Anfang der 60er kam gerade die Theorie auf, dass Protonen und Neutronen aus kleineren Teilchen, den Quarks, zusammengesetzt sein könnten. Die Wechselwirkung zwischen diesen Quarks (und auch die zwischen den Teilchen, die aus Quarks bestehen Proton und Neutron) musste einerseits extrem stark sein, damit, die Protonen und Neutronen nicht zerfallen, andererseits musste sie aber auch eine kurze Reichweite haben. Haben die Austauschteilchen, die diese Kraft vermitteln, eine hohe Masse, dann ergibt sich auch eine kurze Reichweite. Und was Higgs sich ausgedacht hat, war ein Mechanismus, wie man solchen Wechselwirkungsteilchen prinzipiell eine Masse verleihen kann, ohne dass man sonstige Probleme mit der Theorie bekommt. Wenn er also ein Teilchen vorhergesagt hat, dann eins, das den Austauschteilchen für die starke Kernkraft (die man heute Gluonen nennt) eine Masse verleiht. (Dass Higgs sich eigentlich eher für de starke Wechselwirkung interessierte, erklärt übrigens auch Sean Caroll.)
So erzählt es übrigens auch Weinberg in seinem Nobelpreisvortrag:
it seemed obvious that the strong interactions are not mediated by massless particles
Es erschien offensichtlich, dass die starke Wechselwirkung nicht durch masselose Teilchen vermittelt wurde.
Und auch Weinberg bastelte zu dieser Zeit noch an einer Theorie der starken Wechselwirkung, in der er den Higgs-Mechanismus einsetzen wollte:
I spent the years 1965-67 happily developing the implications of spontaneous symmetry breaking for the strong interactions
Ich verbrachte die Jahre 1965-67 damit, fröhlich die Implikationen einer spontanen Symmetriebrechung für die starke Wechselwirkung auszuarbeiten.
Heute wissen wir, dass Gluonen masselos sind. Die starke Kernkraft hat trotzdem eine kurze Reichweite, das liegt aber daran, dass sich die Gluonen gegenseitig anziehen und so die Kernkraft abschirmen können. Ein Higgs-Teilchen, das den Gluonen Masse verleiht, gibt es also nicht.
Nachtrag: Anscheinend habe ich das paper von Higgs hier ein wenig falsch verstanden: Er beschreibt einen Mechanismus, mit dem Vektor-Teilchen (also solche Teilchen wie Gluonen) Masse bekommen können. Kommentator Reggid hat mich auf einen Text von Matt Strassler aufmerksam gemacht, der erklärt, dass es eigentlich darum ging, zu erklären, warum Hadronen, also Teilchen wie Protonen oder Pionen, eine Masse besitzen. Er verweist auch auf einen Vortrag von Higgs selbst, wo er die Geschichte erzählt. Danach ist die Sache noch etwas trickreicher: Die Idee bestand darin, einen Mechanismus der spontanen Symmetriebrechung zu finden, durch den die Hadronen ihre Massen bekommen. Das Dumme war nur, dass es einen Satz von Goldstone gab, der beweist, dass in so einem Fall immer ein masseloses Teilchen existieren muss. Da ein solches Teilchen aber nicht existierte, brauchte man einen Mechanismus, um es loszuwerden. Und das wiederum gelang mit dem Higgs-Mechanismus, bei dem das Goldstone-Teilchen verschwindet und seine Masse an ein vorher masseloses Vektor-Teilchen überträgt. So ganz klar ist mir aber nicht, wie das zum Satz von Weinberg passt – vermutlich standen beide Ideen im Raum. Falls ich das noch besser verstehe, schreibe ich natürlich was dazu.
Die Anwendung, die Higgs für seinen Mechanismus im Kopf hatte, erwies sich also als falsch. Der Mechanismus aber war zum Glück allgemein formuliert, und als Weinberg, Glashow und Salam die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung aufgestellt haben, konnten sie diesen Mechanismus entsprechend einsetzen, um den W- und Z-Teilchen ihre Masse zu geben. Weinberg erzählt dazu:
At some point in the fall of 1967, I think while driving to my office at M.I.T., it occurred to me that I had been applying the right ideas to the wrong problem.
Irgendwann im Herbst 1967, ich glaube während ich zu meinem Büro am MIT fuhr, kam mir die Idee dass ich die richtige Idee auf das falsche Problem angewandt hatte.
Weinberg erkannte, dass er den Higgs-Mechanismus verwenden konnte, um die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung zusammenzufassen. Und dadurch würde die schwache Wechselwirkung eine kurze Reichweite bekommen, die elektromagnetische aber nicht, weil das Photon keine Masse erhält. Er postulierte also die Existenz eines Higgs-Feldes und des zugehörigen Higgs-Teilchens.
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