In der Pyramide

Diesmal war es nicht schwer, zu erraten, was mit dem Hinweis gemeint sein konnte – es mussten die Pyramiden in Ägypten sein, da waren sich alle ganz sicher. Da es nach Ägypten ziemlich weit war, beschlossen sie, wieder bis zum Wochenende zu warten. In der Zwischenzeit überlegten sie, was sie für ihre Expedition brauchen würden.

„Ich wette, in der Wüste ist es ganz schön heiß. Am besten nehmen wir ganz dünne Sachen mit“, überlegte Miranda.

„Hmm“, sagte Draconia. „Ich habe mal gelesen, dass es nachts in der Wüste ganz kalt sein soll. Vielleicht brauchen wir doch auch warme Sachen.“

„Wenn die Pyramide verschüttet ist, dann brauchen wir Sachen zum Graben“, sagte Netti, „Schaufeln und so.“

„Und natürlich was zu Essen“, sagte Draconia.

„Und Wasser. Viel Wasser“, meinte Miranda schließlich. So kam nach einer Weile eine ziemlich lange Liste zusammen.

Schließlich war es soweit. Das Wochenende war gekommen und kurz nach Sonnenuntergang machten sie sich auf den Weg. Netti saß wieder hinter Miranda, neben ihnen flog Draconia. Sie flogen eine Weile über Felder, Wälder, Wiesen und Flüsse, bis sie an ein großes Gebirge kamen. „Die Alpen“, erklärte Miranda, die alles auf ihrer Landkarte mitverfolgte. Nun waren sie froh über die warmen Sachen, denn sie mussten ziemlich hoch fliegen, um über die Berge zu kommen, und hier war die Luft schon ganz schön frostig. Kurze Zeit später waren sie dann über dem Meer.

„Dahinter kommt Ägypten“, sagte Miranda, „dort stehen die Pyramiden.“ Nach einer Weile sahen sie tatsächlich Land vor sich. Sie folgten einem großen, breiten Fluss, bis sie schließlich nach einiger Zeit am Horizont die Pyramiden sahen. Sie sahen wirklich aus wie spitze Berge, und als sie näher kamen sahen sie, wie riesig sie waren. Zwar waren sie nicht so hoch wie der Eiffelturm, dafür aber viel breiter und aus schweren, hellen Steinen gebaut.

Sie flogen über die Pyramiden hinweg, aber nirgends gab es einen Hinweis auf eine vierte Pyramide. Miranda spähte wieder durch die Kristallkugel, aber auch das half nichts.

„Vielleicht ist die vierte Pyramide ein Stück weit weg“, sagte Draconia. „Am besten, wir teilen uns auf, dann können wir schneller alles absuchen.“

Gesagt, getan. Miranda flog mit Netti, während Draconia in die andere Richtung unterwegs war. Angestrengt spähten Miranda und Netti nach unten, doch sie konnten keinen Hinweis auf eine Pyramide sehen.

„Wie sollen wir denn die Pyramide finden können, wenn sie total mit Sand zugeschüttet ist?“, fragte Netti.

„Weiß ich auch nicht.“ Miranda überlegte. Dann hatte sie eine Idee: „Hör mal. Die Pyramiden sind ja ganz schön groß, stimmt’s? Wenn man so eine Pyramide mit Sand zuschüttet, dann würde man doch so eine Art Berg oder Hügel sehen. Am besten suchen wir einen Hügel, der so groß ist, dass eine Pyramide drunterpassen würde.“

Sie hielten Ausschau nach einem passenden Hügel, und tatsächlich dauerte es nicht lange, bis sie einen fanden. Sie landeten.

Netti spazierte im Sand herum und schaute sich um. „Und wie sollen wir rauskriegen, ob hier tatsächlich eine Pyramide drunter ist?“, fragte sie. „Mit den Schaufeln brauchen wir bestimmt Hundert Jahre.“

„Ganz einfach“, antwortete Miranda und zog ihren Zauberstab. Sie sagte einen Zauberspruch auf, zeigte mit dem Stab zuerst auf Netti, dann auf sich, und einen Moment später schon waren zwei kleine Wüstenspringmäuse dabei, sich in den Sand des Hügels zu graben.

Miranda und Netti, die beiden Springmäuse, buddelten so schnell sie konnten. Mit ihren Vorderbeinen konnten sie gut graben, und so wuchs und wuchs ihr kleiner Tunnel in die Tiefe. Nach einer Weile ging es nicht mehr weiter, ihre Mäusekrallen stießen auf eine harte, glatte Wand. Sie gruben ein Stück an der Wand entlang, bis sie sicher waren, dass es nicht bloß ein Stein war, sondern eine richtige Mauer.

„Das muss die Pyramide sein“, piepste Netti. „Komm, wir holen Draconia.“

„Nein, warte noch. Lass uns erst den Eingang suchen.“

Sie gruben sich weiter an der Steinmauer entlang, bis sie schließlich eine Öffnung fanden. Dann krabbelten sie zurück durch den Tunnel an die Oberfläche.

Neben dem Besen stand Draconia, die sich suchend umschaute. Als Miranda sich und Netti zurückverwandelte, zuckte sie erschreckt zusammen. „Da seid Ihr“, sagte Draconia. „Ich habe euch schon überall gesucht.“

„Wir haben die Pyramide gefunden“, sagte Netti stolz und zeigte auf ihren kleinen Tunnel.

„Toll. Sollen wir uns alle in Wüstenspringmäuse verwandeln?“, fragte Draconia.

„Lieber nicht“, meinte Miranda. „Denk ans letzte mal als wir es als Käfer versucht hatten. Das hat auch nicht geklappt. Als Wüstenspringmäuse sind wir zu klein, um die Kristallkugel oder das Kästchen zu tragen.“

„Außerdem sollten wir lieber unsere Sachen dabei haben. Wer weiß, was wir da unten brauchen“, überlegte Draconia. „Wir können doch versuchen, einen richtigen Tunnel zu zaubern. Ich habe letzte Woche in der Bibliothek nach Erdzaubern gesucht, damit müsste es eigentlich klappen.“

Draconia kletterte den Hügel ein Stück hinunter, weil ihr Tunnel zum unteren Ende der Pyramide führen sollte, dorthin, wo der Eingang war. Dann hob sie ihren Zauberstab und sagte einen Zauberspruch auf. Sand flog in die Luft, während sich langsam ein Tunnel bildete. Eine richtige Sandfontäne flog aus der Tunnelöffnung heraus, während sich der Tunnel, von Draconias Zauberkraft getrieben, tiefer und tiefer in den Sand bohrte. Dann aber wurde die Sandfontäne kleiner. Draconia stand der Schweiß auf der Stirn. „Meine Zauberkraft reicht nicht aus. Ihr müsste mir helfen!“

Die anderen stellten sich neben sie und nahmen ihre Zauberstäbe. Mit den Spitzen ihrer Stäbe berührten sie Draconias Stab. Auf diese Weise konnten sie Draconia von ihrer Zauberkraft etwas abgeben. Die Sandfontäne wurde wieder größer, der Tunnel bohrte sich weiter vor und dann, plötzlich, hörte der Sand auf, aus dem Tunnel zu schießen.

„Geschafft“, sagte Draconia, und vor Erschöpfung setzte sie sich auf den Boden. Auch die anderen fühlten sich etwas schwach. „Am besten, wir machen eine kleine Pause und essen etwas.“ Mit diesem Vorschlag von Netti waren alle einverstanden, und so saßen sie im Sand und aßen von ihren Vorräten.

„Mir wird kalt“, sagte Netti schließlich. Das war auch kein Wunder: vom Graben und Zaubern war sie etwas verschwitzt gewesen, und der Wüstenwind, der tatsächlich genauso kalt war wie Draconia es gesagt hatte, ließ sie jetzt vor Kälte zittern.

„Mir auch. Am besten gehen wir los. Ich habe mich sowieso genug ausgeruht“, sagte Miranda und stand auf. Die anderen folgten ihr. Am Tunneleingang zauberte Miranda ein Hexenlicht, und sie gingen in die Tiefe.

Kurze Zeit später standen sie am Ende des Tunnels vor der Öffnung der Pyramide. Hier war Sand ins Innere der Pyramide gefallen. Mit etwas Mühe konnten sie über den großen Sandhaufen klettern und waren im Inneren der Pyramide.

„Wartet!“, sagte Draconia. „Wir müssen sehr vorsichtig sein. Ich habe letzte Woche viel über Pyramiden gelesen – meist gibt es in ihnen irgendwelche Fallen, damit niemand einbrechen kann. Passt genau auf, wohin ihr tretet.“

Nach dieser Warnung gingen sie langsam los. Sie gingen durch einen Gang, der breit genug war, dass sie alle nebeneinander Platz hatten, und Miranda leuchtete mit ihrem Hexenlicht. Rechts und links an den Wänden sahen sie viele Bilder. Einige von ihnen waren groß und zeigten Menschen und Tiere, aber es gab auch Stellen, an denen waren viele, viele Bilder neben- und untereinandergezeichnet. „Das sind Hieroglyphen“, erklärte Draconia. „Das ist so eine Art Schrift.“

Netti schaute sich die Hieroglyphen genau an. „Hier sind Vögel, und Wellenlinien, und das hier könnte ein Schiff sein. Das ist aber eine komische Schrift, oder?“ Netti konnte zwar noch nicht lesen, aber dass normale Schrift ganz anders aussah, wusste sie trotzdem.

Nachdem sie ein Stück gegangen waren, kamen sie an eine Abzweigung. „Gehen wir links oder rechts?“, fragte Draconia.

„Keine Ahnung“, meinte Miranda, „sieht alles gleich aus.“ Sie beschlossen, nach rechts zu gehen, aber bevor sie das taten, nahm Draconia ein Stück Kreide aus ihrem Rucksack und zeichnete einen Pfeil an die Wand, der zum Ausgang zeigte. Darüber schrieb sie eine große „1“.

„Was machst Du denn da?“, wollte Netti wissen.

„Damit wir nachher den Ausgang wiederfinden. Der Pfeil zeigt in die Richtung, aus der wir gekommen sind, und die Eins sagt uns, dass es die erste Kreuzung ist, an der wir waren.“

„Tolle Idee“, lobte Miranda, „dann können wir uns wenigstens nicht verirren.“

Nachdem sie eine ganze Weile durch die Pyramide gegangen waren, waren sie froh über Draconias Idee, denn die Gänge verzweigten sich immer und immer wieder, und niemand von ihnen hätte noch den Rückweg finden können. Langsam wurden sie müde, und ihre Schritte wurden langsamer. Nettis Füße schlurften über den Boden.

„Halt!“, rief Miranda plötzlich. Alle blieben schlagartig stehen. „Schaut mal da auf den Boden.“ Als sie nach unten sahen, konnten sie es alle erkennen: Eine kleine Fuge lief über den Boden, wie ein kleiner Riss. Miranda beugte sich nach vorn und tastete den Stein auf der anderen Seite der Fuge ab. „Der Stein lässt sich nach unten drücken, glaube ich.“ Sie nahm ihren Zauberstab und drückte damit den Stein kräftig nach unten. Über ihnen ertönte ein rumpelndes Geräusch. Mit einem Satz sprangen sie alle nach hinten, gerade noch rechtzeitig, denn vor ihnen krachte ein gewaltiger Steinquader von der Decke auf den Boden. Netti kreischte auf.

„Wenn wir da drunter gestanden hätten, dann wären wir jetzt plattgequetscht“, meinte Draconia, die ganz bleich geworden war. „Gut dass Du aufgepasst hast.“ Nachdem sie einen Moment verschnauft hatten und ihre Beine nicht mehr so zitterten, kletterten sie vorsichtig über den Stein und gingen weiter. Jetzt achteten sie noch genauer darauf, wohin sie traten.

„Wie lange sind wir eigentlich schon hier drinnen?“, wollte Draconia nach einer ganzen Weile wissen.

„Keine Ahnung. Vermutlich schon ein paar Stunden“, sagte Miranda.

„Müssten wir nicht langsam mal irgendwo ankommen?“

Kaum hatte Draconia dies gefragt, da sagte Netti plötzlich „Oh nein!“, und zeigte auf die Wand an der Wegkreuzung, vor ihnen. An die Wand war ein Kreidepfeil gemalt, über dem eine große „3“ stand.

„Wir sind wieder fast am Ausgang! Wir sind vermutlich immer nur im Kreis oder Zickzack herumgelaufen. So ein Mist!“ Draconia wurde richtig ärgerlich.

„Und meine Füße tun langsam weh“, sagte Miranda.

„Meine erstmal. Meint ihr, wir finden den Schatz noch?“ Nettis Stimme klang ganz verzweifelt, und Miranda, die sie gut kannte, konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. Da hatte Miranda eine Idee: „Die Kristallkugel!“, rief sie. „Vielleicht finden wir damit einen Hinweis.“

Miranda holte ihre Kristallkugel heraus, zauberte ihren Spruch und schaute durch die Kugel auf die Wände. Zuerst sah sie nichts besonderes, doch dann fiel ihr etwas auf: Einige Hieroglyphen leuchteten, wenn sie sie durch die Kristallkugel ansah. Es waren diejenigen, die aussahen wie Vögel. Allerdings nicht alle von ihnen, sondern nur die, deren Köpfe nach rechts zeigten. Schnell erklärte sie den anderen, was sie gesehen hatte. „Das muss der Wegweiser sein. Wir müssen nach rechts gehen, wo die Köpfe hinzeigen.“

Aufgeregt folgten sie der Spur der Hieroglyphen, aber Draconia bremste sie, denn sie mussten immer noch vorsichtig sein, um in keine Falle zu laufen. An jeder Kreuzung spähte Miranda wieder durch die Kristallkugel, um die Richtung zu bestimmen, während Draconia ihre Kreidepfeile malte.

Es dauerte nicht mehr lange, und die drei standen in einer großen Kammer, in der der Weg endete. Die Kammer hatte besonders bunt bemalte Wände und in den Ecken standen steinerne Statuen. Auf dem Boden in der Mitte der Kammer lag eine große Steinplatte, ansonsten war sie leer.

„Das war bestimmt die Schatzkammer“, sagte Draconia „Nur ist sie jetzt ausgeraubt.“

„Hoffentlich haben die Räuber nicht auch Medeas Schatzkästchen mitgenommen.“ Besorgt schaute Miranda durch ihre Kristallkugel. Sie sah, dass die Steinplatte in der Mitte leuchtete. Als sie es den anderen gesagt hatte, stürzten sie alle dorthin, um mit den Händen zu tasten, ob das Kästchen dort unsichtbar verborgen war. Leider aber fanden sie nichts. Nach einer Weile sagte Miranda traurig, „Ich glaube, das Kästchen ist doch weg.“

„Vielleicht ist es ja unter der Steinplatte“, schlug Netti vor. Die drei versuchten, die Platte anzuheben, doch sie war viel zu schwer. Zum Glück fiel Draconia ein passender Zauber ein, mit dem sie sich stark zaubern konnte. Nachdem sie ihn gesprochen hatte, konnte sie die schwere Steinplatte an einer Seite anheben. Netti, die ja die kleinste war, zwängte sich darunter. Sie tastete eine Weile herum.

„Beeil’ Dich!“, rief Draconia. „ich weiß nicht genau, wie lange der Zauber hält.“

„Hier ist eine Vertiefung!“ Netti tastete sich vorwärts. „Ich hab es.“ Schnell krabbelte sie wieder hinaus und zeigte den anderen stolz das Kästchen. Draconia ließ die Steinplatte los, die mit einem ohrenbetäubenden Knall zu Boden krachte.

Alle waren viel zu müde, um sofort in das Kästchen zu sehen. Sie wollten nichts anderes, als endlich aus der Pyramide herauszusein. So machten sie sich auf den Weg nach Draußen.

Zu ihrer Überraschung war es dunkel. „Kein Wunder, dass wir so müde sind“, meinte Draconia, „wir waren den ganzen Tag in der Pyramide.“

„Aber wir sollten nach Hause fliegen. Ich habe keine Lust, hier in der Wüste zu übernachten.“ Also machten sie sich müde auf den Heimweg.

Als sie endlich zuhause ankamen, wollten sie nur noch in ihre Betten. Sie nahmen sich nicht einmal mehr die Zeit, das Kästchen zu öffnen. Draconia verabschiedete sich, während Miranda und Netti in Mirandas Haus gingen und sich beide im Hochbett einkuschelten.