbau), ist das – wie gesagt – kein physikalischer Widerspruch, wohl aber ein konzeptioneller. Wenn der Wert der Wellenfunktion vom Beobachter abhängt, welches Recht habe ich dann zu behaupten, dass die Wellenfunktion ein reales physikalisches Objekt ist? Denn es ist doch gerade der Anspruch der “Realität”, dass sie eben nicht vom Beobachter abhängen soll, sondern beobachterunabhängig ist.
Tatsächlich gibt es Interpretationen der Quantenmechanik, die von einer physikalisch realistischen Wellenfunktion ausgehen. Das Problem kann umgangen werden, indem man davon ausgeht, dass es einen “bevorzugten Beobachter” gibt (vornehm ausgedrückt, eine “preferred foliation”). so dass immer eindeutig ist, wie die Wellenfunktion kollabiert. (Es wird also beispielsweise die grüne Linie als die Kollaps-Linie festgelegt.) Das ist prinzipiell nicht im Widerspruch zu unseren Beobachtungen, wohl aber zur Idee der speziellen Relativitätstheorie, nach der es ja keine ausgezeichneten Beobachter geben sollte. (Für den Fall der de-Broglie-Bohm-Theorie findet ihr das ausführlich bei Wikipedia diskutiert.) Und schlimmer: Es führt dazu, dass es Beobachter gibt, für die der Kollaps der Wellenfunktion sich rückwärts in der Zeit ausbreitet – die Wirkung liegt also vor der Ursache. (Wenn wir das grüne Bezugssystem als das bevorzugte nehmen, dann ist im schwarzen System die Wellenfunktion bei B schon kollabiert, obwohl das Photon noch keinen der beiden Detektoren erreichen konnte. ) Da wir den Kollaps nicht direkt beobachten können, ist auch das kein echt physikalisches Problem, wohl aber ein konzeptionelles: Sind wir wirklich bereit, eine solche “Rückwärts-Verursachung” zu akzeptieren?
Die meisten PhysikerInnen halten deshalb die Wellenfunktion nicht für ein reales physikalisches Objekt. (Um ehrlich zu sein, die meisten PhysikerInnen scheren sich keine Deut um diese Fragen und folgen dem Motto “shut up and calculate”.) Viele folgen der “Kopenhagener Deutung” der Quantenmechanik, bei der man sich auf den Standpunkt zurückzieht, dass letztlich nur Messprozesse eine “echte” Realität haben. Die Wellenfunktion ist hier ein Hilfswerkzeug, das uns erlaubt, Prozesse korrekt zu beschreiben, aber wie die Welt “wirklich” ist, darüber macht die Kopenhagener Deutung keine Aussage.
Fazit
Zu behaupten, in der QM wären Objekte auch dann “da”, wenn man nicht hinsieht, ist problematisch: jedes Teilchen des Mondes hat eine Wahrscheinlichkeit, ganz woanders zu sein und nicht am Mond, jedes Atom im Mond ist ohne Beobachtung in einem Überlagerungszustand, in dem es auch ein anderes Atom sein kann. Wenn wir den Mond als die Summe seiner Teilchen (bzw. deren Wellenfunktionen) ansehen, dann ist es nicht unproblematisch zu sagen, dass er da ist, wenn wir ihn nicht beobachten – jedenfalls, wenn wir die herkömmliche Definition von “da sein” betrachten. Immerhin könnte jedes seiner Teilchen gerade woanders sein oder gerade eine Umwandlung gemacht haben.
Und wenn wir die Wellenfunktion als reales physikalisches Objekt ansehen, dann bekommen wir Schwierigkeiten mit dem Konzept der Kausalität – Messungen können sich dann für einige Beobachter “rückwärts in der Zeit” auswirken (auch wenn wir das nicht nutzen können, um irgendwelche Zeitparadoxa heraufzubeschwören).
Ihr seht, dass es in der Quantenmechanik nicht so klar ist, was eigentlich an den Messungen, die wir machen, “real” ist. Man kann sich auf unterschiedliche Standpunkte stellen (das sind dann die Interpretationen der Quantenmechanik), aber eine, die keinerlei philosophische Probleme mit sich bringt, gibt es nicht:
- Halte ich die Wellenfunktion für ein reales Objekt, dann kann sich diese Wellenfunktion nichtlokal ändern, so dass man (entgegen dem Geist der speziellen Relativitätstheorie) einen bevorzugten Beobachter annehmen muss. Außerdem gibt es Beobachter, für die sich der Kollaps der Wellenfunktion “rückwärts in der Zeit” ausbreitet, .
- Umgekehrt kann ich auch sagen, dass die Wellenfunktion eben kein reales physikalisches Objekt ist (so wie es die Standard-Deutung tut) – dann aber habe ich eine Beschreibung der Welt, die mit einem Objekt hantiert, von dem ich behaupte, dass es in der realen Welt gar keine Entsprechung hat. In welchem Sinne ist ein Objekt “da”, wenn die einzige funktionierende Beschreibung des Objekts eine ist, die selbst nicht real ist?
Das ist der Grund für die oft zitierte Aussage, dass eine Interpretation der Quantenmechanik nicht-lokal oder nicht-realistisch sein muss (oder auch beides), und das ist etwas, das es in der klassischen Physik nicht gibt.
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