Wyveria wird größer

Ein paar von Euch scheinen die Geschichten um Miranda und ihre Freundinnen ja gern zu lesen, also gibt es jetzt das zweite Buch – es zeigt sich, dass es gar nicht so leicht ist, ein Drachenkind großzuziehen.

Es war Mittag. Die kleine Hexe Miranda lag friedlich in ihrem Bett und schlummerte. Am Tag zuvor erst war das Drachenbaby Wyveria aus seinem Ei geschlüpft. Miranda hatte aufregende Stunden verbracht, um Wyveria zu pflegen und zu füttern und war sogar mit ihr in der Schule gewesen. Nach all der Anstrengung war sie nun eingeschlafen – auf der einen Seite an Wyveria, auf der anderen an Neferti, ihre Katze, gekuschelt.

Ein lautes Heulen riss Miranda aus dem Schlaf. „Hunger!“, hörte sie Wyverias Stimme in ihrem Kopf. Miranda setzte sich auf. Wyveria war wach und schaute sie aus ihren großen, schillernden Drachenaugen an. „Hunger!“, wiederholte sie wieder. Neferti schlug ein Auge auf und warf den beiden einen vorwurfsvollen Blick zu, dann rollte sie sich wieder ein und schlief weiter. Miranda kletterte aus dem Bett, Wyveria auf dem Arm haltend, und ging mit ihr in die Küche. Wie in der Nacht zuvor fütterte sie Wyveria mit Fleischbrocken. Auch diesmal hielt Wyveria das Fleisch zwischen ihren Vordertatzen und biss große Stücke heraus. Miranda hatte das Gefühl, dass sie sich dabei schon geschickter anstellte als gestern.

Nach einer Weile drehte Wyveria den Kopf weg. Das war ein sicheres Zeichen dafür, dass sie satt war. Doch noch bevor Miranda das Fleisch zur Seite räumen konnte, hörte sie schon wieder Wyverias telepathische Stimme: „Durst!“, beklagte sie sich diesmal. Miranda goss etwas Milch in eine Schale. Am Tag zuvor hatte Wyveria die Milch zwar abgelehnt, aber da war sie ja auch hungrig gewesen, nicht durstig. Sie hielt Wyveria die Schale hin, doch die schnupperte nur einmal daran und drehte dann den Kopf weg. „Durst!“, sagte sie erneut.

Miranda goss die Milch in den Ausguss und spülte die Schale mit Wasser aus. Wyveria, die immer noch auf ihrem Arm saß, drehte den Kopf herum und steckte ihre Zunge ins Waschwasser. „Ach so, Du magst Wasser“, sagte Miranda und füllte die Schale mit Wasser voll. Wyveria schlabberte das Wasser auf, wobei sie einiges verschüttete. Das war nicht überraschend, schließlich war es ja das erste Mal in ihrem Leben, dass sie etwas trank, und sie musste natürlich erst üben.

Als sie sich satt getrunken hatte, begann Wyveria, auf Mirandas Arm herumzuzappeln. Miranda setzte sie vorsichtig auf den großen Tisch, und Wyveria versuchte aufzustehen. Anders als am Tag zuvor gelang es ihr, wenn auch etwas wacklig, sofort. Dann nahm sie vorsichtig einen Fuß nach oben und versuchte einen Schritt zu machen. Natürlich verlor sie sofort das Gleichgewicht und kippte nach vorn. Sie wäre auf die Nase gefallen, wenn sie sich nicht mit einem Flügel abgestützt hätte, den sie schnell ausbreitete als wäre er ein weiteres Bein. Dann stellte sie sich wieder gerade hin und versuchte es erneut. Auch beim zweiten und dritten Mal schaffte sie es nicht, einen Schritt zu machen, doch sie versuchte es wieder und wieder, bis es schließlich klappte. Wyveria stakste auf dem Tisch einige Schritte vorwärts und wäre beinahe über die Tischkante gestolpert – Miranda konnte sie gerade noch festhalten. Als sie wieder sicher auf dem Tisch war, breitete Wyveria ihre Flügel aus und schlug ein paar Mal auf und ab. Sie machte viel Wind, aber sie erhob sich nicht in die Luft. Eine Weile amüsierte sich Wyveria auf diese Weise, dann faltete sie ihre Schwingen wieder ein. Sie lief zu Miranda und krabbelte auf ihren Arm. Dort angekommen gähnte sie einmal herzhaft und war schon wieder eingeschlafen. Auch Miranda gähnte. Immerhin war es mitten am Tag, also Schlafenszeit für alle Hexen. Sie kletterte die Leiter wieder nach oben und schlief gleich wieder ein.

Als Miranda wieder aufwachte, wurde es draußen bereits dunkel. Zeit, aufzustehen und sich für die Schule fertig zu machen. Sie reckte sich und sah, dass sie allein im Bett lag. Ein Schreck durchfuhr sie. Dass Neferti aufstand, um anderswo weiterzuschlafen, war nicht ungewöhnlich, aber wo war Wyveria? ‘Ist sie aus dem Bett gefallen?’ dachte Miranda ängstlich und schaute nach unten, doch auch dort keine Spur eines Drachenbabys. Miranda schaute sich suchend im Zimmer um, und als sie Wyveria nirgends sehen konnte, wurde sie immer ängstlicher. Dann sah sie einen kleinen Hügel unter der Decke am Fußende des Bettes. Vorsichtig schaute sie darunter. Tatsächlich, es war Wyveria, die sich dort zusammengerollt hatte.

Miranda kletterte aus dem Bett und machte Spätstück für sich und Neferti. Als sie sich gerade an den Tisch setzte, um ihren Hexentee zu trinken, hörte sie ein Geräusch von ihrem Bett. Wyverias Kopf schaute über die Brüstung des Bettes nach unten ins Zimmer. „Hunger!“, hörte Miranda schon wieder. „Du bist wirklich ein kleiner Vielfraß!“, lachte Miranda und hob Wyveria vom Bett herunter, um sie zu füttern. Nachdem sie selbst zu Ende gefrühstückt hatte, machte sie sich auf den Weg in die Schule.

Als Miranda mit Wyveria vor der Hexenschule landete, scharten sich die anderen Kinder sofort um sie. Alle wollten Wyveria aus der Nähe betrachten und drängten sich so dicht wie möglich an Miranda heran.

„Darf ich sie streicheln?“

„Kann ich mal ihre Flügel sehen?“

„Hat sie wirklich so schöne Augen?“ Alle fragten und redeten wild durcheinander. Wyverias Kopf schnellte von einer Seite zur anderen, dann zischte sie böse. „Geht doch ein bisschen zurück. Ihr erschreckt sie ja“, bat Miranda und versuchte Wyveria zu beruhigen. Als die Kinder etwas mehr Abstand hatten, hörte Wyveria auf zu zappeln und zu zischen und ließ sich von den Kindern betrachten. Dann klingelte es.

Wyveria saß während der Unterrichtsstunde auf Mirandas Arm und schaute sich wieder neugierig um. Als Miranda etwas aufschreiben musste, setzte sie Wyveria neben sich auf den Tisch und nahm ihr Schreibzeug heraus. Kaum hatte sie ihren Bleistift in die Hand genommen und begonnen, zu schreiben, schoss Wyverias Kopf nach vorn. Mit ihren Zähnen packte sie den Bleistift und zog daran. „Lass das!“, sagte Miranda leise und versuchte, den Bleistift festzuhalten. Doch Wyveria schien das für eine Art Spiel zu halten und zog ebenfalls stärker. „Gib doch her“, sagte Miranda leise, „ich muss doch schreiben.“ Aber Wyveria hörte nicht auf.

„Gib Deinem Drachen den Bleistift und nimm Dir einen neuen“, mischte sich die Hexenlehrerin ein. Also ließ Miranda ihren Bleistift los und kramte einen anderen heraus. Während Miranda mit dem neuen Stift schrieb, kaute Wyveria auf ihrem Stift herum. Mit ihren scharfen Zähnen dauerte es nicht lange, bis sie ihn in der Mitte durchgebissen hatte. Sie biss und kaute weiter auf den Bruchstücken herum, so dass schließlich nur noch Holzspäne übrig waren.

In der großen Pause kam Draconia zu Miranda und Wyveria. Sie schaute Wyveria genau an und meinte dann: „Ich glaube, sie ist gewachsen.“

„Meinst Du?“, fragte Miranda und schaute dann selbst hin. Tatsächlich, jetzt, wo sie darauf achtete, kam es ihr auch so vor, als wäre Wyveria etwas größer geworden. ‘Wie groß sie wohl werden wird?’, fragte Miranda sich im Stillen.

„Groß“, hörte sie plötzlich Wyverias Stimme. Miranda schreckte zusammen. Ohne etwas zu sagen, dachte sie ‘Kannst Du hören, was ich denke?’

„Natürlich! Du denkst laut.“

‘Ui,’ dachte Miranda. ’Wie groß wirst Du denn nun werden?’, fragte sie dann. „Groooß!“, antwortete Wyveria langsam, und dann hörte Miranda etwas, das wie ein leises Lachen klang.

Wyveria döste ein, so dass Miranda sich auf den Unterricht konzentrieren konnte. Die Stunde war etwa halb vergangen, als ihre Stimme wieder in Mirandas Kopf war: „Ich habe Hunger.“ Miranda war verblüfft – anscheinend konnte Wyveria schon viel besser sprechen als noch am Tag zuvor. ‘Gleich,’ dachte sie im Stillen, ‘der Unterricht ist ja bald zu Ende’. „Gut“, lautete die Antwort. Wie es aussah, hatte Wyveria nicht nur besser Sprechen, sondern auch etwas Geduld gelernt.

Schließlich kam die zweite große Pause. Miranda ging mit Wyveria in die Küche der Hexenschule.

„Dürfen wir zusehen, wie Du sie fütterst?“

„Ja, bitte.“

„Ich will auch zugucken.“ Wieder riefen alle Kinder durcheinander.

„Ich will aber nicht, dass sie sich wieder erschreckt“, sagte Miranda. „Am besten gucken jede Pause nur zwei von Euch zu.“ Miranda wählte zwei ihrer Klassenkameradinnen aus, die anderen gingen etwas enttäuscht auf den Schulhof. Wie zuvor fütterte Miranda Wyveria mit Fleisch und Wasser. Und wie zuvor wurde Wyveria danach unruhig und wollte auf den Boden gesetzt werden. Sie machte ein paar Schritte, die schon viel sicherer wirkten als beim letzten Mal, dann nahm sie den Kopf hoch und machte ein Geräusch, das klang, als würde sie niesen.

„Ich will Schwefel!“, hörte Miranda sie telepathisch. „Schwefel?“ fragte sie verblüfft.

„Ich will Schwefel!“, wiederholte Wyveria. Schwefel gehörte natürlich zu den Dingen, die in einer Hexenschule leicht zu bekommen waren. Miranda holte etwas Schwefel aus den Vorräten für die Hexentränke und hielt Wyveria einen Löffelvoll hin. Diese nahm zwei Maulvoll, schluckte den Schwefel herunter und nahm wieder ihren Kopf zurück. Erneut kam das Niesgeräusch, aber diesmal schoss eine winzig kleine Flamme aus ihrem Maul, viel kleiner noch als eine Streichholzflamme. Man konnte sie kaum erkennen, aber Miranda war trotzdem begeistert. „Du bist ja ein richtiger Drache! Du kannst ja Feuer spucken!“, rief sie.

„Natürlich!“, lautete Wyverias Antwort, und sie klang sehr zufrieden dabei.

Kommentare (1)

  1. #1 rolak
    1. April 2020

    Ne Katze namens Nofrete – das paßt ;•)