“A watched pot never boils”, sagt man im Englischen, um zu verdeutlichen, dass Dinge besonders lange zu dauern scheinen, wenn man darauf wartet. Dieses schöne Sprichwort (das keine gute deutsche Übersetzung hat, soweit ich weiß [Nachtrag: Rossi schlägt in den Kommentaren “Bewachte Milch kocht nie”vor]) hat tatsächlich eine Entsprechung in der Quantenemchanik, die unter dem Namen “Quanten-Zeno-Effekt” bekannt ist. Da das Thema neulich in einer Diskussion aufkam, nutze ich mal die Gelegenheit, kurz zu erklären, was es damit auf sich hat.

Um den Effekt zu verstehen, brauchen wir mal wieder einen Crash-Kurs in Quantenmechanik (klickt rechts bei den Artikelserien oder in die tag-Wolke, wenn ihr mehr wissen wollt). Und dazu beginnen wir wie üblich in der klassischen Physik, damit man die Ähnlichkeiten und Unterschiede besser sieht.

Fangen wir mit einer Welle in der klassischen Physik an – stellt euch vor, ihr werft einen Stein in einen See, dann bildet sich eine Welle, die sich von da, wo der Stein hineingeplumpst ist, nach außen ausbreitet. Natürlich könnt ihr diese Welle die ganze Zeit beobachten und sehen, wie sie sich entwickelt, die Welle wird sich stetig nach außen ausbreiten und dabei immer flacher werden. Wenn wir nur an einem Punkt gucken, dann sehen wir immer “weniger Welle” (vornehm gesagt, eine immer kleinere Amplitude), je weiter sich die Welle ausgebreitet hat (Der Tropfen, der in der Mitte wieder hochschießt, ist hier für die Diskussion irrelevant, achtet nur darauf, wie die welle nach außen flacher wird.):

Water drop impact on a water-surface - (2).jpg
By Davide Restivo from Aarau, Switzerland – Drops #3, CC BY-SA 2.0, Link

In der Quantenmechanik beschreiben wir Objekte wie Elektronen auch als eine Art Welle. Fangen wir mit einem Elektron an einem Punkt an – wir wissen, dass das Elektron genau an diesem Punkt ist, weil wir es vielleicht dort beobachtet haben. Wenn wir das Elektron jetzt in Ruhe lassen (also auch nicht beobachten), dann beschreiben wir das, was es tut, ebenfalls über eine Welle, die sich ausbreitet. (Man spricht beim Elektron von der “Wellenfunktion”.) Auch diese Welle nimmt nach außen hin immer weiter ab. Diese Welle(nfunktion) beschreibt das Elektron, wir können sie selbst aber nicht beobachten.

Wenn wir das Elektron beobachten (beispielsweise mit einem Leuchtschirm, der aufleuchtet, wenn er von einem Elektron getroffen wird, so wie der Schirm eines alten Röhrenfernsehers), dann beobachten wir keine Welle, sondern wir beobachten das Elektron an einem Punkt, an den anderen Punkten nicht. Die Wellenfunktion bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit wir das Elektron an einem Punkt beobachten – da wo sie einen großen Wert hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, da wo sie einen kleinen Wert hat, ist sie niedrig. Genauer gesagt muss man den Wert der Funktion mit sich selbst multiplizieren (also quadrieren), um die Wahrscheinlichkeit zu bekommen. (Ja, das ist ziemlich seltsam. Mehr über diese Seltsamkeiten findet ihr hier und hier.)

Nachdem ihr das Elektron auf eurem Schirm gesehen habt, wisst ihr, dass es jetzt hier ist. Damit beschreibt ihr es jetzt korrekt durch eine Wellenfunktion, die genau hier an diesem Ort ungleich Null ist, überall sonst gleich Null (denn überall sonst ist die Wahrscheinlichkeit, das Elektron zu finden, ja Null). Die Wellenfunktion ändert sich durch die Messung sprunghaft, man nennt das auch den “Kollaps der Wellenfunktion”. Wenn ihr das Elektron jetzt wieder in Ruhe lasst, dann ändert sich die Wellenfunktion wieder genau wie vorher, die Welle “zerläuft” ähnlich wie die Wasserwelle, als ihr den Stein ins Wasser geworfen habt.

Wenn ihr das Elektron aber nicht in Ruhe lasst, sondern gleich wieder eine Messung mit eurem Schirm macht, dann hatte das Elektron (bzw. seine Wellenfunktion) ja noch gar keine Zeit, sich auszubreiten. Die Wahrscheinlichkeit, das Elektron wieder hier zu finden, ist also sehr groß. (Expertinnenhinweis: Streng genommen müsste man hier ein bisschen aufpassen damit, wie genau man das Elektron lokalisieren will, wegen der Orts-Impuls-Unschärfe-Relation. Ändert am Prinzip aber nichts, deswegen diskutiere ich das nicht im Detail.) Je öfter ihr das Elektron beobachtet desto weniger Zeit hat seine Wellenfunktion, zum Ausbreiten, desto größer ist also die Wahrscheinlichkeit, das Elektron wieder hier zu beobachten. Durch hinreichend häufiges Messen könnt ihr das Elektron also quasi am Platz “festnageln”.

Das ganze ist in der Quantenmechanik ein generelles Prinzip: Eine Messung eines Quantensystems sorgt dafür, dass das System sich jetzt in dem gemessenen Zustand befindet (denn den haben wir ja gemessen). Wenn sich dieser Zustand- solange man das System im Ruhe lässt – mit der Zeit ändert, dann wird die Wahrscheinlichkeit, das System erneut im selben Zustand zu beobachten, mit der Zeit kleiner. Misst man es nach kurzer Zeit, ist die Wahrscheinlichkeit, dass das System noch im selben Zustand ist, fast gleich 1, misst man es direkt danach wieder, ist sie immer noch fast gleich 1 usw. Je öfter man misst, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich der Zustand nicht ändert.

Schaut man genauer hin, stellt man fest, das das Ganze nur deshalb funktioniert, weil die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich der Zustand ändert, mit der Zeit immer schneller wächst. Nehmen wir an, nach einer Sekunde wäre die Wahrscheinlichkeit, dass der Zustand nicht mehr der gemessene ist, 0,1%, dann sind es nach zwei Sekunden nicht, wie man erwarten könnte, 0,2%, sondern 0,4%, nach drei Sekunden 0,9% und so weiter. Für sehr kleine Zeiten ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Zustand sich ändert, entsprechend extrem winzig.

WarnschildFormelKleinExperinnenhinweis: Das liegt daran, dass in die Wahrscheinlichkeit das Quadrat der Wellenfunktion eingeht. Nehmen wir an, dass die Zeitentwicklung durch einen Hamilton-Operator H beschrieben wird, dann ist es nach kurzer Zeit im Zustand e^{-iHt} |\psi\rangle \approx (1-iHt)|\psi\rangle Die Wahrscheinlichkeit, das System nach einer Zeit t im selben Zustand zu finden, ist also näherungsweise gleich |\langle\psi|(1-iH t)|\psi\rangle|^2 \approx 1- t^2 C^2 (wobei C sich aus H und \psiberechnen lässt). Gut erklärt ist das in diesem Artikel. Wäre das ganze linear, würde es nicht funktionieren, dann hätte man z.B. nach 10 Sekunden ohne Messung (mit 0,1%/Sekunde) eine Wahrscheinlichkeit von 99%, mit 10 Einzelmessungen (0,999 hoch 10) 99,004%, also praktisch denselben Wert.

Dieser Effekt folgt direkt aus den Grundlagen der Quantenmechanik und ist eigentlich seit etwa 1928 ziemlich offensichtlich. Alan Turing hat den Effekt so umschrieben (zitiert nach Wikipedia):

[I]t is easy to show using standard theory that if a system starts in an eigenstate of some observable, and measurements are made of that observable N times a second, then, even if the state is not a stationary one, the probability that the system will be in the same state after, say, one second, tends to one as N tends to infinity; that is, that continual observations will prevent motion. Alan and I tackled one or two theoretical physicists with this, and they rather pooh-poohed it by saying that continual observation is not possible. But there is nothing in the standard books (e.g., Dirac‘s) to this effect, so that at least the paradox shows up an inadequacy of Quantum Theory as usually presented.

— Quoted by Andrew Hodges in Mathematical Logic, R. O. Gandy and C. E. M. Yates, eds. (Elsevier, 2001), p. 267.

Auch wenn dieser Effekt manchmal als “Turing-Paradoxon” bezeichnet wird, ist daran nichts wirklich paradox, er zeigt aber wieder einmal, dass Objekte wie Elektronen offensichtlich nicht ständig einem Messprozess unterliegen, sonst wäre unsere Welt ziemlich langweilig, denn es würde sich nie etwas ändern. (Einigen Menschen wäre das vielleicht ganz recht…)

Beachtung fand der Effekt allerdings erst in den 80er Jahren, nachdem er (in einer Arbeit von Sudarshan und Misra) den Namen “Quanten-Zeno-Effekt” bekommen hatte. Zenon war eine griechische Philosophin (ja, ich weiß, Zenon war ein Mann, das hat aber mit Grammatik nichts zu tun, egal ob ihr jetzt in den Kommentaren “mimimi” schreit), die versucht hat, zu beweisen, dass es keine Bewegung geben kann, unter anderem mit dem “Pfeil-Paradoxon” (Etwa so zu umschreiben: “Da, wo ein Pfeil ist, kann er sich nicht bewegen denn da ist er ja, da wo er noch nicht ist, ist er nicht und kann sich dort auch nicht bewegen.”) Nein, Zenon war nicht doof, und dass es Bewegung gibt, war schon irgendwie klar – es ging eher darum, durch solche Paradoxien herauszufinden, wie eigentlich Raum und Zeit funktionieren können.

So oder so hat die Ähnlichkeit zu Zenons Pfeil-Paradoxon den Namen “Quanten-Zeno-Effekt” (im Englischen schreibt man Zeno, im deutschen – korrekter – Zenon) motiviert.

Dass der Effekt erst relativ spät wirklich beachtet wurde, liegt auch daran, dass man immer besser darin wird, Quantenzustände detailliert zu manipulieren und zu messen. Die ersten Messungen des Effekt stammen aus den 80er Jahren, inzwischen kann man den Effekt sogar routinemäßig nutzen. Er spielt anscheinend auch eine Rolle beim Magnetsinn der Vögel, der ja auf Quanteneffekten beruht. Nett ist es auch, wenn man den Zeno-Effekt mit anderen Effekten kombiniert. Man kann beispielsweise den Zeno-Effekt mit dem berühmten Elitzur-Bomben-Tester kombinieren (bei dem man eine Bombe detektieren kann, ohne mit ihr in irgendeiner Weise in Kontakt zu kommen), wie beispielsweise hier geschehen. (Durch Kombination der Effekte lässt sich die Wahrscheinlichkeit, die Bombe zu detektieren, ohne dass sie explodiert, beliebig dicht an 1 bringen, dazu schreibe ich vielleicht bei Gelegenheit auch nochmal etwas mehr.)

Insgesamt ist der Quanten-Zeno-Effekt in vieler Hinsicht ein Musterbeispiel für seltsame Quanteneffekte: Einerseits ist er im Rahmen der Quantenmechanik ziemlich offensichtlich, andererseits aber auch verblüffend und seltsam.

Kommentare (35)

  1. #1 DocDuck
    8. September 2018

    Mal wieder schön erklärt.

  2. #2 Philipp
    8. September 2018

    Bei der zweiten Formel im Experinnenhinweis ist irgend etwas schief gelaufen. Die t-Abhängigkeit fehlt komplett, für t -> 0 sollte die Wahrscheinlichkeit das System im selben Zustand zu finden gegen 1 gehen, und die Wahrscheinlichkeit das System nicht im selben Zustand zu finden sollte in niedrigster Ordnung quadratisch in t und H sein. Gleichungen 2 und 3 auf Seite 3 des verlinkten Artikels lauten ja auch anders.

  3. #3 MartinB
    8. September 2018

    @Philipp
    Danke. Da hab ich irgendwas komplett vermurkst gehabt, ich hoffe, jetzt passt es.

  4. #4 tomtoo
    8. September 2018

    @MartinB
    Wie ist das? Ich nehme ein radioaktives Element. Trage es als einatomige Lage auf etwas auf und stelle es in die Sonne. Dann sollten die Zustände doch gleich bleiben und nix zerfällt mehr?

  5. #5 MartinB
    8. September 2018

    @tomtoo
    Warum? “In die Sonne stellen” ist ja kein quantenmechanischer Messprozess des Atomkerns.

  6. #6 tomtoo
    8. September 2018

    @MartinB
    Aber Photonen können doch unter gewissen Umständen auch mit dem Kern interagieren?

  7. #7 MartinB
    8. September 2018

    @tomtoo
    Solche des sichtbaren Lichts? Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wie. Die Wahrscheinlichkeit für so einen Prozess sollte jedenfalls winzig sein. Und selbst wenn, hast du danach einen Überlagerungszustand – man müsste dann noch messen, ob das Photon absorbiert wurde oder nicht.
    Du hast natürlich recht, dass das Ganze die Frage, was ein quantenmechanischer Messprozess ist, eher noch undurchschaubarer macht, das sehe ich auch so.

  8. #8 tomtoo
    9. September 2018

    @MartinB
    Das ist für mich so garnicht durchschaubar.
    Darf ich als Messprozess verstehen, wenn es Interaktion zwischen Quantenteilchen gibt? Wenn ich ein Atomkern also mit langwelligen Photonen bestrahle gibt es keine Interaktion. Aber sie fangen doch an, sich schneller zu bewegen? Sehr schwer zu verstehen, nicht böse sein, aber als Laie sehr schwer zu verstehen.

  9. #9 MartinB
    9. September 2018

    @tomtoo
    “Darf ich als Messprozess verstehen, wenn es Interaktion zwischen Quantenteilchen gibt? ”
    Nein. Ein Messprozess ist es erst, wenn das System, mit dem das Teilchen ineragiert “hinreichend groß” ist. Ein bisschen was dazu haben ich mal hier geschrieben:
    https://scienceblogs.de/hier-wohnen-drachen/2010/11/14/das-ende-der-schrodingergleichung/?all=1

  10. #10 Laie
    9. September 2018

    @tomtoo
    Ich erkenne: Es geht dir darum, ob man nicht mit “Beobachtung” Radioaktivität verhindert / verhindern kann.

    Ich würde, wenn es ginge, den umgekehrten Weg gehen. mit “Beobachtung” Radioaktivität beschleunigen, um das unerwünschte Zeug loszuwerden.

    Es wurde versucht, mit MOX-Brennstäben etwas von dem unerwünschtem Zeug wegzubrüten, leider ging das dann in Fukushima in die Luft (etwas halt?), und schmilzt und sinkt derzeit irgendwie irgendwo im Boden herum.

  11. #11 wereatheist
    9. September 2018

    @Laie:

    Es wurde versucht, mit MOX-Brennstäben etwas von dem unerwünschtem Zeug wegzubrüten, leider ging das dann in Fukushima in die Luft (etwas halt?), und schmilzt und sinkt derzeit irgendwie irgendwo im Boden herum.

    Bei MOX-Elementen will man nur das unweigerlich entstehende Pu weitestgehend energetisch nutzen (durch Spaltung). “Wegbrüten” ist da eine etwas seltsame Formulierung.
    In Fukushima Dai-Ichi gab es zwar (partielle) Kernschmelzen, aber unten durch den Reaktor durchgeschmolzen ist da nix.

  12. #12 wereatheist
    9. September 2018

    Nicht mal in Tschernobyl hat es das ‘Corium’ nach draußen geschafft.

  13. #13 tomtoo
    9. September 2018

    @Laie
    Sry, aber mir geht es nur darum einen Messprozess zumimdest so ein bischen zu verstehen.

  14. #14 MartinB
    10. September 2018

    @Laie
    Umkehren kann man den Effekt nicht.

  15. #15 Rossi
    10. September 2018

    “Bewachte Milch kocht nie”?

  16. #16 MartinB
    10. September 2018

    @Rossi
    “Bewacht” man Milch? Aber ansonsten ganz gut, finde ich.

  17. #17 H.M.Voynich
    11. September 2018

    “Ist er weg? Ist er hier?
    Ja, da hängt der Überzieh’r
    Ist er hier? Ist er weg?
    Nein, er hängt noch auf dem Fleck!
    Schau ich hier, hinter mir
    Hab’ ich meinen Überzieh’r –
    Seh’ ich weg, von dem Fleck
    Ist der Überzieher weg!”
    (Otto Reuter – Der Überzieher, 1926)

  18. #18 Rossi
    11. September 2018

    @MartinB: So geht das Sprichwort. Wenn du dich über das “bewacht” wunderst – schon mal Milch gekocht?

  19. #19 MartinB
    11. September 2018

    @Rossi
    Klar, ich fand das Wort “Bewacht” nur irgendwie komisch, aber wann das tatsächlich ein Sprichwort ist (kannte ich nicht; google liefter da auch nur wenig), dann gut.

  20. #20 Rossi
    11. September 2018

    Verstehe; macht nix. Das Wort trifft halt sehr gut, da Milch zum schlagartigen Überkochen tendiert, und zwar immer dann, wenn man sich mal kurz umdreht …
    … jedenfalls hast du jetzt die Entsprechung:).

  21. #21 MartinB
    11. September 2018

    @Rossi
    Ich hab’s mal oben nachgetragen.

  22. #22 Ulli
    Bargteheide
    11. September 2018

    Hallo,
    mein Kommentar hat nun wenig mit dem Zeno-Effekt zu tun, aber ich habe immer Bauchweh, wenn die Wellenfunktion im Zusammenhang mit einzelnen Objekten gebraucht wird. Das hat dann mit Wahrscheinlichkeiten nicht mehr viel zu tun. „Wahrscheinlichkeit“ macht nur bei vielen (gleichartigen) Systemen Sinn. Demzufolge ist es zumindest sehr unscharf zu formulieren „Die Wellenfunktion ändert sich durch die Messung sprunghaft.“. Richtiger wäre zu sagen, dass durch die Messung aus der Vielzahl der möglichen Systeme diejenigen ausgewählt werden, die genau den gemessenen Wert aufweisen.

    Diese so ausgewählten Systeme müssen dann natürlich durch eine andere Wellenfunktion beschrieben werden, nämlich eine solche, die für den Messwert die Wahrscheinlichkeit 1 ergibt.

    Dieses Phänomen ist auch keines der Quantenphysik sondern eines das auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung beruht. Es geht auch mit zwei Würfeln: Addiert man die Augensumme zweier Würfel erhält man eine Normalverteilung mit dem Mittelwert 7. Schaut man nun nach dem ersten Wurf nach, und erhält z.B. eine 3, erhält man für das Experiment nun eine andere Wahrscheinlichkeitsverteilung, nämlich eine Gleichverteilung zwischen für die Zahlen zwischen 4 und 9. Wie oben selektiere ich aus den möglichen Wurfpaaren, diejenigen heraus, die beim ersten Wurf eine 3 haben. Dieser “Kollaps” ist wahrscheinlich 🙂 besser zu verstehen.

    Trotz dieses Einwands: Viele Dinge sind wirklich hervorragend erklärt. Vielen Dank dafür!

  23. #23 Niels
    11. September 2018

    @Ulli

    Richtiger wäre zu sagen

    Na ja, das ist aber eben nicht richtiger, sondern nur die Sprechweise einer anderen Interpretation der Quantenphysik.

    Aus historischen Gründen hat sich das Vokabular der Kopenhagener Interpretation (+ Dekohärenz) durchgesetzt.
    Das verwendet man einfach ganz pragmatisch, um besser miteinander sprechen zu können.
    Obwohl wenn man weiß, dass man nicht entscheiden kann, welche der vielen Interpretationen der Quantenmechanik die richtige ist.

    Also letztlich der selbe Grund, aus dem man sein Paper auf Englisch schreibt, obwohl man vielleicht Russisch viel eleganter findet oder man den Sachverhalt auf Deutsch mit viel weniger Wörtern beschreiben könnte.

  24. #24 MartinB
    12. September 2018

    @Ulli
    Zusätzlich zu dem, was Niels schreibt, ist die Situation zwischen dem Würfel und der QM nicht wirklich analog, weil wir bei der QM DInge wie Überlagerungen, Verschränkungen und ähnliches haben. Wenn ich es richtig sehe, geht deine Sprechweise in Richtung QBismus-Interpretation.
    https://en.wikipedia.org/wiki/Quantum_Bayesianism

  25. #25 Niels
    12. September 2018

    Wenn ich es richtig sehe, geht deine Sprechweise in Richtung QBismus-Interpretation.

    Aber nur die zweite Hälfte mit dem Würfelvergleich.

    Dieser Teil:

    Richtiger wäre zu sagen, dass durch die Messung aus der Vielzahl der möglichen Systeme diejenigen ausgewählt werden, die genau den gemessenen Wert aufweisen.

    passt meiner Meinung nach nicht besonders zum QBism, spontan denke ich da eher an bestimmte Auslegungen von Viele-Welten oder ähnlichem?
    Oder verstehe ich QBism nicht richtig?

    Eine Mischung aus beidem kenne ich so eigentlich aus keiner Interpretation?

  26. #26 Ulli
    12. September 2018

    @Niels:
    Dem kann ich nicht widersprechen. Jedoch richtet sich dieser Blog m.E. nicht an den ausgebildeten Quantenphysiker, sondern an den interessierten und vorgebildeten Laien. Viele „Mysterien“ der Physik und insbesondere der Quantenphysik entstehen, wie oben angemerkt, durch unscharfe Formulierungen, die dann von Nicht-Experten falsch gedeutet werden.

    Bleiben wir bei der Kopenhagener Deutung. Wikipedia sagt: „Die Kopenhagener Deutung […] verneint die Existenz jeglicher Beziehung zwischen den Objekten des quantentheoretischen Formalismus [eben der z.B. Wellenfunktion] einerseits und der „realen Welt“ andererseits, die über dessen Fähigkeit zur Voraussage von Wahrscheinlichkeiten von Messergebnissen hinausgeht.“ Und, Wahrscheinlichkeiten haben immer etwas mit Häufigkeiten zu tun. Konkret heißt das: (nur) wenn man ein Experiment mit einer Messung mehrfach durchführt, kann man aus der Wellenfunktion ableiten, wie häufig man einen bestimmten Messwert erwarten kann. Nicht mehr und nicht weniger.

    Viele unbedachte Formulierungen führen z.B. dazu, dass man meinen könnte, die Wellenfunktion beschreibt die Entwicklung des eines *einzelnen* Teilchens. Das ist nicht der Fall! Sie beschreibt die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsverteilung für Messwerte eines Teilchen-Ensembles. Der Messwert für ein einzelnes Teilchen ist immer zufällig (außer bei 0 oder 1).

    Ich gebe zu, diese Formulierung ist sperrig. Im konkreten Fall kann man das bestimmt besser ausdrücken.

    Dazu möchte ich noch ein anders Beispiel anbringen: „Schrödingers Katze“, die ja auf mystische Art gleichzeitig „halb tot“ und „halb lebendig“ sein soll. Dazu gibt es dann viele Erklärungsversuche, warum man keine halb toten Katzen findet. Das Paradoxon entsteht eine unzulässige/unsachliche Interpretation! Es werden unterschiedliche Zustandsbegriffe vermischt! Der makroskopische Zustand der klassischen Physik meint etwas anderes als der der Quantenphysik. Die Zustandsgleichung (Quantenphysik), die dieses Experiment beschreibt, gibt lediglich Auskunft darüber, wie viele Katzen nach öffnen der Kiste tot und wie viele Katzen lebendig sind, wenn man das Experiment häufig wiederholt (die armen Katzen!). Die Zustandsgleichung macht absolut keine Aussage darüber, ob eine einzelne Katze zu einem Zeitpunkt davor tot oder lebendig oder sonst wie ist.

    @Martin:
    Erst einmal vielen Dank für den Hinweis auf den Quanten-Bayesianismus. Das kannte ich noch nicht. Hier gibt es übrigens eine kurze Zusammenfassung auf deutsch: https://de.wikipedia.org/wiki/Interpretationen_der_Quantenmechanik#Subjektivistische_Interpretationen,_Quanten-Bayesianismus

    Na klar, da gibt es Unterschiede. Aber letztendlich beschreibt die Wellenfunktion die Entwicklung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung (s.o.). Der Unterschied zum Würfelexperiment ist der, wie konkret sich diese Verteilung entwickelt. In der Quantenphysik ist dies durch die Schrödinger-Gleichung bestimmt. Bei den Würfeln ???

    Der Vorgang der Messung führt aber zu analogen (Prozess-) Konsequenzen. Ich versuche es einmal anders herum: Den Würfelvorgang kann man durch Überlagerung von sechs möglichen Zuständen darstellen, nämlich |ψn> für den Zustand, der das Ergebnis n liefert. Der Gesamtzustand wäre dann (ohne Gewichtungsfaktoren): |ψ1> + |ψ2> … + |ψ6>. Entsprechend kann man dann den zweiten Wurf hinzu kombinieren: |ψ1>|ψ1> + |ψ1>|ψ2> … +|ψ2>|ψ1> … + |ψ6>|ψ6>. Schaut man sich nun den ersten Wurf mit der Augenzahl 3 an, kollabiert das Ganze zu: |ψ3>|ψ1> + |ψ3>|ψ2> … + |ψ3>|ψ6>. |ψ3> ist nun konstanter Faktor. Man hat nun wieder die Funktion für einen einzelnen Wurf (was auch zu erwarten war).

  27. #27 Philipp
    12. September 2018

    @Ulli:

    Wahrscheinlichkeiten haben immer etwas mit Häufigkeiten zu tun.

    Das ist der frequentistische Wahrscheinlichkeitsbegriff. Es gibt auch andere Interpretationen von Wahrscheinlichkeit.

    Der Unterschied zum Würfelexperiment ist der, wie konkret sich diese Verteilung entwickelt.

    Das ist nicht der einzige Unterschied. Darauf dass es zwischen einem quantenmechanischen Zustand und einer klassischen Wahrscheinlichkeitsverteilung wichtige Unterschiede gibt deutet ja schon hin, dass man in der Quantenmechanik eben nicht mit Wahrscheinlichkeitsverteilungen sondern mit Zustandsvektoren rechnet.

  28. #28 mar o
    12. September 2018

    @Ulli: In der Kopenhagener Interpretation bezieht sich die Wellenfunktion sehr wohl auf das einzelne System. Wenn du die Wellenfunktion auf eine Gesamtheit von Systemen beziehst, redest du implizit über die sog. Ensemble Interpretation.

    Wellenfunktionen sind auch keine Wahrscheinlichkeitsverteilungen. Der wichtigste unterschied ist, dass Wellenfunktionen komplexe Werte annehmen. Das führt dazu, dass sich in einem Baumdiagramm Pfade gegenseitig auslöschen können, siehe z.B. https://www.scottaaronson.com/democritus/lec9.html.

    Ein weiterer Unterschied zum Würfelexperiment ist, dass sich die unterschiedlichen Ergebnisse aus leicht unterschiedlichen physikalischen Anfangsbedingungen (Lage und Bewegung von Würfel, Luft und Tisch) ergeben. Gleiche Anfangsbedingungen führen in der klassischen Mechanik zum gleichen Ergebnis. Sie sind beim Würfeln lediglich nicht bekannt. Wenn man versucht, die Wahrscheinlichkeiten der Quantenmechanik auf eine ähnliche Art zu verstehen, ergeben sich seltsame Effekte wie überlichtschnelle Kommunikation und damit verbundene Probleme mit der Vereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantenmechanik (Stichworte: “Bohm’sche Mechanik” und “Bells Theorem”).

  29. #29 mar o
    12. September 2018

    In meinem letzten Abschnitt oben fehlt ein Wort: “Ein weiterer Unterschied zum Würfelexperiment ist, dass sich *dort* …

  30. #30 Niels
    13. September 2018

    @mar o
    Interessanter Link.

    Gibt es ein Script zu dieser Vorlesung?
    Hast du dir das Paper von Hardy (Quantum Theory From Five Reasonable Axioms), das als Literaturangabe genannt wird, mal angeschaut?
    Ist das etwas, das breiter diskutiert wurde oder wird?

    Wobei in der Vorlesungsbeschreibung komische Sachen stehen:

    In this lecture, I’m going to try to convince you — without any recourse to experiment — that quantum mechanics would also have been on God’s whiteboard.

    I’m going to show you why, if you want a universe with certain very generic properties, you seem forced to one of three choices: (1) determinism, (2) classical probabilities, or (3) quantum mechanics.

    (1) determinism und (3) quantum mechanics widersprechen sich doch überhaupt nicht, es gibt nun wirklich genug deterministische Interpretationen.

  31. #31 MartinB
    13. September 2018

    @mar o
    Der Link ist wirklich gut, besonders das mit den Baumdiagrammen gefällt mir. Ich denke, das werde ich beizeiten mal klauen…

  32. #32 mar o
    13. September 2018

    @Niels: Wie meinst du das, ob es ein Skript gebe? Der Text ist doch Teil des Skripts (Lecture 9) zur Vorlesung “Quantum Computing Since Democritus”, die Aaronson 2006 gehalten hat.

    Hardys Paper wurde in der Quantum Foundations community breit diskutiert (knapp 500mal zitiert laut google scholar). Ich finde die Idee, die abstrakten Axiome der Quantenmechanik durch greifbarere zu ersetzen ziemlich interessant. Hardys und Aaronsons Ansatz dabei ist, die Quantenmechanik weniger als eine physikalische Theorie zu verstehen, sondern mehr als Theorieframework wie die Wahrscheinlichkeitstheorie. Bei den Sachen aus der Quanteninformations-Ecke sollte man allerdings im Hinterkopf haben, dass dort meistens mit abzählbar-unendlich-dimensionalen Hilberträumen gearbeitet wird. Dabei geht ein wichtiger Teil der Physik flöten; z.B. kann man dort prinzipiell kein Paar von Orts- und Impulsoperator mit den üblichen Eigenschaften (kanonische Kommutatorrelationen) konstruieren. Hardy deutet das im letzten Abschnitt seines Papers aber eher als Feature bzw. hinterfragt das Kontinuum als Basis für eine fundamentale Theorie der Welt.

    Zu deiner Kritik: in dem Sinne schließen sich ja auch Determinismus und klassische Wahrscheinlichkeiten nicht aus. Der Ansatz von Aaronson ist aber nicht “Ich habe die und die empirischen Erkenntnisse über die Welt, was für Theorien/Interpretationen sind damit vereinbar?”, sondern “Wenn ich eine Welt bauen würde und mich an gewisse Einschränkungen halte, welche Arten von Welten sind möglich?”

  33. #33 mar o
    13. September 2018

    @MartinB:
    Ich bin gespannt 😉

  34. #34 MartinB
    13. September 2018

    @mar o
    Naja, *den* Ball halte ich erstmal flach, das wäre dann das nächste Buch, bei dem ich noch nicht mal sicher bin, ob die Idee wirllich funktioniert.

  35. #35 Niels
    14. September 2018

    @mar o
    Ich hab nach einem Link zu einem pdf-Script gesucht und dabei aus irgendwelchen Gründen 21 Links übersehen, über denen auch noch Lecture Notes steht. Darauf kann man vielleicht auch ein bisschen Stolz sein. 😉

    Auf jeden Fall noch einmal vielen Dank für den Link. Werde ich mir bei Gelegenheit zusammen mit der Arbeit von Hardy mal genauer anschauen.
    Hoffentlich reicht mein eher bescheidenes Verständnis der Wahrscheinlichkeitstheorie dabei aus.