Der Schatz der Medea

Im hellen Mondlicht vor der verborgenen Höhle hatten die Drei endlich Gelegenheit, sich die Kiste näher anzusehen. Wie die Kästchen, die sie bisher gefunden hatten, war sie aus Holz, schön gefertigt aber ohne Zeichen oder eine Inschrift auf der Oberfläche. Sie hatte auf jeder Seite und auf dem Deckel eine kleine Vertiefung.

Noch etwas hatte die Kiste mit den Kästchen gemeinsam: Sie ließ sich nicht öffnen. „Vielleicht müssen wir wieder etwas draufschreiben“, überlegte Draconia.

„Ja, aber was? Wir haben doch alle Buchstaben im Namen Medea aufgebraucht.“

„Vielleicht müssen wir den ganzen Namen draufschreiben“, sagte Draconia. Sie probierte es, aber es half nichts. Die Kiste blieb verschlossen.

„Ich wette, die fünf Vertiefungen haben etwas damit zu tun“, überlegte Draconia schließlich. Sie versuchte, ihre Hand so weit zu spreizen, dass sie in jede der Vertiefungen einen Finger legen konnte, aber dafür war die Kiste zu groß. Sie versuchte es mit beiden Händen. Nun gelang es ihr zwar, aber die Kiste war immer noch verschlossen.

„Meint Ihr, dass es Zufall ist, dass es genau fünf Vertiefungen sind? Wo wir doch auch fünf Kästchen gefunden haben?“, fragte Netti.

„Das ist es!“, rief Draconia begeistert. „Ich wette, wir müssen die fünf Edelsteine hineinstecken.“ Draconia nahm die fünf Steine und schaute sich die Vertiefungen an. Jetzt sah sie, dass jede von ihnen eine etwas andere Form hatte, genau passend zu den Edelsteinen. Sie probierte eine Weile herum, dann hatte sie den Diamanten in die Vertiefung auf dem Deckel gesteckt. Für einen Moment leuchtete er auf.

„Weiter, wir sind auf dem richtigen Weg!“, drängelte Netti. Draconia steckte einen Edelstein nach dem anderen in die Kiste, und jedes Mal leuchtete der neu eingebaute Stein kurz auf. Dann hatte sie es geschafft: Als sie den Rubin an der Rückseite eingesetzt hatte, gab es ein leises Klicken und der Deckel der Kiste sprang auf.

Alle vier drängten sich um die Kiste um hineinzusehen. Oben in der Kiste lag weicher Stoff, fast wie Watte. Zwischen der Watte lag ein aufgerolltes Stück Papier, das die Drei zur Seite legten – diese Schriftrolle war sicher nicht der Schatz, den sie suchten. Draconia begann, den Stoff herauszunehmen und sah, dass darin eingebettet eine seltsame, eiförmige, grau-braune Kugel mit goldenen Flecken lag.

„Ist das ein Edelstein?“, fragte Netti.

„Glaube ich nicht. Er sieht nicht besonders schön aus“, meinte Draconia.

„Mir gefällt er“, sagte Miranda mit träumerischer Stimme. Die goldenen Flecken schillerten leicht im Mondlicht, und Miranda fand diesen Anblick faszinierend.

„Aber wenn es kein Edelstein ist, was ist es dann?“

„Keine Ahnung. Ist sonst noch etwas in der Kiste?“, fragte Miranda.

Draconia nahm die Kugel heraus und gab sie Miranda, die sie neugierig ansah und auf die goldenen Flecken starrte. Draconia nahm den Stoff heraus, aber darunter war nichts mehr. „Das ist also ein Schatz von unermesslichem Wert?“, fragte sie enttäuscht.

„Vielleicht steht etwas in der Schriftrolle?“, meinte Netti. Die Rolle hatten die anderen schon vollkommen vergessen. Draconia nahm sie in die Hand und entrollte sie.

„Hier steht: ‘In dieser Kiste findest Du das letzte Ei der Bronzenen Drachen.’ “

Für einen Moment schauten sich alle nur an. „Meint Ihr, das ist wirklich ein Drachenei?“, fragte Netti.

„Keine Ahnung“, sagte Miranda. „Aber es sieht schon ein bisschen wie ein Ei aus, findet ihr nicht?“

„Was ist denn ein Bronzener Drache?“, fragte Netti.

„Bronze ist eine Farbe, so ähnlich wie Gold, nur etwas dunkler und ein bisschen rötlich“, erklärte Miranda. „ Was steht denn sonst noch da?“, wandte sie sich dann wieder an Draconia.

Draconia hatte inzwischen weitergelesen. „Nicht mehr viel. Das ist eine Anleitung, wie man das Ei ausbrüten kann. Hier steht, man muss es in eine Schale mit Vulkanlava legen, die immer heiß genug sein muss. Und es steht, wie man die Temperatur prüfen kann, damit das Ei nicht zu heiß oder kalt wird. Wenn es schlüpft, darf das Drachenkind nicht in die Lava fallen.“

„Vulkanlava! Deshalb hat Gneis gesagt, wir sollen nicht so weit weggehen! Am besten gehen wir noch einmal in die Höhle.“

Also machten sie sich wieder auf den Weg in die Höhle. Gneis, der Steintroll, saß immer noch in seiner Höhle und schlug mit der Faust Felsbrocken aus der Wand.

„Hallo“, sagte Miranda. „Da sind wir wieder. Wir brauchen ein bisschen Vulkanlava.“

Gneis lachte sein tiefes, rumpelndes Lachen. „Dann habt Ihr die Kiste wohl geöffnet?“, sagte er. Er stand auf und ging hinaus. Nach kurzer Zeit kam er mit einer steinernen Schale wieder, in der rote Lava schimmerte. In seinen riesigen Händen sah die Schale ziemlich klein aus, aber als er sie Miranda und Draconia gab, merkten sie, dass sie fast so groß war wie Mirandas Waschzuber. „Die ist aber schwer“, sagte Miranda.

„Das ist meine kleinste Nachtischschale“, sagte Gneis, „Eine kleinere habe ich nicht, tut mir Leid.“

„Das macht nichts“, erwiderte Draconia. Sie zauberte, wie schon in der Pyramide, ihren Kraftzauber und nahm die Schale hoch als wöge sie gar nichts. „Wir müssen jetzt gehen. Und vielen Dank für alles“, sagte Miranda zum Abschied. Dann gingen sie zurück.

Der Rückflug nach Hause war nicht so einfach wie der Hinflug. Netti musste hinter Draconia auf dem Besen sitzen, während Miranda die Lavaschale vor sich auf ihrem Besen balancierte. Sie flog langsam und vorsichtig, damit die heiße Lava nicht überschwappte. Während des Rückfluges überlegten sie, wie sie das Ei ausbrüten sollten.

„In der Schriftrolle steht, wir müssen jede Stunde die Temperatur kontrollieren und das Ei drehen“, sagte Draconia.

„Jede Stunde? Selbst am Tag?“, fragte Netti.

„Ja, so steht es hier. Am besten teilen wir uns die Arbeit.“

„Aber wir müssen doch wieder zur Schule“, sagte Miranda.

„Ist doch kein Problem. Ich kann doch in der Zeit aufpassen“, schlug Netti vor. Sie beschlossen, dass sie das Ei in Mirandas Haus ausbrüten würden, da dieses am nächsten an der Hexenschule lag, und dass sie sich mit der Ei-Wache abwechseln würden.

Schließlich kamen sie an Mirandas Haus an. Sie trugen die Lava-Schale in Mirandas Zimmer und stellten sie auf den Ofen, wo es am wärmsten war. Dann legten sie das Ei vorsichtig in die Lava.

Draußen wurde es bereits hell. Netti flog nach Hause. „Wenn Du willst, übernehme ich die erste Wache“, schlug Miranda Draconia vor. Also legte sich Draconia in Mirandas Hochbett, während Miranda sich in ihren Sessel setzte und die Schriftrolle las.

Laut der Anweisung musste sie das Ei jede Stunde einmal drehen. Da es jetzt, wo es in der Lava lag, zu heiß war, um es anzufassen, nahm sie eine lange Zange, mit der sie sonst Holzscheite in ihrem Ofen hantierte. Vorsichtig griff sie mit der Zange das Ei und drehte es herum. Dann musste sie die Temperatur kontrollieren. Dazu tropfte sie einen Wassertropfen auf die Eierschale. Es zischte, der Tropfen tanzte einen Moment auf der Schale herum und war dann verdampft. Das bedeutete, dass die Temperatur genau richtig war – wäre der Tropfen sofort verdampft, dann wäre die Lava zu heiß, wäre er noch nicht verdampft, bis sie bis zehn gezählt hatte, dann wäre er zu kalt gewesen.

Viel mehr galt es beim Ausbrüten des Eis nicht zu beachten. In einer Stunde musste sie das Ei wieder drehen, bis dahin aber hatte sie nichts zu tun. So setzte sich Miranda in ihren Sessel und wartete.