Im schwarzen Schloss

Als Miranda den Hinweiszettel gelesen hatte, schaute sie ihre Freundinnen entsetzt an. „Wisst Ihr, was das heißt?“

„Nein, was denn?“

„Damit kann nur das Schwarze Schloss des bösen Zauberers gemeint sein.“

Jedes Hexenkind kannte die Geschichten vom bösen Zauberer, der in einem schwarzen Schloss in den Nebelbergen wohnte. Sein Schloss wurde von einem riesengroßen Raben bewacht, der auf der Turmspitze hauste und jeden angriff, der sich dem Schloss näherte.

„Au Weia“, sagte Netti.

„Auf jeden Fall müssen wir den Raben ablenken“, überlegte Miranda.

„Das übernehme ich – ich kann ein tolles lautes Hundebellen zaubern, das lockt ihn bestimmt weg“, sagte Draconia.

„Gut. Aber wenn der Rabe uns zum Turm fliegen sieht, dann kommt er bestimmt wieder zurück. Du musst ihn also weit weglocken, und wir müssen sehr schnell sein“, sagte Miranda.

„Auf jeden Fall müsst ihr den Schnellzaubertrank auf den Besen tropfen, wenn ihr zum Turm fliegt, sobald der Rabe wegfliegt“, überlegte Draconia.

„Trotzdem sieht uns der Rabe doch sofort.“ Netti hatte Angst vor dem Riesenraben, was nicht verwunderlich war.

„Vielleicht könnt ihr euch in etwas kleines, unauffälliges verwandeln“, meinte Draconia, „zum Beispiel in Fliegen oder Käfer.“

„Ja!“ Miranda war von der Idee begeistert. „Du fliegst zum Wald vor dem Schloss und lockst den Raben mit deinem Hundegebell weg. Netti fliegt mich mit dem Besen in die Nähe des Turms, sobald der Rabe wegfliegt, aber von der Seite aus, die der Rabe nicht sehen kann. Dann verwandele ich mich in einen Käfer und fliege zum Turm. Ich suche das Kästchen, und wenn ich es gefunden haben, kommt Netti mit dem Besen, und dann nichts wie weg.“

„Sind wir denn mit dem Schnellzaubertrank schneller als der Rabe?“, wollte Netti wissen.

„Ich hoffe schon“, sagte Miranda. „Immerhin sind wir damit ganz schön schnell. Du solltest aber auch von dem Trank trinken, dann kommt dir der Besen nicht so schnell vor.“

Alle durchdachten noch einmal den Plan. Er schien ihnen sehr raffiniert und gut überlegt zu sein, und sie waren zuversichtlich, dass es ihnen gelingen würde, den Raben auszutricksen.

In der nächsten Nacht machten sie sich gleich nach der Schule auf den Weg. Als sie den Wald erreicht hatten, auf dessen anderer Seite das Schwarze Schloss lag, trennten sie sich. Draconia flog zwischen den Bäumen hindurch zum Schloss, während die anderen beiden außen herum auf die andere Seite des Schlosses flogen. Dabei blieben sie weit genug vom Schloss entfernt, um nicht vom Raben gesehen zu werden.

Miranda und Netti warteten versteckt hinter einem Felsen und spähten vorsichtig zum Schwarzen Schloss hinüber. Auf der Turmspitze saß der gefürchtete Rabe, der so groß wie ein Elefant war und dessen Schnabel spitz und gefährlich aussah.

Netti, die ja den Besen gleich allein fliegen sollte, war sehr aufgeregt. Dann hörten sie das Hundegebell. Miranda topfte etwas Schnellzaubertrank auf den Besen. Netti nahm selbst auch einen Schluck des Zaubertranks. Um sie herum schien sich alles viel langsamer zu bewegen – Miranda dagegen sah, dass es Netti war, deren Bewegungen viel schneller waren als zuvor. Netti wollte schon losfliegen, als Miranda sagte: „Warte noch. Der Rabe ist noch nicht weg.“

Und tatsächlich. Der Rabe hatte zwar seinen Kopf in Richtung des Waldes gedreht und schien den Hund zu suchen, der dort so laut bellte, aber er saß immer noch auf der Turmspitze und machte keine Anstalten, das Gebell tatsächlich zu verfolgen.

„So ein Mist!“, fluchte Netti so schnell, dass Miranda sie kaum verstehen konnte.

Da sah Miranda plötzlich einen Vogel aus dem Wald aufflattern. Er flog so auffällig herum, wie es kein normaler Vogel tun würde, flatterte hin und her und krächzte dabei laut.

„Das muss Draconia sein“, sagte Miranda. „Los jetzt!“

„Hoffentlich erwischt sie der Rabe nicht“, sagte Netti. Während sie den Besen startete, nahm Miranda ihren Zauberstab und begann den Verwandlungszauber. Netti sauste mit Höchstgeschwindigkeit auf den Turm zu, wobei sie dicht über dem Boden flog, damit der Rabe sie nicht sah. Von hier konnte sie nicht genau sehen, was passierte, aber sie sah den Raben über dem Wald hin- und herfliegen und immer wieder nach unten stoßen. Draconia versteckte sich anscheinend zwischen den Bäumen, wohin der Rabe ihr mit seinen großen Flügeln nicht folgen konnte.

Als Miranda ihren Zauber beendet hatte, saß sie als kleiner, schillernder Käfer auf dem Besen. Miranda breitete ihre Flügel aus und summte los, auf den Turm zu. Plötzlich bekam sie einen Riesenschreck: Sie hatte etwas vergessen! Um den Schatz finden zu können mussten sie sicherlich wieder durch die Kristallkugel schauen, aber als Käfer war Miranda viel zu klein, um die Kristallkugel tragen zu können.

So schnell sie konnte, flog Miranda zurück zum Besen und verwandelte sich zurück. „Schnell!“, schrie sie. „Wir müssen erst durch die Kristallkugel schauen. Flieg zum Turm!“ Miranda packte die Kristallkugel, während Netti, so schnell sie konnte, zum Turm flog. Miranda spähte durch die Kugel, sagte den Zauberspruch auf, und sah einen Stein an der Brüstung des Turmes aufleuchten. Der Turm kam rasch näher. „Netti, aufpassen!“, rief Miranda. Doch es war zu spät. Netti, die im Besenfliegen nicht so geübt war wie Miranda, hatte zu spät begonnen, ihn abzubremsen, und raste jetzt genau auf die Brüstung des Turmes zu. Im letzten Moment gelang es ihr, den Besen ein Stück hochzuziehen, doch das Ende des Besens schrammte an der Brüstung entlang. Es krachte laut. Miranda zögerte nicht lange. Sie sprang vom Besen und rannte auf den leuchtenden Stein zu, den sie durch die Kristallkugel gesehen hatte.

Dabei sah sie, dass der Krach den Raben auf sie aufmerksam gemacht hatte. Der Rabe beendete seine Verfolgungsjagd über dem Wald, stieß ein wütenden Krächzen aus und flog zum Turm zurück. „Ich muss mich beeilen“, dachte Miranda, griff in ihre Tasche und nahm selbst auch einen Schluck ihres Schnellzaubertranks. Kaum hatte sie ihn heruntergeschluckt, so schien es ihr, als würde sich alles um sie herum verlangsamen. Der Rabe raste nicht mehr auf sie zu, sondern flog nur noch in gemächlichem Tempo, und Netti, die sich vorher blitzschnell bewegt hatte, schien wieder ganz normal zu sein. Miranda suchte weiter nach dem Schatz. Sie tastete den Stein ab, während der Rabe immer näher kam. Zuerst fand sie nichts, dann, als sie sich über den Stein beugte um an die Außenseite des Turmes zu gelangen, spürten ihre Hände etwas Hartes. Sehen konnte sie nichts. ‘Das muss das Kästchen sein,’ dachte Miranda und riss daran. Es gab einen Ruck und sie hatte es in der Hand, wobei es sichtbar wurde. „Nichts wie weg“, rief sie Netti zu. Diese hatte in der Zwischenzeit den Besen wieder aufgerichtet und war startbereit. Miranda sprang hinter sie auf den Besen.

Netti lenkte den Besen weg vom Schloss, währen der Rabe sie wütend verfolgte. Das Schloss blieb schnell hinter ihnen zurück, doch als Miranda zurückschaute, sah sie eine dunkle Gestalt, die aus einem Schlossfenster schaute – das musste der böse Zauberer sein, der vermutlich wissen wollte, was es mit dem Krach auf sich hatte, den sie veranstaltet hatten. Zum Glück waren sie schon zu weit entfernt, als dass er sie hätte verzaubern können.

Der Rabe aber verfolgte sie immer noch unerbittlich und kam langsam näher. Netti flog so schnell sie nur konnte, aber anscheinend war das nicht schnell genug. Wenige Momente später konnte Miranda den Raben schon dicht hinter sich sehen. Er riss seinen scharfen Schnabel auf und sie bekam es mit der Angst zu tun. Jetzt brauchte sie einen Zauber, sonst waren sie verloren.

„Netti, mach kurz die Augen zu“, rief sie, und dann zauberte sie. Auch Miranda schloss die Augen, als ein greller Lichtblitz aus ihrem Zauberstab in die Luft fuhr. Er war so hell, dass Miranda ihn selbst durch die geschlossenen Augen hindurch sehen konnte. Der Rabe kreischte erschreckt auf. Miranda öffnete die Augen wieder und sah, wie der Rabe ziellos umherflog. Der Blitz hatte ihn für ein Weile geblendet.

Sie flogen weiter, während der Rabe hinter ihnen zurückblieb und taumelnd durch die Luft flog. Als sie so weit entfernt waren, dass er nur noch ein kleiner Punkt hinter ihnen war, sah Miranda, dass er in die Höhe kreiste und dann, mit einem letzten wütenden Krächzen, wieder zum Turm zurückflog.

„Puh, das war knapp“, sagte Miranda. „Das kann man wohl sagen“, meinte Netti. Sie flogen in Richtung der Hexenschule, und nach einer Weile sahen sie, wie etwas auf sie zugeflogen kam. „Was für ein Glück, Draconia ist nichts passiert“, meinte Netti erleichtert.

Langsam flogen sie zurück nach Hause. Als sie an der Hexenschule angekommen waren, sagte Draconia „Nun lass uns endlich das Kästchen sehen.“ Miranda hatte das Kästchen in all der Aufregung fast völlig vergessen. Sie holte es aus dem Besen und dann malte sie ein „E“ auf den Deckel. Er sprang auf. Niemand von ihnen war sonderlich überrascht, dass in dem Kästchen ein Edelstein lag – diesmal ein gelber – sowie ein Zettel. Miranda las vor: „In der Wüste stehen drei spitze Häuser, groß wie Berge. Ein viertes ist verschüttet, dort findest Du meinen Schatz.“