Klingt, wie eine ziemlich blöde Frage, oder? Dafür hat er schließlich gerade den Nobelpreis bekommen (zusammen mit Englert) oder etwa nicht? Und weil das Teilchen so schwer zu finden war, hat es auch fast 50 Jahre gedauert, es aufzuspüren, richtig? So oder so ähnlich hört man es im Moment ja häufiger, beispielsweise hier beim Spiegel. Ist ja auch eine schöne Geschichte, aber dummerweise hat sie einen kleinen Nachteil: Sie ist falsch.
Einen Hinweis darauf, dass die Geschichte so nicht stimmt, liefert die Begründung des Nobelpreiskommitees. Sie sagt nämlich (holprig übersetzt):
“for the theoretical discovery of a mechanism that contributes to our understanding of the origin of mass of subatomic particles, and which recently was confirmed through the discovery of the predicted fundamental particle, by the ATLAS and CMS experiments at CERN’s Large Hadron Collider”
für die theoretische Entdeckung eines Mechanismus’, der zu unserem Verständnis der Masse subatomarer Teilchen beiträgt und der kürzlich durch die Entdeckung des vorhergesagten fundamentalen Teilchens durch die ATLAS und CMS-Experimente am LHC des CERN bestätigt wurde.
Das muss man sehr genau lesen, um den kleinen Haken zu entdecken: Da steht nicht, dass Higgs und Englert selbst das Teilchen vorhergesagt haben, sondern nur, dass sie einen Mechanismus entdeckt haben, der durch die Entdeckung des (von wem auch immer) vorhergesagten Higgs-Teilchens bestätigt wurde. (Deswegen kann man in diesem Fall auch niemandem einen Vorwurf machen, der das falsch versteht, auch wenn ich ja sonst gern WissenschaftsjournalistInnen kritisiere…)
Dass mit der gewöhnlichen Geschichte etwas nicht ganz stimmen kann, sieht man schon an der Jahreszahl der Veröffentlichungen: 1964 war man noch weit weg von der Entwicklung des Standardmodells; von W- und Z-Bosonen wusste man noch nichts; die entscheidenden Arbeiten von Glashow, Salam und Weinberg (dafür gab’s 1979 den Nobelpreis) stammen erst aus der zweiten Hälfte der 60er Jahre (dazu nachher noch mehr).
Im folgenden nehme ich an, dass ihr einen der Artikel übers Higgs gelesen habt und ungefähr wisst, wie es funktioniert und was es im Standardmodell so tut. (Ein paar Dinge wiederhole ich aber trotzdem nochmal.) Nachtrag: Die Geschichte ist komplizierter als ich ursprünglich dachte, siehe den Nachtrag unten.
Das Higgsfeld (und nicht etwa das Higgs-Teilchen) verleiht ja allen anderen Teilchen ihre Masse, so steht es überall und das ist auch richtig. (Naja, fast richtig, weil ein Großteil der beobachteten Masse in Wahrheit auf die Bindungsenergie in den Protonen und Neutronen zurückgeht, aber wenn man mit “Teilchen” wirklich nur die fundamentalen Teilchen meint, dann ist der Satz schon o.k.) Was nicht überall steht, ist, dass es dafür zwei unterschiedliche Mechanismen gibt: Die normalen Materie-Teilchen wie Elektronen und Quarks bekommen ihre Masse durch Wechselwirkung mit dem Higgs-Feld, das den ganzen Raum ausfüllt (und dieser Mechanismus ist es, der immer mit Analogien mit Leuten, die auf Parties gehen etc., erklärt wird). Ein solcher Mechanismus ist notwendig, weil die Materieteilchen im Standard-Modell masselos sein müssen, sonst funktioniert die Theorie nicht (das habe ich in anderswo ausführlich erklärt). Diesen Mechanismus nennt man gern Higgs-Mechanismus – aber er kommt im paper von Higgs gar nicht vor, dort gibt es nämlich nur zwei Teilchensorten: Das “Higgs”-Teilchen und ein Wechselwirkungsteilchen. (Ich habe mir eben noch einmal das – ja recht kurze – paper angeschaut um zu sehen, was genau drin steht (das paper von Englert scheint ähnlich zu sein). Ziemlich heftig und aus heutiger Sicht schwer verständlich, weil der Fachjargon in den 60ern doch ein anderer war, aber zumindest die Formeln sind eindeutig: Da gibt es keine Materieteilchen, die durch das Higgsfeld eine Masse bekommen würden..)
Das Higgs-Feld verleiht ja nicht nur den Materie-Teilchen Masse, sondern es sorgt auch dafür, dass die W- und Z-Bosonen (also die Teilchen, die für die Umwandlung von einer Teilchen-Sorte in eine andere (und damit z.B. für die Radioaktivität) verantwortlich sind), eine Masse haben. Auch das habe ich ausführlich anderswo erklärt. Dieser Mechanismus ist es, den Higgs in seinem paper beschreibt – allerdings nicht für die W- und Z-Bosonen, sondern allgemein. Er hat in der Arbeit also gezeigt, dass es prinzipiell möglich ist, dass ein Teilchen wie das Higgsteilchen die Eigenschaften eines zunächst masselosen Bosons so verändert, dass es eine Masse bekommt. Die Arbeit ist allgemein gehalten, aber es wird kurz ein spezifisches Beispiel angesprochen, das mit dem Kürzel SU(3) bezeichnet wird. Und das hat mit der schwachen Wechselwirkung, die von den W’s und Z’s vermittelt wurde, nichts zu tun, sondern mit der starken Wechselwirkung, also der Kraft, die Protonen und Neutronen zusammenhält.
Anfang der 60er kam gerade die Theorie auf, dass Protonen und Neutronen aus kleineren Teilchen, den Quarks, zusammengesetzt sein könnten. Die Wechselwirkung zwischen diesen Quarks (und auch die zwischen den Teilchen, die aus Quarks bestehen Proton und Neutron) musste einerseits extrem stark sein, damit, die Protonen und Neutronen nicht zerfallen, andererseits musste sie aber auch eine kurze Reichweite haben. Haben die Austauschteilchen, die diese Kraft vermitteln, eine hohe Masse, dann ergibt sich auch eine kurze Reichweite. Und was Higgs sich ausgedacht hat, war ein Mechanismus, wie man solchen Wechselwirkungsteilchen prinzipiell eine Masse verleihen kann, ohne dass man sonstige Probleme mit der Theorie bekommt. Wenn er also ein Teilchen vorhergesagt hat, dann eins, das den Austauschteilchen für die starke Kernkraft (die man heute Gluonen nennt) eine Masse verleiht. (Dass Higgs sich eigentlich eher für de starke Wechselwirkung interessierte, erklärt übrigens auch Sean Caroll.)
So erzählt es übrigens auch Weinberg in seinem Nobelpreisvortrag:
it seemed obvious that the strong interactions are not mediated by massless particles
Es erschien offensichtlich, dass die starke Wechselwirkung nicht durch masselose Teilchen vermittelt wurde.
Und auch Weinberg bastelte zu dieser Zeit noch an einer Theorie der starken Wechselwirkung, in der er den Higgs-Mechanismus einsetzen wollte:
I spent the years 1965-67 happily developing the implications of spontaneous symmetry breaking for the strong interactions
Ich verbrachte die Jahre 1965-67 damit, fröhlich die Implikationen einer spontanen Symmetriebrechung für die starke Wechselwirkung auszuarbeiten.
Heute wissen wir, dass Gluonen masselos sind. Die starke Kernkraft hat trotzdem eine kurze Reichweite, das liegt aber daran, dass sich die Gluonen gegenseitig anziehen und so die Kernkraft abschirmen können. Ein Higgs-Teilchen, das den Gluonen Masse verleiht, gibt es also nicht.
Nachtrag: Anscheinend habe ich das paper von Higgs hier ein wenig falsch verstanden: Er beschreibt einen Mechanismus, mit dem Vektor-Teilchen (also solche Teilchen wie Gluonen) Masse bekommen können. Kommentator Reggid hat mich auf einen Text von Matt Strassler aufmerksam gemacht, der erklärt, dass es eigentlich darum ging, zu erklären, warum Hadronen, also Teilchen wie Protonen oder Pionen, eine Masse besitzen. Er verweist auch auf einen Vortrag von Higgs selbst, wo er die Geschichte erzählt. Danach ist die Sache noch etwas trickreicher: Die Idee bestand darin, einen Mechanismus der spontanen Symmetriebrechung zu finden, durch den die Hadronen ihre Massen bekommen. Das Dumme war nur, dass es einen Satz von Goldstone gab, der beweist, dass in so einem Fall immer ein masseloses Teilchen existieren muss. Da ein solches Teilchen aber nicht existierte, brauchte man einen Mechanismus, um es loszuwerden. Und das wiederum gelang mit dem Higgs-Mechanismus, bei dem das Goldstone-Teilchen verschwindet und seine Masse an ein vorher masseloses Vektor-Teilchen überträgt. So ganz klar ist mir aber nicht, wie das zum Satz von Weinberg passt – vermutlich standen beide Ideen im Raum. Falls ich das noch besser verstehe, schreibe ich natürlich was dazu.
Die Anwendung, die Higgs für seinen Mechanismus im Kopf hatte, erwies sich also als falsch. Der Mechanismus aber war zum Glück allgemein formuliert, und als Weinberg, Glashow und Salam die Theorie der elektroschwachen Wechselwirkung aufgestellt haben, konnten sie diesen Mechanismus entsprechend einsetzen, um den W- und Z-Teilchen ihre Masse zu geben. Weinberg erzählt dazu:
At some point in the fall of 1967, I think while driving to my office at M.I.T., it occurred to me that I had been applying the right ideas to the wrong problem.
Irgendwann im Herbst 1967, ich glaube während ich zu meinem Büro am MIT fuhr, kam mir die Idee dass ich die richtige Idee auf das falsche Problem angewandt hatte.
Weinberg erkannte, dass er den Higgs-Mechanismus verwenden konnte, um die elektromagnetische und die schwache Wechselwirkung zusammenzufassen. Und dadurch würde die schwache Wechselwirkung eine kurze Reichweite bekommen, die elektromagnetische aber nicht, weil das Photon keine Masse erhält. Er postulierte also die Existenz eines Higgs-Feldes und des zugehörigen Higgs-Teilchens.
Wofür Higgs – sicherlich zu recht – den Nobelpreis bekommen hat, ist die Vorhersage des prinzipiellen Mechanismus, mit dem Austauschteilchen eine Masse bekommen können, aber das am CERN gefundene Teilchen hat er nicht vorhergesagt.
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